Der Lehrermangel ist gewaltig, also kürzen wir die Stundentafeln? Klingt für manche Bildungspolitiker nach einer verlockenden Idee. In Wirklichkeit aber wäre es eine Normalisierung des Unnormalen.
KNAPP 4500 SEITEN- UND QUEREINSTEIGER arbeiten an Berlins Schulen. Gäbe es sie nicht, wäre die Unterrichtsversorgung in der Hauptstadt längst zusammengebrochen, denn dann wäre jede achte Lehrerstelle ohne Inhaber. Doch inzwischen sind auch die letzten personellen Reserven ausgereizt, wie eine parlamentarische Anfrage des CDU-Abgeordneten Dirk Stettner ergeben hat: Laut Berliner Senat werden zu Schuljahresanfang rund 920 Lehrerstellen unbesetzt sein.
Da klingt für viele die Idee verlockend, als vermeintlich letztes Mittel die Stundentafeln zu kürzen. Mit anderen Worten: Die Zahl der erteilten Unterrichtsstunden würde verringert, so dass zumindest der verbliebene Unterricht verlässlich erteilt werden könnte. Der Bedarf an weiteren Seiten- und Quereinsteigern würde sinken, der Anteil der durch vollausgebildete Fachlehrer angebotenen Schulstunden steigen.
In Wirklichkeit aber wäre eine solche Lösung nicht nur die Kapitulation der Berliner Bildungspolitik vor der selbstverursachten Misere. Es wäre das Ticket zu einer noch größeren sozialen Schieflage – und, vielleicht am schlimmsten, die Normalisierung des Unnormalen.
Ja, Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse (SPD) kann darauf verweisen, dass nicht sie es war, die seit 2011 Jahr für Jahr und mit wachsender Orientierungs- und Hilflosigkeit den Lehrermangel ins Bodenlose hat wachsen lassen. Das war ihre Vorgängerin und Parteikollegin Sandra Scheeres. Der es anders als etwa ihrem fast gleichzeitig ins Amt gekommene Hamburger Kollegen Ties Rabe (ebenfalls SPD) nie gelungen war, eine stimmige Strategie zur Personalgewinnung zu entwickeln und deshalb auch nie die finanzpolitische Rückendeckung dafür bekam. Doch wenn Busse jetzt die Stundentafel-Kürzung vollziehen sollte, wäre es ihr ganz persönlicher bildungspolitischer Offenbarungseid und das Eingeständnis, dass ihr so früh in ihrer Amtszeit schon die Ideen ausgegangen sind.
Es wäre eine sozialdemokratische Bildungssenatorin, die zu verantworten hätte, dass Berlins Schüler im Vergleich zu Gleichaltrigen in anderen Bundesländern zurückfallen würden – vor allem in den Grundfertigkeiten wie dem korrekten Lesen, Schreiben und in Mathematik. Und dass umso stärker diejenigen Kinder und Jugendlichen betroffen wären, denen zu Hause die Unterstützung fehlt, um die Nachteile von weniger Unterricht zu kompensieren. Übrigens dieselben Kinder und Jugendlichen, die schon durch die in Berlin besonders langen Phasen des teilweisen oder kompletten Distanzunterrichts am meisten gelitten haben.
Nur eine politisch
oppportune Behauptung
Die Behauptung, weniger (aber dafür verlässlicher erteilter) Unterricht sei besser als mehr (aber häufiger ausfallender oder fachfremd erteilter) Unterricht, ist am Ende eben nur eine politisch opportune Behauptung.
Politisch opportun insofern, weil bei Umsetzung der Stundentafel-Kürzung der politische Druck abnehmen würde, den Lehrermangel mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen. Es liefe ja dann scheinbar wieder runder, man bekäme nicht ständig die fehlenden Stellen vorgehalten, und billiger für den Landeshaushalt wäre eine solche Lösung auch. Die Normalisierung des Unnormalen?
Die Wahrheit ist so bitter wie befreiend. Bitter: Es gibt keine schnelle Lösung, die Bildungspolitik wird weiter händeringend nach Quer- und Seiteneinsteigern suchen, so viele Lücken wie möglich stopfen und gleichzeitig den verständlichen Frust von Schülern, Eltern und Lehrkräften spüren.
Befreiend: Es gibt Wege aus der Misere, die sich abzeichnen. Nein, nicht die von Busse forcierte Rückkehr zur Lehrer-Verbeamtung, die in der Konkurrenz der Bundesländer deutschlandweit ein Nullsummen-Spiel bleiben muss und Berlin kaum zusätzliche Pädagogen bescheren wird. Helfen wird Berlin, dass andere Bundesländer weiter sind in der Bekämpfung des Mangels. Und dass die Kultusministerkonferenz endlich gemeinsam über neue – schnellere und trotzdem qualifizierte – Wege in den Lehrerberuf verhandelt. In ein paar Jahren wird sich das Blatt wenden, die Zahl der Junglehrer wird spürbar steigen. Bis dahin heißt es: Finger weg von den Stundentafeln.
Dieser Kommentar erschien heute zuerst in meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel.
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Steffen Prowe (Mittwoch, 17 August 2022 11:57)
Und die Auswirkungen dessen, sogar gepaart mit dem endlich abzuschaffenden 12-Jahres-Abitur viel zu junger Menschen, müssen dann nachfolgende Einrichtungen ausbaden.
An den Hochschulen fehlt die Basis für ein erfolgreiches Lernen (lernen zu lernen & Basiskompetenzen müsste eigentlich Schule sein), in Ausbildungen fehlt die fachliche und persönliche Reife, in Berufen das Allgemeinwissen (ja, auch das ist Auftrag der Schulen, nicht die 3. Ableitung in der Mathe oder deutsche Grammatik im Mittelhochdeutschen - etwas überspitzt).
Dramatisch.
Dieter Hölterhoff (Mittwoch, 17 August 2022 13:17)
Stundentafelkürzungen waren und sind in den für Schule zuständigen Ministerien doch ein probates Mittel, wenn die Haushalte gekürzt werden,wenn es um "Bekämpfung" des hausgemachten Lehrkräftemangels geht. Ich habe das bei geringem Widerstand von Minister/Senator:Innen immer wieder erlebt. Und auch bei Behördermitarbeiter:innen war systematische Verantwortungslosigkeit gegenüber ihrer Verpflichtung gute Bildungsmöglichkeiten zu organisieren zu konstatieren. Weiter so Deutschland!