Innovationen aus Deutschland müssen disruptiver werden. Das Potential einer "Forschungsagentur für Fortschrittsprojekte" ist gewaltig – das zeigt der Vergleich mit DARPA und ARPA-E in den USA. Ein Gastbeitrag von Robin Mishra.
DER INNOVATIONSSTANDORT DEUTSCHLAND steht gut da: Der Haushalt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) ist stetig gewachsen, hat sich seit 2005 verdreifacht. Gemeinsam mit den Ausgaben der Wirtschaft ist das 3-Prozent-Ziel für Forschung und Entwicklung im Wesentlichen erreicht. Förderformate wie Spitzencluster-Wettbewerb oder Forschungscampus haben die Verbindung von Wirtschaft und Wissenschaft verbessert. Weithin und zu Recht bewundert wird Deutschland für sein "Ökosystem": Großunternehmen in Verbindung mit leistungsfähigen kleinen und mittelständischen Firmen, den sogenannten "hidden champions"; Universitäten, Fachhochschulen und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen nicht nur in den Metropolen, sondern mit hoher Qualität überall im Land.
Alles in Ordnung also? Sicher, deutsche Unternehmen haben es mit Hilfe der Forschung geschafft, viele ihrer Geschäftsmodelle auf die Höhe der Zeit zu bringen und zu verteidigen. Die Frage aber drängt sich auf: Wo haben sie in den vergangenen Jahren spektakuläre Innovationen hervorgebracht oder ganz neue Geschäftsfelder besetzt? Die Digitalisierung wird unsere klassischen Industrien weiter unter Druck setzen. Und nichts ist zu sehen von einem deutschen Amazon, Apple, Facebook, Alphabet/Google oder Microsoft, um nur die großen (und jungen!) fünf Digitalgiganten zu nennen. Nicht nur liegt ihr Börsenwert inzwischen doppelt zu hoch wie der aller 30 deutschen DAX-Unternehmen zusammen. Auch bei der Höhe der Forschungsbudgets führen inzwischen Amazon und Alphabet die Rangliste an, mit Volkswagen und Daimler finden sich gerade noch zwei deutsche Unternehmen unter den Top 20.
Diesen Mangel beklagen inzwischen Wirtschaft und Wissenschaft selbst. Deutschland schöpfe sein Potential nicht aus, so die Einsicht in einem Papier, das Forschungsorganisationen und Industrieverbände im Oktober 2017 gemeinsam an die neue Bundesregierung gerichtet haben. Schon seit einiger Zeit werden das Problem und mögliche Lösungen im politischen Raum diskutiert und von Fachleuten ausbuchstabiert. Ein erster Meilenstein ist der Koalitionsvertrag: Danach werden Verteidigungs- und Innenministerium an einer "Agentur für Disruptive Innovationen in der Cybersicherheit und Schlüsseltechnologien" arbeiten. Für das BMBF haben Union und SPD die gleiche Stoßrichtung vereinbart: "Zur Förderung von Sprunginnovationen wollen wir neue Instrumente schaffen", heißt es.
Vom Sputnik- zum Silicon Valley-Schock
Das Vorbild für diese Ideen stammt aus den USA: die Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA). Auftrag dieser außergewöhnlichen militärischen Forschungseinrichtung ist es, Projekte in Angriff zu nehmen, die zeitlich begrenzt sind, aber dauerhafte revolutionäre Veränderungen bewirken. Die Erfolge der DARPA sind legendär. So wird ihr die Entwicklung von Halbleitertechnologien, des GPS und sogar des Internets zugeschrieben. Mit ihren DARPA Grand Challenges, aufsehenerregenden Wissenschaftler-Wettbewerben mit Preisgeldern für das beste Team, hat die Agentur die Entwicklung autonomer Fahrzeuge und Roboter entscheidend inspiriert. Wo Wissenschaft an ihre Grenzen zu stoßen scheint, steigt DARPA mit seinem Projekt erst ein: Aktuell zum Beispiel in das Thema, wie Algorithmen der Künstlichen Intelligenz für Menschen verständlich und erklärbar bleiben ("Explainable Artificial Intelligence").
Die Gründung der DARPA 1958 ging auf den Sputnik-Schock der Amerikaner zurück, den ihnen die Russen mit dem Start ihres Erdsatelliten zugefügt hatten. Eine neue deutsche Risiko-Agentur wäre die richtige Reaktion auf den Silicon Valley-Schock: Jene neue Phase der Digitalisierung, in der aus den USA (und längst massiv aus China) klassische Bereiche der Gesellschaft wie Bildung, Gesundheit, Verkehr oder Landwirtschaft umgekrempelt werden.
Forschungsagentur für Fortschrittsprojekte – das könnte der Name für dieses neue Innovationsinstrument sein. In Deutschland ist Max-Planck-Präsident Martin Stratmann einer der engagiertesten Verfechter einer solchen zivilen DARPA-Variante. Er beschreibt deren entscheidende Organisationsmerkmale, wenn er von einer "schlanken, autonom agierenden Agentur" spricht, "in der Projektmanager in großer Eigenverantwortung Mittel für extrem innovative, aber auch entsprechend risikobehaftete Projekte vergeben und dabei Teams zusammenführen, die sich im besten Fall zuvor nicht einmal kannten."
Dafür braucht es ein ganz spezielles Klima: den unbedingten Willen, technologischen Fortschritt zu machen; die ständige Bereitschaft, alles Etablierte in Frage zu stellen; die Möglichkeit zu scheitern und das Projekt abzubrechen, wenn es fehlschlägt. Auch DARPA hat die Erfahrung des Scheiterns gemacht, etwa beim Projekt eines mechanischen Elefanten für den Kampfeinsatz im Dschungel. Wenn der Durchbruch gelingt, ist der Gewinn dafür umso höher: "High risk, high reward", heißt die amerikanische Formel dafür.
Beim direkten Vergleich zwischen einer neuen zivil orientierten Agentur in Deutschland und der DARPA ist Vorsicht angezeigt. Als militärische Forschungseinrichtung hat die DARPA den Vorteil, dass ihre Entwicklungen in direkte Beschaffungsprojekte des Pentagon münden können. Das Militär kann sich seinen eigenen Markt schaffen, eine zivile Agentur nicht.
Eine deutlich passendere Parallele in den USA ist deshalb die disruptive Energieforschungsagentur ARPA-E. Sie muss sich in einem wettbewerblichen Umfeld bewähren. Auch wenn die Trump-Regierung die Agentur kritisch sieht, hat sie starke parlamentarische Befürworter. Eine Begutachtung der National Academies of Sciences stellt der jungen, 2011 zum ersten Mal geförderten, Einrichtung ein positives Zeugnis aus: ARPA-E hat mit Budgetmitteln von 1,5 Milliarden US-Dollar bereits jetzt mehr als 1,8 Milliarden private Folgeinvestitionen ausgelöst. ARPA-E-Geförderte bringen im Schnitt fünfmal so oft eine Kombination aus wissenschaftlichen Papier und einem Patent zustande wie Forscher, die aus dem Haushalt des US-Energieministeriums finanziert werden. Auch die Zahl der ausgegründeten Firmen und neugeschaffenen Arbeitsplätze kann sich sehen lassen.
Die Lücke, in die ARPA-E stößt, existiert auch in Deutschland. Klassische Grundlagenforschung wird auf Basis von Begutachtungsprozessen gefördert. Das sichert zwar wissenschaftliche Qualität. Es birgt aber die Gefahr mit sich, dass Insellösungen entwickelt werden und Konformitätsdruck entsteht. Dadurch können sowohl nationale Forschungsziele als auch naheliegende Geschäftsmodelle aus dem Blick geraten. ARPA-E ermutigt dazu, Technologiesprünge zu wagen und wirtschaftlich zu verwerten. Das ist gerade bei gesellschaftlichen Missionen wichtig, in denen es möglichst schnell gehen soll. Davon gibt es auch in Deutschland genug - von der Elektromobilität bis hin zu Erneuerbaren Energien.
Beidhändigkeit und Beinfreiheit
Der Acatech-Präsident und ehemalige SAP-Vorstandsvorsitzende Henning Kagermann hat für Unternehmen jene Herausforderung beschrieben, vor der so ähnlich auch die Akteure des Wissenschaftssystems stehen: "Sie müssen erfolgreich im aktuellen Geschäft bleiben. Zugleich müssen sie Freiräume für radikale Experimente schaffen, aus denen das Geschäft von morgen und übermorgen entsteht. Ambidextrie – also Beidhändigkeit – ist das Gebot der Stunde."
Klar ist: Wer das politische Wagnis der Schaffung einer öffentlichen Forschungsagentur für Fortschrittsprojekte eingeht, hat alle Hände voll zu tun. Das Risiko darf nicht nur auf dem Papier stehen. Politik muss das Kunststück vollbringen, Rückendeckung und zugleich so viel Beinfreiheit wie möglich zu geben. Denn eine Forschungsagentur für Fortschrittsprojekte muss "über große Freiräume verfügen und im Tagesgeschäft mit einem Höchstmaß an Unabhängigkeit von politischer Steuerung agieren können", wie es die Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) unter ihrem Vorsitzenden Dietmar Harhoff in ihrem aktuellen Gutachten treffend beschreibt.
Dreh- und Angelpunkt sind sowohl bei DARPA als auch ARPA-E starke, hochklassige und mit programmatischen Spielräumen ausgestattete Programmdirektorinnen und -direktoren. Sie kommen aus Wissenschaft und Wirtschaft, werden für drei Jahre rekrutiert. Ihre Motivation ist – neben einem attraktiven Gehalt – die Aussicht, eine visionäre Technologie zu entwickeln, die sie in ihrem bisherigen Umfeld so nicht realisieren könnten. DARPA und ARPA-E arbeiten statt mit öffentlichen Zuwendungen auf Basis von Verträgen, in denen gemeinsame Ziele festgelegt werden. Das ermutigt Forscher, neue Wege zu gehen. Sie müssen sich zugleich an ihren Erfolgen messen lassen.
Die richtigen Persönlichkeiten zu finden, wird die entscheidende Aufgabe sein. Wissenschaft und forschende Wirtschaft müssen bereit sein, einige ihrer Besten auf Zeit für ein Projekt freizustellen, dessen Ausgang ungewiss ist. Hinzu kommt: In Deutschland ist anders als in den USA nicht die Drehtür, sondern der feste Arbeitgeber der Regelfall. Scheitern wird vielfach nicht als Chance, sondern auch als Makel im Lebenslauf angesehen.
Das aber macht es gerade reizvoll, das Experiment zu wagen. Eine Forschungsagentur für Fortschrittsprojekte schüttet nicht nur ein paar zusätzliche Forschungsmillionen aus. Sie hätte das Zeug, Schwung ins System zu bringen, gar eine Mentalität zu verbreiten, in der Risikobereitschaft als positive Tugend angesehen wird. Angesichts des neuen 3,5-Prozent-Ziels für Forschung und Entwicklung ist die Gelegenheit günstig, den Wissenschaftsorganisationen und Universitäten ein zusätzliches Schnellboot an die Seite zu stellen. Die Forschungsagentur für Fortschrittsprojekte wäre das Gegenteil von "Weiter so" – und eine Zierde für die Wissenschafts- und Innovationspolitik der Großen Koalition.
Dr. Robin Mishra ist Leiter Wissenschaft und Technologie an der Deutschen Botschaft in Washington D.C. Der Artikel gibt seine persönliche Meinung wieder.
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Klaus Diepold (Dienstag, 20 März 2018 12:14)
"Innovation ist schön, macht aber viel Arbeit" hätte möglicherweise Karl Valentin gesagt. Vor allem muss sich die Politik und die Agenturfreunde klar darüber werden, dass große Innovationssprünge nicht umbedingt aus der Forschung kommen müssen, wie das Beispiel Facebook zeigt, um nur ein Beispiel zu nennen. Gepäck mit Rädern (Rollkoffer) ist ein anderes Beispiel. Zudem ist jegliche Form von Top-Down Steuerung und Peer-Review Verfahren durch "Experten" ebenfalls zum Scheitern verurteilt, wenn es um Innovation geht. Wer Beweise dafür sucht kann sich ansehen, wie erfolgreich die EU seit Jahren auf der Innovationskuh reitet.
Man kann sich an der DARPA orientieren, oder aber auch an der Royal Society, die schon in zurückliegenden Jahrhunderten Innovationen durch Wettbewerbe befördert hat, z.B. Längengrad-Problem. Wobei die Lösung des Längengradproblems auch deutlich macht, dass eine praktische Lösung auch aus nicht-akademischen Quellen stammen kann.
Wichtig wäre es bedeutungsvolle Herausforderungen zu formulieren und z.B. in langfristig angelegten Wettbewerben (evtl. ohne Deadlines aber klaren Evaluierungskriterien) öffentlich zugänglich zu machen, damit Wissenschaftler genauso wir Tüftler, Akademiker und auch Praktiker sich an den Herausforderungen versuchen dürfen. Innovation ist meist "bottom-up" und nicht von oben organisiert.
Vor allem die Suche nach "Disruptionen" lässt sich nicht durch Expertenbegutachtung bewerkstelligen. Wenn Experten Disruptionen erkennen könnten, dann sind es eben keine Disruptionen mehr. Disruptionen (furchtbares Hype-Wort) entpuppen sich in der Regel erst im Nachhinein - das ist eben die Natur dieses Phänomens. Also, lieber eine Herausforderung formulieren und die Belohnung erst ex-post im (Teil-)Erfolgsfall herausgeben. Keine Ausschreibung, Expertenbegutachtung, Vorfinanzierung von Versprechungen usw. (siehe EU Rahmenprogramm).
Laubeiter (Mittwoch, 21 März 2018 10:20)
#MPG: Ich verstehe, dass die Max Planck Gesellschaft sich näher an Forschung an der Grenze des Machbaren sieht als Helmholtz, Leibniz und Fraunhofer. Warum, statt für neue Budgets zu plädieren, probiert die MPG es nicht schon mal mit ihrem jetzigen Budget aus? Ihre Satzung erlaubt ihr dies bereits. #Unis: Was ist mit den Unis? Spielen die im Disruptions-Konzert keine Geige? Ihre Forscher sind in der Regel jünger als die anderer Träger, das ist doch schon mal eine gute Voraussetzung. #EU: Hat nicht die EU im nächsten Rahmenprogramm das gleiche vor, nämlich ein Innovations-Budget, einen Innovations-Rat und eine Abstimmung zwischen Forschungs- und Industriepolitik? Wäre der hier vorgeschlagene nationaler Fond dazu eine Konkurrenz?
Klaus Diepold (Mittwoch, 21 März 2018 18:58)
@Laubeiter
Disruption hat nicht unmittelbar etwas mit den Grenzen des Machbaren zu tun, das ist eher unkorreliert. Die Unis spielen in der Tat beim Thema Innovation eher eine untergeordnete Rolle. Innovation, noch dazu wenn es um Disruptionen gehen soll, liegen nicht im Kernspektrum von Unis, da ist eher Grundlagenforschung gefragt, insbesondere wenn es um Exzellenz (ExStra) geht. Die EU verfolgt seit längerem in den Rahmenprogrammen und insbesondere in Horizon2020 die Politik Innovation zu fördern und die Forschung eher rauszunehmen. Das EIT ist eine EU Einrichtung, die sich komplett auf Innovation fokussiert. Die Forschung wird in der EU durch ERC abgedeckt. Ihre Frage ist absolut berechtigt, in wie weit eine nationale Einrichtung für Innovation mit der EU in Konkurrenz tritt. Man könnte auch fragen, welche Methoden und welche zählbaren Erfolg die EU im Rahmen dieser Innovationsförderung anführen bzw. reklamieren kann. Bis jetzt habe ich noch kein EU-gefördertes Innovationsergebnis gesehen, was geschäftlich in die Region der Googles, Facebooks, Amazons etc. aufsteigen könnte. Was machen eigentlich die Kollegen in Israel in dieser Richtung? Immerhin gründen deutsche Firmen (z.B. Daimler, VW, etc) inzwischen "Innovationslabore" in Israel, um von der dortigen Innovationsatmosphäre etwas abzubekommen.