Welche Erklärungen Politiker aus Bund und Ländern für den Abwärtstrend bei den Schülerleistungen haben – und was sie jetzt tun wollen.
"BESORGNISERREGENDE BEFUNDE" liefere der IQB-Bildungstrend 2022 für das Fach Deutsch in der neunten Klasse, sagte die Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), Katharina Günther-Wünsch bei der Vorstellung der Ergebnisse in Berlin – "wie zuvor der Bildungstrend 2021 für den Primarbereich". Günther-Wünsch fügte hinzu: "Wir können es nicht hinnehmen, dass ein größer werdender Anteil der Schülerschaft die Mindeststandards für den Mittleren Schulabschluss und mitunter sogar die Mindeststandards für den Ersten Schulabschluss nicht erreicht."
Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe, der die SPD-Bildungspolitik in den Ländern koordiniert, verwies auf den internationalen Trend, mit dem sich die IQB-Ergebnisse im Einklang befänden. "Im internationalen Vergleich konnten sich die deutschen Schülerinnen und Schüler in der ersten Dekade der 2000er Jahre deutlich verbessern, in der zweiten Dekade stagnierten die Leistungen wie in den meisten anderen Ländern auch, um dann nach 2018/19, ebenfalls wie in den meisten anderen Ländern, zu sinken." Rabe fügte hinzu: Wie schon in der IGLU-Studie und im IQB-Bildungstrend 2021 für die vierten Klasse zeige sich erneut, dass die "in Deutschland besonders langen Schulschließungen und Schuleinschränkungen während der Corona-Pandemie am Leistungsrückgang einen erheblichen Anteil haben."
Dass die Kompetenzen im Fach Englisch bundesweit weiter gestiegen sind, bezeichnete KMK-Präsidentin Günther-Wünsch, im Hauptberuf CDU-Bildungssenatorin in Berlin, als ermutigend. Genauso wie die Befunde, dass die Neunklässler in Deutschland mit ihrer Schule sehr zufrieden seien und sich sozial eingebunden fühlten. "Und die Deutsch- und Englischlehrkräfte sind ihrerseits zufrieden mit ihrer Berufswahl, unterrichten mit Begeisterung und investieren viel Anstrengung in ihren Beruf." Was Deutsch angeht, sagte Günther-Wünsch, sei sie davon überzeugt, dass der Schlüssel zu besseren Leistungen einer intensiven Sprachförderung und einer Fokussierung auf die Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern liege. "Deshalb stärken wir in Berlin die frühe Bildung und den Übergang in die Primarstufe und werden die datengestützte Schulentwicklung vorantreiben."
SPD-Senator Rabe: "Erfolg der Politik, die auf gezielte Förderung und auf Leistung setzt"
Vorbild ist in der Hinsicht für viele Länder Hamburg. Ties Rabe hob hervor, dass kein anderes Bundesland sich seit 2009 so stark verbessert habe wie die Hansestadt. "Das ist ein schöner Erfolg unserer Politik, die auf gezielte Förderung und auf Leistung setzt." Zugleich räumte der Senator ein, dass der weitere Deutsch-Aufstieg Hamburgs im Bundesvergleich daran liege, dass die Schüler in Hamburg seit 2015 zwar auch deutliche Einbußen gehabt hätten, aber eben deutlich geringere als im Bundesschnitt. In Englisch sei die Leistungssteigerung dagegen höher ausgefallen.
Sehr erfreulich, aber auch überraschend seien die erheblichen Leistungssteigerungen in Englisch, betonte Rabe, das müsse noch genauer analysiert werden. Sicher habe die seit 2015 ungewöhnlich hohe Zunahme von zugewanderten Schülern Einfluss auf beide Entwicklungen.
BMBF-Chefin Stark-Watzinger: "Zügig die Details
des Startchancen-Konzepts ausbuchstabieren"
Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) sprach von "besorgniserregende(n) Leistungsabfälle(n) im Kernfach Deutsch". Erneut werde offensichtlich, dass der Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen in Deutschland immer noch stark von der sozialen Herkunft abhänge. "Wir müssen daher dringend eine Trendwende in der Kompetenzentwicklung erreichen. Mit dem Startchancen-Programm wollen wir den großen Hebel ansetzen." Stark-Watzinger nannte es einen wichtigen Schritt, dass sich am Donnerstag "alle 16 Länder geschlossen hinter die Eckpunkte zum Startchancen-Programm gestellt" hätten, "damit wir jetzt zügig die Details des geeinten Konzepts ausbuchstabieren und den Programmstart vorbereiten können".
Hessens Kultusminister Alexander Lorz, der die Bildungspolitik der CDU-regierten Länder koordiniert, sagte, die "rasanten Veränderungen in der Schülerschaft" erforderten noch mehr Anstrengungen von den Kultusministern, "als es bisher der Fall ist. Wir müssen unsere Maßnahmen noch weiter ausbauen, die vor allem auf das Erlernen der Bildungssprache Deutsch als der Grundlage jeden Wissenserwerbs in der Schule abzielen." Dazu gehörten Vorlaufkurse zur Sprachförderung bereits vor Eintritt in die Grundschule, mehr Lesezeiten in der Grundschule, aber auch eine verstärkte Zusammenarbeit mit den Einrichtungen der frühkindlichen Bildung.
Passend dazu tagten am Freitag erstmals in ihrer Geschichte KMK und die Jugend- und Familienministerkonferenz (JFMK) gemeinsam, was Lorz schon an sich als "wichtiges Signal" bewertete. Mit dabei waren auch BMBF-Chefin Stark-Watzinger und Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne).
Bildungs- und Jugendminister tagten
erstmals in ihrer Geschichte gemeinsam
Der diesjährige JFMK-Vorsitzende Steffen Freiberg (SPD), Brandenburgs Minister für Bildung, Jugend und Sport, sagte: "Mit Blick auf das Kind verfolgen wir spätestens jetzt das Ziel, immer in jeder Frage gemeinsam zu arbeiten". Das mit dem Ziel betone er, weil es bekanntermaßen "auch ganz viele Punkte" mit unterschiedlichen Positionen gebe.
KMK und JFMK einigten sich auf drei gemeinsame Beschlüsse. So soll unter anderem der Übergang von der Kita in die Grundschule konferenzübergreifend in den Blick genommen werden. Man bekannte sich zu den Anforderungen, die der 2026 beginnende Rechtsanspruch auf den Ganztag "von beiden Systemen" fordere, inklusive dem kooperativen Zusammenwirken der unterschiedlichen Professionen. Schließlich beschlossen Kultus- und Jugendminister, eine gemeinsame Arbeitsgruppe einzusetzen für die Gewinnung und Sicherung von Fachkräften. Beide Konferenzen sprachen von einer "Fachkräfteoffensive".
Ganztag ist auch das diesjährige Schwerpunkt-Thema von KMK-Präsidentin Günther-Wünsch. Erstmals überhaupt habe die KMK diese Woche gemeinsame Qualitätskriterien für die Ganztagsschule in Deutschland definiert, sagte Günther-Wünsch mit dem Blick auf die beschlossenen zwölf "Empfehlungen zur Weiterentwicklung der pädagogischen Qualität im Ganztag an Grundschulen". Die Interessen und Bedürfnisse der Kinder seien bei der pädagogischen Gestaltung ganztägiger Bildungs- und Betreuungsangebote handlungsleitend. Laut Bildung.Table räumte die Berliner Bildungssenatorin ein, dass mit dem Ganztags-Rechtsanspruch enorme Herausforderungen auf die Länder zukämen. Dann werde es "nicht dabei bleiben, dass wir nur über den Fachkräftemangel bei Lehrern sprechen. Wir müssen auch die Zugänge in den Erzieherberuf erweitern."
Unionsfraktion im Bundestag
fordert "Chefsache Bildung"
Das Wort "gebundener Ganztag" im Sinne der von den meisten Pädagogen favorisierten Rhytmisierung von Bildungs- und Freiheitsangeboten über den ganzen Tag hinweg kommt indes in den KMK-Empfehlungen nicht vor, hierzu fehlt der Konsens zwischen den Ländern.
Der bildungspolitische Sprecher der CDU-/CSU-Bundestagsfraktion, Thomas Jarzombek, forderte von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), er könne angesichts der IQB-Ergebnisse "nicht weiter tatenlos zuschauen, sondern muss das Thema Bildung endlich zur Chefsache machen". Es brauche jetzt eine bundesweite Gesamtstrategie. "Bundeskanzler und Ministerpräsidenten müssen sich aktiv für eine Trendwende einsetzen." Er habe vor dem Hintergrund kein Verständnis dafür, dass die Ampelregierung im Bereich Bildung und Forschung "mit am meisten" einspare.
Immerhin, berichtete Hessens Kultusminister Lorz, habe es zuletzt auch in den Verhandlungen mit dem Bund um die Fortsetzung des Digitalpakts Fortschritte gegeben, obgleich es noch nicht den "Reifegrad gibt, den wir wollen." Zwischenzeitlich hatten CDU-Politikerinnen wie Schleswig-Holsteins einflussreiche Bildungsministerin Karin Prien sogar mehr oder minder explizit damit gedroht, den formalen Abschluss der Startchancen-Verhandlungen von einer Finanzierungszusage des Bundes für den Digitalpakt abhängig zu machen.
In ihrer Sitzung am Donnerstag beschlossen die Kultusminister eine Protokollerklärung, in der sie an die Bundesregierung appellierten, "Klarheit und eine verlässliche Basis für den Digitalpakt durch eine unmissverständliche Finanzierungszusage für den Zeitraum ab Mitte 2024 zu schaffen." Für die Modernisierung der Schulen und die Bildungsqualität seien das Zusammenwirken von Digitalpakt und Startchancen-Programm gleichermaßen wichtig.
Am 6. November treffen sich Bundeskanzler Scholz und die Ministerpräsidenten der Länder zur gemeinsamen Konferenz, dann wird voraussichtlich auch der sogenannte Digitalpakt 2.0. Thema sein.
Der Deutsche Philologenverband (DPhV) erklärte die IQB-Ergebnisse unterdessen zu einem "Armutszeugnis für die Politik der vergangenen Jahre und Jahrzehnte". Die Vernachlässigung der Sprache Deutsch sei alarmierend und nicht akzeptabel. Bestimmte Probleme seien "hausgemacht", sagte die DPhV-Bundesvorsitzende Susanne Lin-Klitzing: "überlastete und zu wenig Lehrkräfte, viele fachfremd unterrichtende Lehrkräfte, schlechte Ausstattung der Schulen, zu wenige Unterrichtsstunden Deutsch, zu wenige Ressourcen für Integration – all das mahnen wir seit Langem an."
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