Kinder, die in der Grundschule von Corona-Maßnahmen betroffen waren, werden Teenager. Wie geht es ihnen?
EIN BISSCHEN IST ES WIE DAMALS in der Pandemie. Wer belastbare, repräsentative und noch dazu aktuelle Informationen zum Infektionsgeschehen haben wollte, erreichte in Deutschland rasch die Grenzen der zur Verfügung stehenden Daten. Während Großbritannien regelmäßig über alle Altersgruppen hinweg maß, was das Zeug hielt. Wer sich heute fragt, welche Langzeitwirkung Corona, Kontaktverbote und Lockdowns für das Verhalten von Kindern und Jugendlichen in der Schule hatten, erhält hierzu von Kultusministerkonferenz oder Bundesbildungsministerium keine Statistiken. Aber es gibt die jährliche nationale Auswertung des englischen Bildungsministeriums, über die zuerst der Guardian berichtete.
Die Zahlen sind erschreckend. Sie zeigen, dass zwischen den Schuljahren 2018/19 und 2022/23 der Anteil der englischen Siebtklässler, die als disziplinarische Maßnahme zeitweise vom Unterricht ausgeschlossen wurden, um 54 Prozent gestiegen ist. Bei den Acht- und Neuntklässlern gingen die Suspendierungen um fast die Hälfte hoch, bei den Zehntklässlern um ein Drittel. Besonders steil war die Kurve bei den Mädchen. Ihr Anteil an allen Suspendierungen schoss von einem Viertel auf nahezu ein Drittel.
Im britischen Schulrecht gibt es zwei Formen der Suspendierung: die zeitweise, maximal 45 Schultage pro Jahr, und, wenn nichts mehr hilft, die dauerhafte, "permanent exclusion". Beide Extremmaßnahmen stehen am Ende einer langen Kette von mündlichen Warnungen, Elternbriefen, der zeitweisen Versetzung in eine andere Klasse und Nachsitzen. Das macht deutlich, wie stark und anhaltend die Verstöße, verbal und körperlich, sein müssen, bevor es überhaupt zu einer Suspendierung kommt. In jedem Fall muss die verantwortliche Schulbehörde nach fünf Tagen alternative Formen der Beschulung bereitstellen. Was nichts an dem sozialen Stigma ändert.
Die Situation dürfte sich künftig weiter verschlimmern. Denn diejenigen Kinder,
die auch in Großbritannien am stärksten unter Schulschließungen gelitten haben, die Grundschüler, kommen jetzt in die Pubertät. Ein Altersabschnitt, in dem die Verhaltensauffälligkeiten ohnehin am stärksten sind. Auch das belegt die Statistik des britischen Bildungsministeriums: In den Zahlen von 2022/23 tauchten die einstigen Grundschüler als Siebtklässler auf, bereits mit dem stärksten Anstieg. Trotzdem lag der absolute Anteil der mindestens zeitweise suspendierten Schüler in dieser Altersgruppe lediglich bei 5,5 Prozent. Bei den Neunt- und Zehntklässlern dagegen waren es fast zehn Prozent. Hinzu kam: Das ökonomisch schwächste Fünftel der Schüler war altersunabhängig rund dreimal so oft von Suspendierungen betroffen wie das wohlhabendste.
Minister tappen
im Dunkeln
Was, wenn die Grundschüler aus Corona-Zeiten pubertierende Neunt- und Zehntklässler werden? Britische Bildungsexperten sind laut Guardian extrem besorgt. Die deutschen hätten gern erst mal vergleichbares Zahlenmaterial. Fest steht: Laut OECD waren die Schulen in Deutschland 2020 und 2021 in etwa so lange komplett geschlossen wie in Großbritannien, hinzu kamen in Deutschland jedoch deutlich umfangreichere Teil-Schließungen mit Wechselunterricht. 186 Tage "gestörten Unterricht" zählte die OECD bis September 2021 für die Sekundarstufe II in Deutschland, 28 über dem internationalen Durchschnitt.
Und wie entwickelte sich seit Corona langfristig das Verhalten der Kinder und
Jugendlichen im Klassenraum, auf dem Schulhof und darüber hinaus? Die Forschung kann es nicht sagen, weil die Schuldaten entweder nicht erhoben wurden oder nicht bundesweit miteinander verknüpft werden können. Umso aufschlussreicher – und besorgniserregender – sind Daten aus der Jugendkriminalitätsstatistik, die von der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention des Deutschen Jugendinstituts (DJI) ausgewertet
wurden. Demnach stieg die Zahl der 8- bis 14-jährigen Tatverdächtigen über alle Delikte hinweg um 42 Prozent – innerhalb von nur drei Jahren zwischen 2020 und 2023. Auch bei den 14- bis 18-Jährigen ging es hoch, aber deutlich langsamer: plus zehn Prozent.
Die Forschungsabteilung "Child Public Health" des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf befragt regelmäßig 11- bis 17-Jährige, wie es ihnen nach
Corona seelisch geht. Die jüngsten Ergebnisse: Die Ängste und psychischen Auffälligkeiten waren wieder geringer als während der Lockdowns – aber deutlich höher als vor der Pandemie. Das Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen wird außerdem durch neue Krisen wie Ukraine-Krieg und Klimawandel beeinträchtigt. Und auch hier galt: Wer aus einer Einwandererfamilie stammte oder Eltern mit geringer Bildung hatte, hatte stärkere Belastungen.
Berichte über den Therapienotstand
gab es schon vor zwei Jahrzehnten
Vielen Kindern und Jugendlichen ist in der Pandemie und durch die soziale Isolation offenbar die Resilienz abhandengekommen. Die Frage ist: Was macht das mit ihnen im Laufe der Pubertät, auf dem Weg zum Erwachsenwerden? Die angeschlagene psychische Gesundheit der Schüler trifft auf eine erschreckende Schieflage, vor der zu warnen die deutschen Kinderärzte und Jugendpsychiater nicht müde werden: Es gibt viel zu wenige Therapieplätze für Kinder und Jugendliche. Die Wartezeiten betragen meist viele Monate. Wie sich das wohl aufs schulische Verhalten auswirkt?
Das Versagen der Politik ist eklatant: Denn Berichte über den Therapienotstand gab es schon vor zwei Jahrzehnten, genauso alt sind die Beteuerungen von Bund und Ländern, Abhilfe schaffen zu wollen. Stattdessen belasteten die Regierungschefs bei der Wahl der Pandemie-Maßnahmen besonders die junge Generation. Dass Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) die massiven Schulschließungen heute als "Fehler" bezeichnet, hilft den Kindern und Jugendlichen auch nicht. Hat wenigstens das vom Bund finanzierte Zwei-Milliarden-Euro-Hilfspaket "Aufholen nach Corona" die Lage der Kinder und die an den Schulen verbessert? Eine Milliarde floss in Nachhilfe-Programme und Extra-Lernangebote in der Schule, die zweite in Schulsozialarbeit, Lernmentoren, Jugendhilfe, außerschulische Initiativen, Freizeiten und mehr.
Doch es ist wieder das Gleiche: Um zu wissen, was "Aufholen nach Corona" tat-
sächlich gebracht hat, hätte die Politik vor Ort messen müssen, wie es den Kindern und Jugendlichen ging und welche Lücken sie hatten. Und zwar vorher und nachher. Ersteres hat man gar nicht getan. Letzteres je nach Projekt so wenig systematisch und standardisiert, dass das Wissenschaftszentrum Berlin schon 2022 zum Ergebnis kam, eine Wirkungsanalyse sei kaum möglich. Immerhin: In einer Umfrage der Telekom Stiftung sagten 22 Prozent der befragten Fünft- bis Zehntklässler, die Lernhilfen hätten "sehr" geholfen. Aber das sind nur selbst berichtete Wirkungen, über den seelischen Zustand der Schüler sagen sie wenig aus.
Kommt auf die deutschen Schulen jetzt auch noch eine Krise der pubertierenden
Generation Corona zu? Um diese Frage belastbar beantworten zu können, müsste die Politik es erst mal wissen wollen.
Dieser Beitrag erschien zuerst im Freitag.
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Django (Montag, 07 Oktober 2024 11:23)
Wenn die "anekdotische Evidenz", sprich die Eindrücke, die ich von Eltern von Teenagerkindern im Kreise der Verwandten, Freunde, Kollegen mitbekomme, haben wir allen Grund, uns mindestens Gedanken, wahrscheinlich auch Sorgen zu machen. Man kann es auf die Formel "gestörte oder verzögerte sozial-emotionale Entwicklung" eindampfen; es fällt schwer, hier nicht auf die Pandemiemaßnahmen als bedeutenden Faktor zu verweisen.
Dr. med. Wurst (Mittwoch, 09 Oktober 2024 10:02)
Für Deutschland gibt es wie dargelegt keine Daten, daher auch von mir nur "gefühlte Evidenz" eines Praktikers.
Deutlich zugenommen haben Fälle, in denen Schüler nicht mehr in die regelmäßigen (Anwesenheits-)Zwänge des Unterrichtsbetriebs eingezwängt sein wollen oder können.
Mindestens zwei Gründe/Motivationslagen sind denkbar: (1) im corona-erzwungenen homeschooling auf den Geschmack gekommen - nicht mehr wollen
oder
(2) Angststörungen haben nachweislich zugenommen, dazu kommt Post-Covid, Fatigue-Syndrom u.ä. - nicht mehr können.
Denkbar sind Mischformen bzw. Kumulation. Die Schule muss erstmal rausfinden ob es um "nicht wollen" geht oder "nicht können".
Gerne genommen bzw. eingefordert werden [von den Eltern] aber Fernunterrichts-Angebote, Streaming (bitte nicht live und wechselseitig, sondern asynchron und zeitlich flexibel) oder [v.a. vom Bildungsbürgertum] Einzelbetreuung durch mehrere Fach(!)lehrer durch Hausunterricht und Co.
Wenn wie berichtet in GB die Schulbehörde verpflichtet ist alternative Unterrichtsangebote zu machen, könnte das, je nachdem wie diese beschaffen sind, durchaus ein Anreiz sein einen Schulausschluss zu provozieren.