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Überschuss? Welcher Überschuss?

Laut einer neuen Prognose könnte sich der Lehrermangel an den Grundschulen schon dieses Jahr in sein Gegenteil umkehren. Wie kann das sein? Und was bedeutet das für die Bildungspolitik?

DIE NEUE PROGNOSE kommt zu einem neuralgischen Zeitpunkt. Für den Zeitraum von 2023 bis 2035 würden bundesweit voraussichtlich 45.800 Grundschullehrkräfte mehr zur Verfügung stehen, als erforderlich wären, um den Unterricht abzudecken, teilt die Bertelsmann-Stiftung am Mittwoch mit. Schon dieses Jahr soll die Zahl der Bewerber die der angebotenen Stellen bundesweit um rund 2.300 Personen übersteigen, haben der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm und der Bildungsexperte Dirk Zorn berechnet. "Der Lehrkräftemangel an Grundschulen ist bald überwunden", lautet ihre Schlussfolgerung.

 

Dabei hatte zum Beispiel noch im Januar 2023 der Vorsitzende der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz, Olaf Köller, gewarnt, der größte Lehrkräftemangel herrsche an den Grundschulen und den nichtgymnasialen Schulformen.

 

Da wusste freilich noch keiner, wie stark die Geburtenzahlen in Deutschland sinken würden. Allein zwischen 2021 und 2022 rutschte die sogenannte Geburtenziffer laut Statistischem Bundesamt von 1,58 Kindern pro Frau auf 1,46 ab. Der niedrigste Stand seit 2013. Und kamen 2021 noch 795.500 Kinder in Deutschland zur Welt, sollen es 2023 mit 689.300 über 100.000 weniger gewesen sein. 

 

Die KMK war in ihrer kürzlich veröffentlichten, allerdings intern seit längerem vorliegenden Prognose bereits von einem leichten Bewerberüberschuss von 6.300 Lehramtsabsolventen an den Grundschulen bis 2035 ausgegangen, nun sollen es laut Bertelsmann-Stiftung siebenmal so viele werden. Was ernstzunehmen ist, denn in der jüngeren Vergangenheit lag Klemm mit seinen Voraussagen stets deutlich besser als die KMK. 

 

Kultusminister stehen vor
weitreichenden Reformbeschlüssen

 

Neuralgisch ist der Zeitpunkt, weil die Kultusminister kurz vor weitreichenden Beschlüssen zur Reform des Lehramtsstudiums stehen, die vor allem für mehr Flexibilität bei Zugang und Studienmodellen sorgen sollen. Im Dezember 2023 hatte die SWK dazu ihre Empfehlungen vorgelegt, Mitte März will die KMK entscheiden. Viele Länder haben sich unterdessen längst auf den Weg gemacht. Hauptargument dafür war der Lehrkräftemangel. Lässt der Druck zu Veränderungen auf der Zielgerade nun nach, weil es bis einschließlich Klasse vier – zumindest bundesweit betrachtet – Entwarnung gibt? 

 

Auch wenn sie das explizit nicht sagen – genau das scheinen auch die Urheber der neuen Bertelsmann-Prognose zu befürchten. "Angesichts der schlechten Nachrichten für das deutsche Bildungssystem in den vergangenen Monaten, vom IQB-Bildungstrend bis PISA" seien die neuen Zahlen "eindeutig ein Lichtblick", sagt Dirk Zorn. Zusammen mit Klemm mahnt er – wie im Dezember schon die SWK – die Bildungspolitik, die Geburtenentwicklung aktueller zu berücksichtigen, um belastbarere Prognosen zur Schülerzahl und damit zum künftigen Bedarf an Lehrkräften zu treffen. Dazu müssten allerdings auch die Ausbildungswege "so flexibel gestaltet sein, dass sie besser auf demografische Schwankungen reagieren können, etwa durch Quereinstiegs-Masterstudiengänge". So könne der schon oft beobachteten Zyklus aus Mangel- und Überschussphasen in der Ausbildung von Lehrer:innen durchbrochen werden. 

 

Kurzum: Eine grundlegende Modernisierung des Lehramtsstudiums mag durch den Lehrkräftemangel getrieben und leichter durchsetzbar sein, überfällig wäre sie auch ohne. Neuralgisch ist der Zeitpunkt der Prognose allerdings auch deshalb, weil die öffentlichen Haushalte so unter Druck sind, dass die Finanzminister in den Ländern eine willkommene Gelegenheit zur Kostensenkung sehen könnten.

 

Was wiederum in gleich mehrfacher Hinsicht ein Fehler wäre. Weil erstens von 2026 an für Grundschüler der Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz gilt, der personell fast nirgendwo hinterlegt ist bislang. Und da weiter ein massiver Erziehermangel herrscht, käme ein Überschuss an Grundschullehrkräften wie gerufen.

 

Das gleiche gilt – zweitens – für das milliardenschwere Startchancen-Programm, bei dem Bund und Länder gerade die letzten Details verhandeln. Wenn allein rund 2.400 Grundschulen in sozialen Brennpunkten eine besondere Förderung erhalten sollen, brauchen sie dafür die nötigen Fachkräfte. Soll heißen: zusätzliche Grundschullehrer. Zorn, Bildungsdirektor der Stiftung, spricht von einer "seltene(n) Gelegenheit, die Schulen mit den größten Bedarfen personell deutlich besser auszustatten." 

 

Bedenkt man nur diese beiden Punkte, ist vom vermeintlichen Grundschullehrer-Überschuss bis 2035 nicht mehr viel übrig. Drittens, und auch das beeilen sich Prognosen-Urheber zu betonen, bleibt der Lehrkräftemangel ja auch anderswo zumindest auf absehbare Zeit – und teilweise umso heftiger – bestehen. Zum Beispiel in den Klassen fünf und sechs, wo er mithilfe der Grundschullehrer ebenfalls abgemildert werden könnte. Genauso in ländlichen Gebieten, mitunter übrigens auch an Grundschulen, und wo Olaf Köllers Prognose von Anfang 2023 ebenfalls noch aktuell ist, an den nichtgymnasialen Schulformen, außerdem durch die Bank in den MINT-Fächern. Und genau an diesen Stellen setzen viele der geplanten Reformen an.

 

Auch wenn sich die Trendwende beim Lehrkräftebedarf bis zum Ende des Jahrzehnts allmählich durch die Jahrgänge hocharbeiten könnte: Die Kultusminister sollten sich durch die neuen Zahlen und die raschen demographischen Veränderungen, die sie abbilden, in ihren Veränderungswillen hin zu mehr Flexibilität eher noch bestärkt sehen. Und den Rücken gegenüber den Finanzminister gerade machen. 


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Kommentare: 4
  • #1

    Michael Liebendörfer (Donnerstag, 25 Januar 2024 21:22)

    Ausgebildete Grundschullehrkräfte in einer Kita einzusetzen klingt bezüglich der Qualifikation, trotz einiger Vorbehalte, zumindest für einige Fälle plausibel. Aber wie viel verdient man da? A12, teilweise A13, und eine Verbeamtung winken wohl nicht.

  • #2

    Jan-Martin Wiarda (Freitag, 26 Januar 2024 08:43)

    Lieber Herr Liebendörfer,

    vielen Dank für Ihren Kommentar! Ich würde Grundschullehrer allerdings nicht in Kitas sehen, sondern im Grundschul-Ganztag. Wodurch indirekt der Druck auf die Kitas abnähme, weil die Grundschulen mit ihnen weniger um die zu wenigen Erzieher:innen konkurrieren.

    Viele Grüße
    Ihr Jan-Martin Wiarda

  • #3

    Hanna (Montag, 29 Januar 2024 12:05)

    Danke für den Beitrag. Schade finde ich, dass die Ursache für den überraschenden Geburtenknick nicht näher diskutiert wird. Handelt es sich dabei vielleicht nur um eine (mit der Inflationskurve und dem Wohnkreditzins korrelierende) vorläufige Delle in der Familienplanung oder unterliegt der Kinderwunsch gerade einem grundlegenden Kulturwandel?
    Sollte der Leitzins bis Jahresende auf Vorkrisenniveaus sinken und die Wirtschaft wieder brummen, kehrt dann der Lehrkräftemangel zurück? Brauchen wir nicht eher eine langfristige Planung und ein flexibleres, resilienteres System, das die Unterrichtsversorgung dauerhaft sichert?

  • #4

    Linda Summer (Samstag, 03 August 2024 11:04)

    in Ungarn studieren Grundschullehrer*innen zusamnen mit Erziehern*innen im ersten Semester. Bildung und Soziales zusammen zu denken wäre gar nicht so schlecht.. die Bezahlung sollte dann aber auch gleich gut sein. Für das Startchancen-Programm sind vor allem berufserfahrene Schulsozialarbeiter*innen gefragt.Auch diese Profession muss entsprechend gesehen und eingruppiert werden, um Qualität zu erhalten