Deutschland steuert auf einen Bildungsabschwung zu: Wer solche Warnungen bislang nicht wahrhaben wollte, findet im diesjährigen "Bildungsmonitor" jede Menge Daten, die sie belegen.
DER BILDUNGSMONITOR IST zu einer Institution geworden. Was nicht bedeutet, dass er im 15. Jahr seines Erscheinens unumstritten wäre: Seit 2004 gibt die von den Arbeitgebern getragene "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" ihn alljährlich beim Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) Köln in Auftrag. Er ist umfangreich – dieses Jahr inklusive Anhang wieder über 250 Seiten – und er ist datenintensiv: Die 16 Bundesländer werden in ihrer Performance auf 12 sogenannten "Handlungsfeldern" und anhand von fast 100 Einzelindikatoren bewertet, im Rahmen eines, wie das IW Köln selbst schreibt, "ökonomisch geprägten Leitbildes". Dazu gehört auch, dass die Macher ihre Meta-Studie ohne jede Scheu in ein Liga-Ranking münden lassen. Anderswo machen Bildungsforscher das zwar ebenfalls, aber meist indirekt-verschämter und verbunden mit jeder Menge Warnungen, hier bloß nichts überzuinterpretieren.
Genau diese gefährliche und mitunter vereinfachende Entschiedenheit macht den Bildungsmonitor als jährliche Bestandsaufnahme der Folgen bildungspolitischen Handelns brisant. Und nur deshalb regt er so zum Diskutieren an.
Was aber steht nun drin? Vor allem dies: Das Ende des Bildungsaufschwungs, der sich vergangenes Jahr bereits in vielen Indikatoren angedeutet hatte, markiert der diesjährige Bildungsmonitor noch deutlicher. Erstmals gebe es in der Breite der Bundesländer "deutliche Rückschritte", berichtet das IW Köln. Vor allem in den Handlungsfeldern Schulqualität, Bildungsarmut und Integration beobachten die Autoren "eine deutliche Zunahme der Handlungsnotwendigkeiten".
Das Spitzenquartett ist zum Trio geschrumpft
Um es noch plastischer zu machen: Lediglich Berlin und Schleswig-Holstein konnten in der Zusammenschau aller Indikatoren und Handlungsfelder noch eine Steigerung gegenüber dem Vorjahr erreichen. Ausgerechnet Berlin: Die Hauptstadt liegt trotz der Verbesserungen im Bundesländervergleich weiter ziemlich weit hinten, führt als Platz 13 dieSchlussgruppe an, zu der sonst noch Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und – man ahnt es – Bremen auf dem letzten Platz gehören.
Insgesamt besteht die Bildungsmonitor-Liga aus vier Gruppen. Vorn das ebenfalls altbekannte Trio Sachsen, Thüringen und Bayern. Wobei das Trio vor einigen Jahren noch ein Quartett war. Damals gehörte noch Baden-Württemberg dazu. Doch Baden-Württemberg steckt in der Bildungskrise und ist in die Verfolgergruppe abgerutscht. Zu der gehören ansonsten die jetzt bereits als Dauer-Aufsteiger zu bezeichnende Hansestadt Hamburg und das Saarland. Das kleine Bundesland im Westen hat sich übrigens, das mag manchen überraschen, in den vergangenen fünf Jahren sogar stärker verbessert als Hamburg. Saarland habe die Priorität der Bildung in seinem Haushalt stark erhöht und die Betreuungsrelationen verbessert, erklärt Studienautor Axel Plünnecke. "Die soziale Herkunft wirkt sich weniger stark auf die Bildungsergebnisse aus als früher. Vor allem aber konnte das Saarland an den Hochschulen zulegen. Duale Studiengänge wurden ausgebaut und bei der Forschung gibt es Fortschritte."
Fehlt noch das unauffällige Mittelfeld: Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Hessen, Schleswig-Holstein, Sachsen-Anhalt.
Dreiklang der Sorgenthemen
Vor weiteren Details zu den einzelnen Ländern nochmal zurück zum Gesamtblick. Die bundesweit zu beobachtenden Rückschritte in der Schulqualität sind wenig überraschend und schnell erklärt, speisen sich die Bildungsmonitor-Indikatoren an dieser Stelle doch ausschließlich aus den Ergebnissen des IQB-Bildungstrends – und über dessen Entwicklung ist vielfach – auch von mir – berichtet worden. Was wiederum auch den Aufstieg etwa Hamburgs und den Abstieg Baden-Württembergs ein Stückweit erklärt. Die IW-Autoren fordern entsprechend ihrer, siehe oben, ökonomisch geprägten Agenda, "Vergleichsarbeiten, Bildungsstandards und mehr Schulautonomie". Und, welch frommer wie richtiger Wunsch angesichts des schreienden Lehrermangels, "die Versorgung mit gut qualifizierten Lehrkräften". Dass die Länder in eine Personalkrise hineinliefen, sei übrigens schon vor zehn Jahren anhand der Bildungsmonitor-Daten erkennbar gewesen, sagt Axel Plünnecke: "Wir konnten sehen, dass sich die Altersstruktur der Lehrkräfte ungünstig entwickelt und warnten damals, dass in wenigen Jahren der Ersatz an Lehrkräften schwierig wird." Chance verpasst.
Bei den Vergleichsarbeiten und "daran abgeleiteten Maßnahmen" wird Hamburg den anderen Ländern als Vorbild empfohlen. Dann kommt eine entscheidende und womöglich die spannendste Forderung des IW: Unterstützende Ressourcen für die Schulen sollten "stärker über einen Sozialindex differenziert auf die einzelnen Schulen zugeordnet werden". Anders formuliert: Schluss mit der Gießkanne. Mehr für die, die es wirklich brauchen. Ein Vorschlag, den in prominenter Form zuletzt der Münchner Bildungsökonom Ludger Wößmann gemacht hatte.
Wobei insgesamt mehr Geld auch nach Ansicht der Bildungsmonitor-Autoren nötig ist: So sei zwar der vom Bund geplante Rechtsanspruch auf einen Ganztagschulplatz "ein erster wichtiger Schritt", aber komplett unterfinanziert. Statt zwei Milliarden Euro für die gesamte Legislaturperiode sollten jährlich 2,7 Milliarden zusätzlich für Ganztagsschulen ausgegeben werden.
Noch alarmierender als die Probleme bei der Schulqualität und gleichzeitig eng mit ihnen verknüpft ist die wachsende Bildungsarmut. Auch hier stammen die Bildungsmonitor im Wesentlichen aus dem IQB-Bildungstrend und spiegeln die zuletzt wieder zunehmende Zahl der Risikoschüler in den Fächern Deutsch und Mathe und in den Naturwissenschaften wieder. Hinzu kommen die ebenfalls wieder gestiegenen Quoten der Schulabbrecher und von Jugendlichen, die im Berufsvorbereitungssystem feststecken. "Nach Jahren des Rückgangs nimmt der Anteil junger Erwachsener ohne abgeschlossene Berufsausbildung wieder zu", sagt Axel Plünnecke.
Mit der Integration ist der Dreiklang der Sorgenthemen vollständig – und auch hier zeigt sich, wie alle drei Aspekte miteinander zusammenhängen. Unter einer abnehmenden Schulqualität leiden besonders die ohnehin schon unterprivilegierten Schüler, also jene aus bildungsfernen Elternhäusern, was zu einer größeren Bildungsarmut führt. Und bei keiner Gruppe ist der Anteil von Schulabgängern ohne Abschluss so hoch wie bei jungen Menschen mit einem ausländischen Pass. Laut Bildungsmonitor war er zunächst von 2000 bis 2013 kontinuierlich gesunken, hatte sich in diesem Zeitraum von rund 20 auf 10,7 Prozent fast halbiert – um dann innerhalb von drei Jahren auf wieder über 14 Prozent anzusteigen. Ja, das hängt mit dem Geflüchteten zusammen. Und nein, das darf keine Ausrede sein. "Es besorgt uns, dass Fortschritte bei wichtigen Kennziffern zur Integration und Reduzierung von Bildungsarmut ausbleiben und sich Kennzahlen wieder verschlechtern", sagt IW-Forscher Plünnecke. "Da der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund steigt, sind bessere Ergebnisse bei Integration und Bildungsarmut sowohl zur Sicherung der Teilhabechancen wichtig als auch zur langfristigen Fachkräfte- und Wohlstandssicherung."
Das IW Köln fordert deshalb jährlich 3,5 Milliarden Euro zusätzlich für Kitas, Schulen, Berufsvorbereitung, –ausbildung und Hochschulen, um die Integration der Geflüchteten zu verbessern. "Eine stärkere Priorisierung dieser Aufgabe durch die Politik ist wünschenswert", heißt es freundlich-zurückhaltend. Man könnte es auch anders formulieren: Die Politik scheint zusehends ihr Interesse an diesem Nicht-Gewinnnerthema zu verlieren.
Digitalisierung: Deutschlands Schulen laufen hinterher
Ein Gewinner-Thema könnte demgegenüber das Fitmachen der Schulen für das digitale Zeitalter werden. Noch allerdings ist es das nicht. In einem Schwerpunktkapitel des Bildungsmonitors, über das zuerst Spiegel Online berichtete, konstatiert das IW, dass es bundesweit an Technik und Konzepten fehle. Zwar gebe es digitale Vorzeigeschulen, aber auch Lehrer, die jeglichen Einsatz digitaler Medien in ihrem Unterricht scheuten. Im Schnitt müssten sich 11,5 Schüler einen Computer teilen, was gerade mal EU-Durchschnitt ist, nur 6,5 Prozent der deutschen Achtklässler besuchen Schulen, an denen ihnen Tablets zur Verfügung stehen. EU-weit sind es 15,9 Prozent.
Allerdings unterscheide sich die Ausstattung stark von Bundesland zu Bundesland, und wo sie besser sei, betonen die Forscher, wirke sie sich noch längst nicht automatisch positiv aus. "Ohne entsprechende Unterrichtskonzepte" bringe die Technik nicht die "erhoffte Wirkung". Insgesamt folgert das IW, der geplante fünf Milliarden schwere Digitalpakt sei ein "guter erster Schritt", entscheidend für eine Wirkung seien jedoch umfassende eine Lehreraus- und fortbildung zum Einsatz digitaler Medien und zur Vermittlung digitaler Inhalte und Kompetenzen im Unterricht.
Nun nochmal zurück zu ein paar einzelnen Ländern und dem, was sie laut Bildungsmonitor besonders gut machen (oder eben nicht). Hamburg wurde bereits erwähnt. Die Hansestadt wird vor allem für ihre "Input-Effizienz" gelobt, ein Sammelsurium von Indikatoren, die vor allem auf eine nachhaltige Steuerung des Bildungssystems und die Höhe der Investitionen abheben. Sachsen preisen die Autoren neben seinem guten Abschneiden in den IQB-Vergleichstests besonders für seine Förderinfrastruktur (=hoher Anteil an Ganztagsschulen, hoher Bildungsstand der Kitaerzieher) und für die Vermeidung der Bildungsarmut. Thüringen steckt relativ zu Schüler- und Studentenzahl und zum Gesamt-Länderhaushalt besonders viel in seine Bildungseinrichtungen, schwächelt aber bei der Integration. Bayern sei "Spitze" bei der beruflichen Bildung, aber habe "weiterhin Nachholbedarf" beim Ganztagsausbau.
Denn das wird im Bildungsmonitor 2018 ganz deutlich, alle Bundesländer weisen Stärken und eben auch Schwächen auf. Was angesichts besagter fast hundert Indikatoren fast schon trivial ist. So schneidet das Schlusslicht Bremen in Sachen Bildungsarmut und Schulqualität besonders schlecht ab und investiert insgesamt zu wenig Geld ins Bildungssystem. Dafür befindet sich das kleinste Bundesland bundesweit auf Platz eins in Sachen Akademisierung der Bevölkerung und beim Anteil der Absolventen und Wissenschaftler in den MINT-Fächern.
Apropos gemischte Bilanz: Beim diesjährigen Aufsteiger Berlin schlägt wie schon im Vorjahr die starke Forschungsorientierung positiv durch. Der Stadtstaat trage "in hohem Maße" zur Ausbildung des Forschernachwuchses bei – mit der bundesweit zweithöchsten Promotionsquote und Professoren, die bei der Einwerbung von Drittmitteln überdurchschnittlich erfolgreich seien. Auch sind die Betreuungsrelationen an den Kitas und weiterführenden verhältnismäßig gut, das Ganztagsangebot ist im Bundesvergleich reichhaltig. Die Schwächen Berlins liegen leider weiter vor allem im Bereich der Bildungsarmut und der Schulqualität.
Bei aller Skepsis an der IW-Methodik dürfte die Kritiker der von Arbeitgebern finanzierten Studie ein Befund genauso besorgen wie alle anderen: Nicht nur scheint die Phase, in der die Bildungspolitik bundesweit eine besondere Priorität genoss, vorbei zu sein. Noch schlimmer: Die Bremsspuren sind bereits seit Jahren sichtbar. Während das IW noch zwischen 2010 und 2013 "beträchtliche Fortschritte" (pro Jahr 2,6 Punkte beim Gesamtergebnis aller Länder) beobachtete, sind die Zuwächse schon seit 2014 nur noch marginal. In den vergangenen Jahren betrug der Zuwachs ganze 0,2 Punkte pro Jahr. Deutschlands Bildungssystem tritt auf der Stelle.
NACHTRAG:
In einer ersten Reaktion am Mittwochvormittag nannte der SPD-Bildungspolitiker Oliver Kaczmarek die Bildungsmonitor-Ergebnisse "alarmierend". Allerdings würden auch die Grenzen der Studie deutlich: "Ländervergleiche geben keinen hinreichenden Aufschluss auf die Herausforderungen für die Einzelschule, in der Stadt oder auf dem Land, konfrontiert mit besonderen sozialen Herausforderungen oder hohen Bildungsansprüchen", sagte Kaczmarek, der bildungs- und forschungspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion ist. Wer Schulqualität verbessern wolle, müsse die einzelne Schule vor Ort darin stärken, "ihre spezifischen Herausforderungen anzugehen".
Sachsens Kultusministerium jubelte derweil auf Twitter: "#Bildungsmonitor 2018: #Sachsen hat bestes Bildungssystem. Der Freistaat schneidet in den meisten der 12 untersuchten Handlungsfelder sehr gut ab." Michael Kretschmer (CDU), Ministerpräsident im Freistaat, schickte postwendend noch einen Tweet hinterher: "Und wir arbeiten dafür, dass unser Bildungssystem noch besser wird. Wir wollen die beste #Bildung für unsere Kinder und beste Bedingungen für unsere Lehrerinnen und Lehrer." Angesichts der sogar im Vergleich zu anderen Bundesländern überalterten Schulkollegien und eines auch in Sachsen empfindlichen Lehrermangels eine recht vollmundige Ansage.
Die stellvertretende Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion Katja Suding forderte "endlich bundeseinheitliche Bildungsstandards. Bildung darf nicht vom Wohnort abhängen. Der Bund sei in der Pflicht.
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Klaus Blömeke (Mittwoch, 15 August 2018 11:34)
>>In einer ersten Reaktion am Mittwochvormittag nannte der SPD-Bildungspolitiker Oliver Kaczmarek die Bildungsmonitor-Ergebnisse "alarmierend".
Guten Morgen. Wir betreuen den Bildungsmonitor seit Jahren. Die jetzigen Ergebnisse waren seit Jahren absehbar. Jetzt gibt es wieder ein paar Betroffenheitssprüche irgendwelcher Politiker, damit sie damit Verantwortungs- und Problembewusstsein demonstrieren, und danach wird munter weitergepfuscht.