Deutschlands Neuntklässler erreichen bei der neuen PISA-Studie historisch niedrige Testwerte. Was das bedeutet – und warum ein neuer PISA-Schock vermutlich trotzdem ausbleiben wird.
ERINNERT SICH noch jemand an die Aufregung nach der Veröffentlichung der ersten PISA-Studie 2000? Sie war so außerordentlich und so nachhaltig, dass das Narrativ vom "PISA-Schock" prägend wurde für die deutsche Bildungsdebatte der Nullerjahre. Und einen ungeahnten Bildungsaufbruch markierte.
22 Jahre später ist es passiert. Nach einem langsamen, mühsamen, aber bemerkenswerten Aufstieg bei den Schülerleistungen bis Mitte der Zehnerjahre folgte der umso rasantere Abstieg. Und jetzt, bei den am Dienstagvormittag veröffentlichten Ergebnissen der achten Pisa-Studie, haben Deutschlands Neuntklässler in zwei von drei getesteten Kompetenzbereichen mit der historisch schlechtesten Punktzahlen abgeschnitten, schlechter noch als bei PISA 2000, und im dritten nur knapp über den damaligen Werten.
Das bedeutet, dass die heute 15-Jährigen im Schnitt maximal so lesen, rechnen und naturwissenschaftliche Probleme bearbeiten können wie ihre Altersgenossen vor zwei Jahrzehnten. Was damals, siehe oben, einen enormen bildungspolitischen Veränderungsdruck erzeugte. Und heute? Dazu später mehr. Zunächst die wichtigsten Ergebnisse von PISA 2022 im Überblick
o In Mathematik erreichten Deutschlands 15-Jährige 475 PISA-Punkte, satte 25 weniger als vor vier Jahren. 30 Punkte entsprechen Bildungsforschern zufolge etwa dem Lernstoff eines Schuljahres. Damit liegt Deutschland nur noch drei Punkte über dem OECD-Schnitt, was im Gegensatz zu 2018 statistisch nicht mehr bedeutsam ist. Von den erreichten Höchstwerten Mitte der Zehnerjahre haben sich die Schüler inzwischen rund 40 PISA-Punkte entfernt. Jungen schneiden im Mittel etwas besser ab als Mädchen. Mit Ausnahme von Japan verschlechterte sich die überwiegende Mehrheit der OECD-Staaten gegenüber 2018. International auf den vorderen Plätzen: Japan (536), Korea (527), Estland (510), Schweiz (508), Kanada (497).
Wer hat mitgemacht? Wer hat getestet?
In Deutschland haben 6116 Schüler:innen an 257 Schulen aller Schularten an dem "Programme for International Student Assessment", kurz PISA, teilgenommen, womit die ermittelten Kompetenzniveaus für die Bundesrepublik insgesamt statistisch repräsentativ sind. Wegen der Corona-Pandemie wurde die turunusmäßige Erhebung um ein Jahr nach hinten geschoben, und es waren nur halb so viele Schüler bei den Tests dabei wie 2018.
Gleichzeitig wurden die Jugendlichen zu ihren Lernbedingungen und Einstellungen sowie ihrer sozialen Herkunft befragt, auch Schulleiter, Lehrkräfte und Eltern wurden einbezogen.
Jede PISA-Runde leuchtet einen Kompetenzbereich besonders intensiv aus, diesmal, im achten Durchgang seit 2000, war wieder die Mathematik dran.
Weltweit nahmen rund 690.000 Schüler:innen an der Studie teil, sie stammen aus 81 Ländern und Volkswirtschaften. Anders als in den ersten PISA-
Runden werden die Testaufgaben und Fragebögen seit 2015 am Computer bearbeitet.
Der Wert von 500 PISA-Punkten entspricht dem durchschnittlichen Kompetenzniveau aller Teilnehmerstaaten bei der ersten PISA-Runde 2000. Damals erreichte Deutschland in Mathematik 490, im Lesen 484 und in den Naturwissenschaften 487 Punkte.
Verantwortlich für den deutschen Teil der Studie ist das Zentrum für internationale Vergleichsstudien (ZIB), ein An-Institut der TU München (TUM), an dem außerdem das Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF) und das Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN) beteiligt sind. Als nationale PISA-Leiterin fungiert die TUM-Bildungsforscherin und ZIB-Vorstandsvorsitzende Doris Lewalter. Auftraggeber sind Kultusministerkonferenz und Bundesministeriums für Bildung und Forschung.
o 30 Prozent der deutschen Neuntklässler sind nicht in der Lage, vollständig beschriebene mathematische Aufgaben zu lösen, sie liegen damit unterhalb der sogenannten Kompetenzstufe II . Im Schnitt aller OECD-Länder gilt das für 31 Prozent. Gegenüber 2018 ist die Gruppe der leistungsschwachen Schüler in Deutschland mit acht Prozentpunkten sehr stark gewachsen, gegenüber 2012 beträgt die Zunahme sogar zwölf Prozentpunkte. Ihr Anteil ist durch alle Schulformen hindurch gestiegen, auch an Gymnasien, dort von 0,7 Prozent (2012) auf allerdings immer noch niedrige vier Prozent. Zum Vergleich der Anstieg bei den nichtgymnasialen Schulformen: von 25 auf 40 Prozent. Am anderen Ende der Leistungsskala sind nach PISA-Maßstäben nur noch neun Prozent aller deutschen Schüler leistungsstark (Kompetenzstufen V und VI) – eine Halbierung gegenüber 2012 (17 Prozent).
o Im Fragebogen äußerten die deutschen Neuntklässler 2022 deutlich mehr Ängstlichkeit in Bezug auf die Mathematik als 2012, während umgekehrt die Freude und das Interesse an der Mathematik sowie die Motivation und die sogenannte Selbstwirksamkeitserwartung bei klassischen Matheaufgaben stark nach unten gegangen sind. Am häufigsten empfinden die deutschen Schüler während des Mathematikunterrichts Müdigkeit und Langeweile.
o Bei den naturwissenschaftlichen Kompetenzen erreichten die Neuntklässler in der Bundesrepublik bei PISA 2022 noch 492 Punkte, was nur sieben Punkte, aber immerhin noch statistisch signifikant über dem OECD-Mittel von 485 liegt. 2018 wurden 503 Punkte erreicht. Gegenüber 2012 summiert sich der Rückgang inzwischen auf über 30 Punkte. Jungen und Mädchen schneiden in etwa gleich gut ab. International auf den vorderen Plätzen: Japan (547), Korea (527), Estland (526), Kanada (515), Finnland (511).
o Der Anteil leistungsschwacher Schüler ist in Deutschland auch in den Naturwissenschaften signifikant gestiegen, um drei Prozentpunkte auf 22,9 Prozent, was etwas unterhalb des OECD-Schnitts liegt. Besonders häufig sind sie mit 31,9 Prozent an den nichtgymnasialen Schulformen anzutreffen (+4,4 Prozentpunkte gegenüber 2018), an Gymnasien befinden sich 2,9 Prozent der Schüler unterhalb von Kompetenzstufe II, was indes fast einer Verdopplung gegenüber 2018 (1,6 Prozent) gleichkommt. 9,7 Prozent der deutschen Schüler erreichen die Kompetenzstufen V und VI und sind daher als leistungsstark anzusehen, ähnlich viele wie 2018 (10,0 Prozent) und deutlich mehr als im OECD-Mittel (7,5 Prozent).
o Beim Lesen schafften die deutschen Neuntklässler diesmal 480 PISA-Punkte, 18 weniger als 2018 und knapp 30 unterhalb von 2012 – womit Deutschland von der statistischen Signifikanz her auf den OECD-Durchschnitt zurückfällt. Mädchen erreichen deutlich bessere Ergebnisse als Jungen. Außer Deutschland haben sich 18 weitere OECD-Staaten in den vergangenen vier Jahren deutlich verschlechtert. International auf den vorderen Plätzen: Irland (516), Japan (516), Korea (515), Estland (511), Kanada (507).
o 25,5 Prozent der deutschen Schüler erreichten beim Lesen nur Kompetenzstufe I und gelten damit als leistungsschwach (+5 Prozentpunkte im Vergleich zu 2018). An den Gymnasien hat sich ihr Anteil von einem niedrigen Niveau kommend auf 3,8 Prozent der Schülerschaft mehr als verdoppelt. An den übrigen Schulformen liegt er allerdings mit 35 Prozent neunmal so hoch, nochmal sechs Prozentpunkte mehr als 2018. Das bedeutet laut nationalem PISA-Bericht: "Diese Jugendlichen verfügen nur über sehr eingeschränkte Lesekompetenzen und sind kaum in der Lage, sinnentnehmend Texte zu lesen, was mit Problemen der gesellschaftlichen Teilhabe einhergehen kann." Die Gruppe der besonders lesestarken Neuntklässler verringerte sich seit 2018 um drei Prozentpunkte auf 8,2 Prozent – wobei der Rückgang an Gymnasien von 27,3 auf 19,2 Prozent ebenfalls rasant ausfiel.
o Die soziale Herkunft spielte bei den Leistungen in Deutschland, gemessen an den Mathematikkompetenzen, erneut eine größere Rolle als im OECD-Durchschnitt, zumindest bezogen auf die Berufe der Erziehungsberechtigten und deren sozioökonomischen Status. Allerdings: Werden weitere Faktoren wie Bildungsdauer der Erziehungsberechtigten, das Vorhandensein von Büchern oder die Anzahl der Computer im Haushalt einberechnet, verschwindet der Unterschied. Die Stärke des statistischen Zusammenhangs (gemeint ist hier der Anteil der aufgeklärten Varianz) zwischen sozialer Herkunft und Pisa-Leistungen bleibt aber trotzdem über den OECD-Mittel.
o Die deutschen Schülerleistungen sind in der Pandemie stärker gesunken sind als in vielen anderen Ländern, vor allem deutlich stärker als im OECD-Schnitt. 71 Prozent der deutschen 15-Jährigen gaben an, dass in ihrem Schulgebäude wegen der Corona-Krise mehr als drei Monate lang kein Unterricht stattgefunden habe (im OECD-Durchschnitt sagten das 51 Prozent). Die Auswertung der internationalen Daten zeige allerdings, dass es keinen systematischen Zusammenhang zwischen der Dauer der Schulschließungen und Leistungsrückgängen zwischen 2018 und 2022 gegeben habe, betont die deutsche PISA-Studienleiterin Doris Lewalter. Weiter ergab die PISA-Befragung, dass der Distanzunterricht in Deutschland signifikant seltener mithilfe digitaler Geräte und viel häufiger mithilfe versendeter Materialien zum selbständigen Lernen ablief. Dass deutsche Schüler gleichzeitig seltener Tipps zum eigenständigen Lernen erhielten und seltener gefragt wurden, wie es ihnen ging. Und dass Gymnasiasten nach Angaben von Schulleitungen weitaus besser erreicht wurden durch den Distanzunterricht als Schüler nichtgymnasialer Schulen. "Deutschland war im internationalen Vergleich nicht gut auf den Distanzunterricht vorbereitet, was die Ausstattung mit Digitalgeräten angeht – hat dann aber aufgeholt“, sagt PISA-Studienleiterin Lewalter.
o Jugendliche aus Einwandererfamilien (bis einschließlich zweite Generation) schneiden in fast allen europäischen Staaten schlechter ab. Auffällig ist zudem, dass unter den vier Staaten, die in wechselnder Reihenfolge die PISA-Spitze unter sich ausmachen, drei sind fast ohne Einwanderung: Japan und Korea, die meist vorn liegen, außerdem Estland, das mit Abstand beste europäische Land. Dann folgen allerdings mit Kanada schon ein klassisches Einwanderungsland und nicht weit dahinter weitere Staaten mit viel Zuwanderung: die Schweiz, Australien, das Vereinigte Königreich.
o In Deutschland indes ist der Effekt des Zuwanderungshintergrunds auf die Schulleistungen laut PISA-Forschern überdurchschnittlich stark ausgeprägt. Ihr Rückstand zu Nicht-Einwanderern erkläre sich zu erheblichem Anteil durch die soziale Herkunft und ihren häuslichen Sprachgebrauch. Gegenüber 2012 hat sich der Anteil der Einwandererkinder auf 38,6 Prozent veranderthalbfacht. Knapp über die Hälfte von ihnen spricht zu Hause Deutsch, von Jugendlichen der ersten Einwanderergeneration tun dies lediglich zwölf Prozent. 16 Prozent der ersten Einwanderergeneration besucht ein Gymnasium – im Vergleich zu 44 Prozent der Neuntklässler aus Nicht-Einwandererfamilien. Die Ergebnisse der ersten Generation nennen die deutschen PISA-Forscher "alarmierend": "Es ist offensichtlich, dass die Integration der Jugendlichen der ersten Generation in das deutsche Bildungssystem nicht gelingt. Die pandemiebedingten Schulschließungen der Jahre 2020 und 2021 dürften hier zusätzliche negative Effekte gehabt haben."
Wohlgemerkt: zusätzliche negative Effekte. Diese Betonung ist den Forschern offenbar besonders wichtig, und das aus gutem Grund. Denn keinesfalls darf über den vermutlichen Folgen der Schulschließungen und anderer Corona-Einschränkungen aus dem Blick geraten, dass der PISA-Abwärtstrend teilweise seit einem Jahrzehnt läuft. Die Pandemie habe insofern "eher als Verstärker bereits bestehender Probleme gewirkt", so formulieren das die Forscher.
Womit wir bei der Frage sind, was die Ergebnisse bedeuten – und was aus ihnen folgten sollte. Dazu drei Thesen:
1. Die deutschen PISA-Ergebnisse sind so schlecht wie nie, trotzdem droht ein zweiter PISA-Schock auszubleiben
Die Zahlen sind – nüchtern betrachtet – dramatisch: In allen drei Kompetenzbereichen fallen die deutschen Neunklässler auf oder unter die niedrigsten Werte zurück, die jemals im Rahmen von PISA gemessen wurden. Die Anteile der leistungsschwachen und damit besonders gefährdeten Schüler sind seit 2018 durch die Bank gestiegen, teilweise sehr stark. Folgt jetzt ein öffentlicher Aufschrei, der den des PISA-Schocks nach 2000 noch in den Schatten stellt?
Leider unwahrscheinlich. Denn unsere Gesellschaft ist, was schlechte Schülerleistungen angeht, inzwischen abgestumpft. Das hat viel mit den Folgen der Corona-Krise zu tun. Nach einer ganzen Batterie mieser Studienergebnisse von IGLU bis zum IQB-Bildungstrend haben Medien und Öffentlichkeit den enormen Lernschaden durch die Pandemie-Maßnahmen bereits "eingepreist", schon auf die letzten Studien reagierten sie nur noch mit einem Zucken, nach dem Motto: Schade, war aber ja erwartbar und ist nicht zu ändern. Was zwar nicht stimmt, aber scheinbar seine Rechtfertigung dadurch erhält, dass es anderswo kaum besser lief zwischen 2018 und 2022, Deutschland also quasi im OECD-Geleitzug nach unten gerauscht ist.
Paradoxerweise leiden die heute 15-Jährigen, vor allem aber auch die noch jüngeren Schüler, auf diese Weise ein zweites Mal unter der Pandemie – weil sich der Handlungsdruck auf die Bildungspolitik verringert. Forderungen nach einem grundsätzlichen Ruck könnten mit dem Narrativ von historisch einmaligen Umständen wegmoderiert werden, deretwegen man – ebenfalls anders als nach PISA 2000 – jetzt nicht gleich bildungspolitisch alles in Frage stellen oder die große Krise ausrufen dürfe.
Gegen einen PISA-Schock wirkt zudem, dass die gemessenen Werte zwar niedrig sind wie nie, aber Deutschland mit ihnen noch etwas über dem OECD-Mittel liegt. Das war vor 22 Jahren anders: Damals befand sich Deutschland mit ähnlichen PISA-Ergebnissen international unter dem Durchschnitt. Was so gar nicht dem damaligen Anspruch entsprach, eine führende Bildungsnation mit fairen Chancen für alle zu sein. Heute reicht das gleiche Niveau für ein (leicht) überdurchschnittliche internationale Mittelmaß. Indes: Macht es das irgendwie besser? Haben wir noch den bildungspolitischen Anspruch von einst? Oder haben wir auch diesen längst wegmoderiert? Sind wir zu müde, um noch einmal erschüttert zu sein? Nicht die kurzfristigen Reaktionen auf PISA 2022, die betroffenen Sprüche werden es zeigen, sondern die mittelfristigen, die bildungs- und finanzpolitischen Weichenstellungen der nächsten Monate und Jahre. Und zwar schonungslos.
2. Die Zuwanderung nicht als Ausrede nutzen, sondern als Gelegenheit
Es ist ein gefährlicher Satz – gefährlich, weil er zu falschen Schlussfolgerungen einlädt: Deutschlands Einwandererkinder ziehen die PISA-Ergebnisse merklich runter. Sie erreichen in Mathe 59 Kompetenzpunkte weniger als Gleichaltrige ohne Zuwanderungsgeschichte, das entspricht zwei Schuljahren. In Lesen ist der Abstand mit 67 Punkten noch größer. Wer das allerdings den Einwandererkindern und ihren Familien vorwirft, sie womöglich sogar bei den nationalen Ergebnissen rausrechnet, um zu zeigen, wo die Bundesrepublik ohne sie stehen würde, hat nichts verstanden. Die Wahrheit ist: Deutschland hat sich für Millionen Menschen geöffnet, viele davon Geflüchtete ohne ausreichende Schul- oder Berufsbildung, nun muss Deutschland sich aber auch auf sie und ihre Bedürfnisse einstellen. Hinzu kommt etwas, was PISA-Studienleiterin Lewalter betont: "Die mathematischen Kompetenzen der Jugendlichen ohne Zuwanderungshintergrund sind im Vergleich zu 2012 ebenfalls geringer geworden – sogar deutlicher als bei den Jugendlichen, deren Eltern zugewandert, die aber selbst in Deutschland geboren sind."
Und doch bleibt es eine der wichtigsten PISA-Botschaften: dass es gerade auch in den Schulen bisher nicht ausreichend gelingt, sich auf die Realitäten einer Einwanderergesellschaft einzustellen. Da nützt kein Lamentieren über die mangelnde Unterstützung durch die Eltern, die nicht vorhandenen Sprachkenntnisse der Jugendlichen – oder gar der Hinweis, dass erfolgreiche PISA-Länder wie Kanada oder Großbritannien fast ausschließlich hochqualifizierte Einwanderer ins Land lassen. Es sind jetzt alles unsere Kinder, und wir brauchen sie alle: weil die Gesellschaft dramatisch altert, weil schon jetzt hunderttausende Fachkräfte fehlen – und weil eine vielfältige Gesellschaft besser auf künftige Veränderungen wird reagieren können. Wie groß das Potenzial der Einwandererkinder ist, auch das hat neulich eine Studie gezeigt: Beim IQB-Bildungstrend standen neben alarmierend schlechten Deutsch-Ergebnissen starke Englisch-Werte – und gerade eingewanderte Jugendliche schnitten gut ab.
3. Deutschland hat Handlungsoptionen, es muss sie nur nutzen
Die deutschen PISA-Forscher mahnen in ihrem nationalen Bericht, die 2022er Ergebnisse seien "besorgniserregend und zeigen, dass großer Handlungsbedarf für das Bildungssystem in Deutschland besteht. Es bedarf entschiedener gemeinsamer Anstrengungen von Bildungspolitik, Bildungsforschung, Bildungspraxis und Zivilgesellschaft, um flächendeckende Maßnahmen auf den Weg zu bringen." Eine gemeinsame, man könnte auch sagen: eine nationale Kraftanstrengung. Doch schafft die Politik die auch ohne zweiten PISA-Schock?
Immerhin haben schon die IQB-Englischergebnisse gezeigt: Der Unterricht kann so gestaltet werden, dass Schüler mit unterschiedlichen Voraussetzungen mitgenommen werden. Deshalb wird die Unterrichtsgestaltung im Fokus der Bildungspolitik stehen müssen, das umfasst Lehreraus- und Fortbildung genauso wie die Schulentwicklung. Es geht ums Hinschauen, Abgucken und Weiterentwickeln.
Und da schulischer Erfolg stark mit Sprache verknüpft ist, muss Deutschland dessen Förderung noch absoluter setzen als bislang. Das bedeutet: Ähnlich wie etwa in Hamburg sollte es überall in Deutschland eine Vorschulpflicht schon für Fünfjährige geben, die in Deutschtests Defizite aufweisen. Denn die Pflicht geht dann in beide Richtung: Die Gesellschaft wird damit verantwortlich, die Kinder auf einen Sprachstand zu bringen, der ihnen die Bildungsteilhabe erst eröffnet. Also: systematisch diagnostizieren und systematisch fördern.
Richtig ist darüber hinaus, dass mit dem geplanten Startchancen-Programm ein Anfang gemacht werden soll, besonders jene Schulen zu fördern, an denen viele sozial benachteiligte Kinder lernen. Doch ist das vorgesehene Volumen mit zwei Milliarden pro Jahr und zehn Prozent der deutschen Schulen viel zu klein. Es muss mehr Geld fließen, und es muss noch deutlicher umgesteuert werden dorthin, wo es gebraucht wird. Nicht zu den Gymnasien und statt dessen besonders in den Kita- und Grundschulbereich. In die Bundesländer, Regionen und Stadtviertel, wo die sozialen Herausforderungen am größten sind. Das Gegenteil von Gießkanne. Wenn Bildung die soziale Frage des 21. Jahrhunderts ist, dann ist das der entscheidende Teil der Antwort. PISA 2022 akzentuiert sie einmal mehr.
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Laubeiter (Dienstag, 05 Dezember 2023 11:49)
Vielen Dank für diesen Kommentar. Ich kenne mich mit Schule nur so aus, wie ich es von meinen Kindern mitkriege. Ein Kind ist in Kl. 9 und in Mathe unterdurchschnittlich. Ich finde diesen blog deshalb gut, weil er sowohl Hochschule als auch Schule einschließt. Wenn die Schulen lückenhaft beschulen, sind die Hochschulen schlechter in der Lage, tertiär zu bilden. Daher vielen Dank für diesen blog.
tutnichtszursache (Dienstag, 05 Dezember 2023 16:40)
Vielen Dank für diesen Beitrag!
"Zu müde" - ja, vielleicht, wobei womöglich auch eher ein Gefühl der Vergeblichkeit. Es nutzt ja sowieso nichts, sich aufzuregen, denn großen Teilen von Politik (von Linker bis weit in die Union), Gesellschaft und eben auch den Mit-Eltern sind die Schülerleistungen letztlich egal, wenn man sich nicht sogar aktiv gegen jede Leistungs- und Defizitfeststellung einsetzt. Gegen diese Gleichgültigkeit anzugehen, hat sich als vergeblich erwiesen.
Trotzdem hoffe ich wider besseres Wissen, dass Ihr Vorschlag - es "sollte ... überall in Deutschland eine Vorschulpflicht schon für Fünfjährige geben, die in Deutschtests Defizite aufweisen" - umgesetzt wird!
LeibnizButterkeks (Dienstag, 05 Dezember 2023 20:30)
Symptome lassen erkennen, wie ernst unsere Bildungspolitik die Ergebnisse nimmt - die Ministerin hatte bei der Vorstellung Wichtigeres zu tun.
Und wir werden wieder unzählige wortreiche Erklärungen und Gründe hören, warum Deutschland so schlecht abschneiden musste. Hier verdienen wir die glatte 1. Und wie sieht es mit dem Transfer unserer Bildungsforscher-Ergebnisse in die Praxis aus - Versagen auf ganzer Linie.
Nur das Erreichte zählt und nicht das Erzählte reicht, wie ein prominenter Unternehmensvertreter es einst treffend ausdrückte. Meine laienhafte Empfehlung: sofortige Kopie des Bildungssystems aus Estland, schlechter kann es nicht werden.
Ein Kommentar (Mittwoch, 06 Dezember 2023 11:55)
Folgende Aussage im Text ist m.E. nicht korrekt, zumindest nicht ausreichend differenziert: „Deutschlands Einwandererkinder ziehen die PISA-Ergebnisse merklich runter. Sie erreichen in Mathe 59 Kompetenzpunkte weniger als Gleichaltrige ohne Zuwanderungsgeschichte, das entspricht zwei Schuljahren.“
Untersuchungen aus 2019 zeigen hier sogar das Gegenteil. Zu einer geeigneten Problemlösung benötigt man auch eine adäquate, differenzierte Problemanalyse.
Hierzu ein Ausschnitt zu einem Artikel über Migrantenkinder: „In den bisherigen Pisa-Studien wurden Migrantenkinder in Ostdeutschland nicht als eigene Gruppe ausgewiesen, weil sie weniger als zehn Prozent der Schüler ausmachen, wie die Integrationsbeauftragte des Landes Brandenburg, Karin Weiss, der AP sagte. Weiss hat daher eine Studie zum Bildungserfolg vietnamesischer Schüler in Brandenburg in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse im September veröffentlicht wurden. Und diese lauten: Wenn vietnamesischstämmige Schüler die Schule verlassen, "haben sie in der Tendenz überwiegend bessere Schulabschlüsse als deutsche Schüler", wie Weiss erklärt. Der Studie zufolge besuchen 74 Prozent der Kinder vietnamesischer Einwanderer im Sekundarschulalter das Gymnasium, 17 Prozent die Gesamtschule und neun Prozent die Realschule.Und das, obwohl ihre Eltern oft schlecht Deutsch sprechen, meistens sieben Tage in der Woche arbeiten und wenig freie Zeit haben, weil sie Textilgeschäfte, Imbissstände und ähnliche Kleinunternehmen betreiben, um sich aus wirtschaftlicher und sozialer Randständigkeit herauszuarbeiten, wie Weiss erklärt.“ (Quelle: Frankfurter Rundschau vom 29.01.2019; Vietnamesen oft die besseren Schüler)
Ruth Himmelreich (Donnerstag, 07 Dezember 2023 10:34)
Warum es keinen Schock gibt? Im Jahr 2000 waren wir noch etwas homogener aufgestellt, die schlechten Ergebnisse der ersten Studie betrafen gefühlt alle. Und nun? Hier ein Zitat aus der Zusammenfassung der aktuellen Ergebnisse:
"Insbesondere an nicht gymnasialen Schularten ist der Anteil leseschwacher Fünfzehnjähriger mit 35 Prozent besonders groß und seit dem Jahr 2018 signifikant gewachsen (um 6 Prozentpunkte). Zudem
hat sich die Gruppe leseschwacher Schüler*innen an den Gymnasien im Vergleich zu PISA 2018 (1.8 %) in PISA 2022 fast verdoppelt (3.8 %)."
3,8 Prozent an den Gymnasien ist zwar nicht "nichts", aber immer noch wenig im Vergleich zu den anderen Schularten. Daher betrifft diese üble Situation so gut wie nicht die Kinder der politischen Entscheider*innen und die der anderen Meinungsbildner*innen in unserem Land (zu denen ich auch die Leser*innen dieses Blogs zähle), denn die besuchen nun mal fast ausschließlich das Gymnasium. Natürlich wird die Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft etc. etc. standardmäßig beklagt, aber wenn das eigene Kind eben nicht in einer Klasse mit 35 Prozent Analphabeten sitzt, muss man sich nicht unmittelbar dagegen wehren und eine Änderung der Politik verlangen. Die Eltern der analphabetischen Kinder sind zumeist selbst welche, die das mit dem "Wehren" nicht sonderlich effektiv beherrschen. So ist das halt, leider.
FrauLang (Dienstag, 26 Dezember 2023 08:03)
Guter Beitrag, aber an einer zentralen Stellen undifferenziert. Englischunterricht mit Deutschunterricht zu vergleichen, ist wie Äpfel mit Birnen... Englisch wird als Fremdsprache unterrichtet, Deutsch aber als muttersprachlicher Unterricht in Literatur und Sprachbetrachtung. Es ist kein Fach, in dem die Sprache systematisch gelernt wird. Ein Fach Deutsch als Fremdsprache (Daf/Daz) existiert regulär an Schulen nicht. (Das ist auch in den meisten anderen Ländern so). Man kann da also keine Methodik übernehmen. Es braucht ein anderes/zusätzliches Fach für die Deutschlerner. Eine Sprache zu lernen funktioniert nicht nebenbei (vor allem nicht bei älteren Kindern) .
Länder, in denen Englisch die von Zuwanderern zu erlernende Landessprache ist, haben klare Vorteile: deutlich weniger komplexe Grammatik (keine Artikel, keine Deklination,...) und die Popkultur auf ihrer Seite (Musik, Serien, Computerspiele,...).
Das bedeutet, dass unsere schulischen Anstrengungen in diesem Bereich noch viel größer sein müssten, da daran auch alle anderen Fächer hängen. Wer die Aufgabe nicht erfasst, kann auch in Mathe zu keinem richtigen Ergebnis kommen...
Die Forderung nach systematischem Daz-Unterricht hört man viel zu selten.
Freigeist (Dienstag, 23 Januar 2024 04:37)
Während meines PostDoc Jahres in den USA waren wir als Familie mit vier Kindern in einer kleinen Universitätsstadt an der Ostküste. Zwei unserer Kinder haben dort die reguläre (staatliche) Schule besucht, in der dritten und fünften Klasse. Sie wurden morgens mit dem Schulbus vor dem Haus abgeholt und kamen nachmittags (dank unserer schriftlichen Erlaubnis) zu Fuß nach Hause.
Wir hatten bewusst davon abgesehen, vor unserer Reise in die USA Englisch mit ihnen zu üben. Bei der Anmeldung in der Schule war somit klar, dass sie kein Englisch sprechen würden. Sie erhielten dann täglich zusammen mit anderen Kindern, die aus dem Ausland zugezogen waren, eigenen Unterricht 'English as a Second Language (ESL)', während die amerikanischen Kindern den regulären Englischunterricht besuchten. In schwierigeren Fächern wie Mathematik und Naturwissenschaften erhielten sie von Anfang an Hilfe durch deutschsprachige Mentoren (von der Schule bezahlt), die ihnen regelmäßig Unterstützung während des Unterrichts gaben. Das gab es auch für spanisch-sprechende oder vietnamesische Kinder.
Nach einem halben Jahr waren beide Kinder so weit, dass sie beschlossen, den regulären Unterricht ohne die Mentoren zu besuchen. Beide hatten am Ende des Schuljahres deutlich überdurchschnittliche Zeugnisse. Unser Sohn verbrachte den Anfang des Sommers, als die Schule fertig war, täglich in der kleinen Gemeindebibliothek, wo er seinen Wissensdurst in englischen Büchern stillte. Zu diesem Zeitpunkt begannen unsere Kinder, wenn sie spielten, auch miteinander Englisch zu sprechen.
Nun wird niemand überrascht sein, dass zwei Kinder, die in der deutschen Schule sehr gut waren, auch in einer amerikanischen Schule gut zurecht kamen. Wir waren verblüfft, wie mühelos das gelang (wir haben ein ganzes Jahr lang nie etwas mit Hausaufgaben zu tun gehabt) und wie das offenbar auch bei den Kindern von Einwanderern aus anderen Kulturen möglich war.
In meinem Labor waren jedenfalls fast ausschließlich junge Menschen aus dem Ausland (viele aus Südostasien) als Masterstudierende oder Doktorand:innen tätig, deren Eltern es in die USA geschafft hatten. Viele von Eltern führen ein sehr einfaches (Berufs-)Leben und sprachen die englische Sprache nur fehlerhaft. Deren Kinder jedoch, von denen viele nicht in den USA geboren waren, hatten den Bildungsaufstieg über die Schule und ein Hochschulstudium geschafft. Die Grundlagen dafür wurden während der Schulzeit gelegt.