Bildungsökonomen des IW Köln erstellen im Auftrag der Wirtschaftslobby seit bald 20 Jahren den "Bildungsmonitor". Kritik an ihm ist angebracht, aber zugleich bleibt er als Studie einzigartig.
Plakatives Ranking: Der Bundesländervergleich im "Bildungsmonitor 2022". Screenshot von der INSM-Website.
DER ZEITPUNKT war wie jedes Jahr gut gewählt. Kurz vor Beginn des neuen Schuljahres, aber noch während in den meisten Bundesländern Sommerferien waren, veröffentlichte die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (ISNM) vergangene Woche den "Bildungsmonitor 2022". Ein Ranking der Bildungssysteme aller 16 Bundesländer auf der Grundlage von fast 100 Einzelindikatoren. Das sicherte gleich in doppelter Hinsicht den Schlagzeilen-Erfolg.
Erstens: Abseits der Krisen-Berichterstattung zu Ukraine, Energiepreisen, Klima und (mit Abstrichen) Corona herrschte in den Medien gerade noch ein sommerlicher Mangel an "normalen" Themen, nach denen sich jedoch viele Leute sehnen. In Vorkrisen-Zeiten (ja, die gab es) nannte man so etwas "Sommerloch". Insofern ist es kein Wunder, dass sich trotz aller Katastrophen-Themen viele Medien mit Verve auf den "Bildungsmonitor" gestürzt haben.
Besonders – zweitens – kurz bevor der Großteil der Bundesrepublik ins neue Schuljahr startet. Das, und hier ist der Link zur Krisen-Berichterstattung, begleitet wird von Sorgen, dass es ein weiteres Ausnahme-Schuljahr wird. In dem die Angst vor kalten Klassenzimmern und vor der Rückkehr von Corona-Beschränkungen auf Bildungseinrichtungen trifft, die für ihre eigene Dauerkrise die allgemein-gesellschaftlichen gar nicht mehr bräuchten.
Die öffentlichen Reaktionen auf den Bildungsmonitor dagegen fielen aus wie immer. Die Bildungsexperten sagten: Die Studienautor:innen vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln haben sauber recherchiert, was es an vorhandenen Daten und Statistik gibt etwa zur Bildungsfinanzierung, Bildungsbeteiligung oder Schülerleistungen. Aber wesentliches Neues steht da auch nicht drin. Und dann dieses Ranking-Getue...
Die einen Kultusminister schütteln den Kopf,
die anderen stellen das Ergebnis auf ihre Website
Die Kultusminister reagierten je nach Abschneiden ihres Bundeslands ebenfalls mit dem kopfschüttelnden Verweis, dass von solch plakativen Rankings wissenschaftlich wenig zu halten sei. Oder sie stellten wie Michael Piazolo aus Bayern eine Jubelmeldung online, dass Bayern im Ländervergleich erneut "einen Spitzenplatz" erzielt habe. Sogar der linke Kultusminister von Thüringen, Helmut Holter, gab gegenüber der Nachrichtenagentur dpa stolz zu Protokoll, der Platz drei für Thüringen zeuge "von einer sehr guten Arbeit der Pädagogen".
Einige Journalistenkollegen wiederum stellten mit investigativem Unterton fest, dass es sich ja um eine von einer "marktliberalen Lobby-Organisation" in Auftrag gegebene bildungsökonomische Studie handle. Und der bildungsökonomische Blick auf Bildung, so meinte etwa Bent Freiwald von den Krautreportern, diene den Interessen der Wirtschaft, nicht aber den "Kindern und Jugendlichen in den Schulen".
Letztere Darstellung halte ich allerdings für eine sehr einseitige Engführung dessen, was Bildungsökonomie tatsächlich bedeutet. Diese beschäftigt sich mit gesellschaftlichen, genauso aber mit den individuellen Bildungserträgen und ihren Auswirkungen auf Lebensverläufe. Es geht um Teilhabe und persönlichen Arbeitsmarkterfolg. Es geht damit auch und gerade um Fragen der Bildungsungleichheit und Bildungsgerechtigkeit – und somit um Kernanforderungen an das Bildungssystem eines demokratischen Landes.
Das eigentliche Problem
des Bildungsmonitors...
Die Probleme des Bildungsmonitors liegen an anderer Stelle, die Autor:innen um Axel Plünnecke sprechen sie selbst an: die Datenqualität. "Die Auswahl der Kennziffern wurde durch die Verfügbarkeit statistischer Daten und die Messbarkeit der Tatbestände eingeschränkt", heißt es im Methodenteil zum sogenannten "Benchmarking". Die Bildungsberichterstattung in Deutschland biete zwar mittlerweile einen größeren Katalog vergleichbarer statistischer Daten, "sie weist jedoch in bestimmten Bereichen immer noch Lücken auf. An die Grenzen der Messbarkeit stößt man vor allem bei den qualitativen Aspekten der Bildungsprozesse, beispielsweise der Qualität der Lehre."
Die Frage ist: Sind die Lücken so groß, dass sie die Verlässlichkeit, ja Seriösität eines Bundesländer-Rankings in Frage stellen? Die IW-Wissenschaftler meinen: Nein, die Daten sind gut genug. Wobei ihnen auch kaum etwas Anderes übrig bleibt, denn die Alternative wäre, die Rangliste wegzulassen. Dann aber wäre das Medienecho kaum vergleichbar, für den Partner ISNM dürfte das Ranking schon deshalb grundlegend sein.
Für mehr Datenqualität und Transparenz wären übrigens eben jene Kultusminister verantwortlich, die das Ranking teilweise als zu wenig fundiert ablehnen. Ein von ihnen benutztes Standardargument für den Bildungsföderalismus lautet schließlich, vor Ort könne eine Bildungspolitik gemacht werden, die näher dran sei an den Menschen und damit zielgerichteter als ein zentralistischer Ansatz.
Wenn das aber die Rechtfertigung für den Bildungsföderalismus ist, wenn es zugleich darum geht, dass sich im Wettbewerb der Bundesländer die besten Bildungsideen und Ansätze durchsetzen und verbreiten lassen, braucht es die Erhebung vergleichbarer und detaillierter Daten, die ein Monitoring erlauben. Ob das dann in eine pseudogenaue Rangliste enden muss, sei dahingestellt. Wie die Realität der Datenerhebung aussieht, werden Bildungsforscher etwa der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz jedenfalls nicht müde zu wiederholen.
...und sein eigentliches
Verdienst
Fest steht: Auch mit seinen Mängeln ist das "Bildungsmonitor"-Ranking durchaus hilfreich. Nicht weil es bestimmen kann, welches Land das "beste Bildungssystem" hat. Obgleich die INSM nicht müde wird, die Studie genauso anzupreisen: Das kann sie natürlich nicht. Sehr wohl aber kann sie – unter den Vorzeichen der vielen, aber dennoch vorselektierten Indikatoren – zeigen, wo die Bildungspolitik welche Prioritäten und Maßnahmen ergreift. Und welche Ergebnisse dabei herauskommen. Problematisch wäre indes der Versuch, zwischen dem einen und dem anderen allzu eindimensionale Kausalitäten herzustellen (was schon aufgrund der sehr unterschiedlichen sozialen Bedingungen in den Bundesländern nicht funktionieren kann).
Denn tatsächlich ist es ziemlich egal (und aussageschwach), ob Thüringen auf Platz drei oder vier liegt, ob Hamburg sich im Bundesländervergleich leicht verschlechtert oder Schleswig-Holstein leicht verbessert. Wichtiger ist die Feststellung, dass sich an der Spitze (Sachsen und Bayern) seit vielen Jahren die immer gleichen Bundesländer befinden, nur Baden-Württemberg wurde allmählich ins Mittelfeld durchgereicht. Dass es umgekehrt mit Hamburg und dem Saarland in den vergangenen Jahren nur wenigen Ländern gelungen ist, sich im Indikatorenvergleich deutlich und nachhaltig zu verbessern. Und dass es im Schlussfeld seit Beginn des Bildungsmonitors 2004 nahezu stabil zugeht: Berlin hat sich immerhin über die Jahre ein Stück von der roten Laterne entfernt, Sachsen-Anhalt und Bremen lagen und liegen ganz hinten.
Wenn in diesen Ländern der Erwartungsdruck aufrechterhalten wird, dass sich etwas Grundlegendes tun muss, ist das sicher nicht das Schlimmste im Sinne der Bildungsgerechtigkeit. Umgekehrt wäre dies wohl eine grandiose Überschätzung der Wirkungsmächtigkeit des Rankings in seiner 19. Jahresausgabe, zumal in Bremen und anderswo nun wirklich kein Erkenntnisproblem besteht.
Das eigentliche Verdienst des Bildungsmonitors lag und liegt denn auch an anderer Stelle: Es ist ein Messinstrument frühzeitiger Trendänderungen im Gesamtgefüge der bundesdeutschen Bildungspolitik (und ihrer Wirkungen). Gerade weil die Zahl der Indikatoren so groß und vielfältig ist, 98 verteilt auf mittlerweile 13 Handlungsfelder. Zu einem guten Teil sind die Daten identisch mit denen des ebenfalls hunderte Seite langen Nationalen Bildungsbericht – doch der lässt es beim Sammeln und Analysieren und vernachlässigt seinen Kritikern zufolge die Pointierung der Ergebnisse. So wie der Bildungsmonitor dafür kritisiert wird, dass er mit seiner Gesamtindexbildung allzu stark pointiere.
Geht der Bildungsabschwung
jetzt erst richtig los?
Lässt man die Ranking- und Gewichtungsdebatte jedoch beiseite, zeigt sich der wirkliche Vorteil des Einsatzes all der Indikatoren: Weil sie den Input (zum Beispiel Bedeutung und Umfang der Bildungsausgaben, Betreuungsbedingungen, Förderinfrastruktur) genauso kleinteilig abbilden wie den Output (unter anderem Schulqualität, Bildungsarmut, Integration, Stand der Digitalisierung), können die Veränderungen zusammengenommen und auf alle Bundesländer gemittelt von Jahr zu Jahr nicht groß sein. Aber sie bilden recht zuverlässig die Richtung ab, in die sich das Gesamtsystem bewegt. So ließ sich aus den Ergebnissen des Bildungsmonitors schon 2017 ableiten, dass Deutschland auf einen Bildungsabschwung zusteuerte, mit schlechteren Schülerleistungen und weniger Chancengerechtigkeit.
Dieses Jahr lautet die Kernbotschaft von Axel Plünnecke und seinen Kolleg:innen: Der Abschwung könnte jetzt erst richtig losgehen. Denn in immer mehr Handlungsfeldern drehen die Indikatoren ins Minus. Zwischen 2010 und 2013 hätte sich der Durchschnitt aller Bundesländer in der Gesamtbewertung noch um jährlich 2,6 Punkte erhöht, 2014 bis 2022 aber schon nur noch um 0,2 Punkte, wobei starke Rückgänge etwa bei der Schulqualität oder der Integrationslage kompensiert wurden durch Verbesserungen bei den Betreuungsbedingungen oder der Förderinfrastruktur.
Die Autor:innen verweisen auf den IQB-Bildungstrend von diesem Jahr, der weiter "sinkende Kompetenzwerte, steigende Bildungsarmut und eine zunehmende soziale Selektivität" zeige. "Auch im Bereich Hochschule/MINT seien für die kommenden Jahre weitere Verschlechterungen zu erwarten. Ferner zeigen sich bei der Digitalisierung große Herausforderungen: Die Fachkräfteentwicklung an Informatikern und IT- Fachkräften bleibt weiter hinter aktuellen und künftigen Bedarfen zurück." Die Digitalisierung habe an den Schulen in den letzten Jahren zwar deutliche Fortschritte gemacht, jedoch nehme die Reformdynamik aktuell bereits wieder ab "und die wirklichen Potenziale wurden noch nicht gehoben".
Die Forderung nach dem
"großen Bildungsimpuls"
Vor dem Hintergrund der auch in der Studie erwähnten vier "D"-Herausforderungen – "Digitalisierung, die Dekarbonisierung, die Demografie und die De-Globalisierung" – fordert das IW (beileibe nicht als erste Institution) einen "großen Bildungsimpuls" vor allem an zwei Stellen: beim Schaffen gleicher Bildungschancen für alle. Und beim Voranbringen von MINT und Digitalisierung im Bildungssystem. Denn die Zeit für Veränderungen läuft davon. Doch es ist paradox: Der mediale Erfolg des "Bildungsmonitors" als Ranking ist zugleich sein größtes Problem: In den Schlagzeilen der Massenmedien bleibt neben dem Aufzählen der Auf- und Absteiger kaum noch Platz für das eigentlich viel wichtigere Gesamtergebnis.
Zum Glück gab es auch diesmal Ausnahmen in der Berichterstattung. So ließ etwa Christian Füller im Bildungstable die Rangliste komplett links liegen und fokussierte in seinem lesenswerten Beitrag einzig auf das diesjährige Schwerpunktthema, die Entwicklung der Digitalisierung in den Schulen, wie sie der Bildungsmonitor in neuer Aktualität aufgearbeitet hat. Das zwiespältige Ergebnis: "Große Fortschritte gibt es bei der täglichen Nutzung digitaler Medien. Aber die digitale Infrastruktur hängt weiter zurück". Der Spiegel wiederum hob auf die "Bildungsarmut" ab: "Wie beugen die Bundesländer vor, wo werden Kinder in ihren Schulen gut qualifiziert, wo nicht?"
Nächstes Jahr erscheint der "Bildungsmonitor" in seiner 20. Ausgabe. Er wird weiter gebraucht – bis die Kultusministerkonferenz selbst ein umfassendes Monitoring aufgebaut hat. Gern ohne Rangliste. Aber mit möglichst vielen und vergleichbaren Daten. Solange die KMK als Ganzes dazu nicht in der Lage ist, wird sie damit leben müssen, dass andere versuchen, ihr diese Arbeit abzunehmen.
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Dr. Dieter Hölterhoff (Dienstag, 23 August 2022 17:56)
Vielen Dank. Ihre Kritik teile ich seit es diesen sog. Monitor gibt. Politische Absichten sind zu durchschauen und wenn man sich die "Jubler" anschaut, dann kommt man ins Grübeln. Warum sich das IW und die INSM nicht mit dem sauberen Bildungsbericht und ergänzenden Berufsbildungsbericht zufrieden geben, wissen sie wohl selbst nicht. Dass zwei Personen einen kompletten Bericht schreiben: Chapeau. Unterschiedliche Äpfel und Birnen zu vergleichen ergibt keinen brauchbaren Kompott.