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Zeiterfassung: HRK-Präsident Alt fordert eine "Lex Wissenschaft"

Hochschulen und Wissenschaftsorganisationen reagieren auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs.

Foto: Zoltan Matuska / pixabay - cco.

DIE ANSAGE DES Europäischen Gerichtshofs (EUGH) war eindeutig: Arbeitgeber müssen in der Europäische Union die Arbeitszeiten ihrer Arbeitnehmer komplett erfassen. Bislang ist in Deutschland meist nur die Erfassung von Überstunden vorgeschrieben, doch auch das wird von Unternehmen teilweise sehr lax gehandhabt.

 

Was aberbedeutet das EUGH-Urteil für die Wissenschaft? Zieht an Hochschulen und Forschungseinrichtungen die Stechuhr ein? Nach dem EUGH-Urteil vom Dienstag war es zunächst auffällig still in den Chefetagen der Wissenschaft. Offenbar musste man sich erst sortieren.

 

Inzwischen liegen die ersten Reaktionen vor, teilweise auch nur auf Anfrage. Der stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Andreas Keller sagt, das Urteil sei zu begrüßen und müsse nun in nationales Arbeitsrecht umgesetzt werden. "Es sollte eigentlich selbstverständlich sein", sagt Keller. "Wer an einer Hochschule oder Forschungseinrichtung lehrt oder forscht oder in Verwaltung, Technik und Wissenschaftsmanagement arbeitet, wird für die geleistete Arbeit bezahlt." 

 

Peter-André Alt, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) spricht dagegen von einer "grotesken Regelung" und einem "Rückfall in eine Arbeitsorganisation früherer Zeiten". Das Urteil verkennt die Flexibilität von Arbeitsorten und Arbeitszeiten, die heute Realität sei. "Es ist nicht zeitgemäß, erst recht nicht für die Wissenschaft." Als Präsident der Freien Universität Berlin habe er sich immer gegen Zeiterfassungs-Modelle ausgesprochen, "aus guten Gründen", wie Alt sagt: "In der Verwaltung mag das noch angehen, aber als Wissenschaftler im Labor haben Sie doch keinen Nine-to-Five-Job. Da sind sie auch mal abends da, zwischendurch arbeiten Sie woanders, zu Hause, in Bibliotheken, auf Konferenzen."

 

Alt fordert die Politik auf, Ausnahmen für die Wissenschaft umzusetzen. "Eine Lex Wissenschaft hielte ich für eine gute Idee." Der HRK-Präsident sagt, er wünsche sich hier einen Einsatz der Allianz der Wissenschaftsorganisationen, zu der sich unter anderem die Max-Planck-Gesellschaft, die Helmholtz-Gemeinschaft und auch die HRK zusammengeschlossen haben. 

 

Ein Lex Wissenschaft? Immerhin sagt auch GEW-Vize Keller, seine Gewerkschaft werde die nationale Umsetzung "aktiv begleiten und darauf achten, dass die gerade von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern geschätzte freie Zeiteinteilung weiterhin möglich ist, aber nicht zu unbezahlter Mehrarbeit führt." Grundsätzlich gelte aber: "Es muss auch Schluss sein mit der Praxis, dass auf Teilzeitstellen Vollzeitarbeit erwartet wird."

 

Von Max Planck und Helmholtz gab es zunächst keine Stellungnahme, von der Leibniz-Gemeinschaft hieß lediglich, man müsse die "angekündigte Bundesgesetzgebung abwarten". Der Sprecher der Fraunhofer-Gesellschaft, Janis Eitner, sagte, die Zeiterfassung sei bei großen Einrichtungen wie Fraunhofer klar geregelt – aus Gründen "der Verantwortung gegenüber Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern" und der "Rechenschaftspflicht gegenüber Fördermittelgebern aus Industrie und Politik". Daher habe man bislang keine Notwenigkeit für ein offizielles Statement zum EUGH-Urteil gesehen. "Stark Betroffene wie beispielsweise die kleineren Handwerksbetriebe sowie der Hotel- und Gaststättenverband wären hier sicherlich die Leidgeprüften der Umsetzung."

 

Der Deutsche Hochschulverband, dessen 31.000 Mitglieder zu einem großen Teil Professoren sind, verweist auf den Willen des Gerichtshofs, "auch den Besonderheiten der jeweiligen Tätigkeitsfelder Rechnung tragen. Das eröffnet dem Gesetzgeber Handlungsspielräume". Also ganz im Sinne des von HRK-Präsident Alt geforderten "Lex Wissenschaft"?

 

Auf jeden Fall werde auch der DHV darauf achten, sagt DHV-Pressesprecher Matthias Jaroch, dass die Eigenheiten der Wissenschaft angemessene Berücksichtigung fänden. Im Falle der Professoren sei dies vergleichsweise einfach, weil diese formal keiner Arbeitszeitregelung unterlägen und daher diese Arbeitszeit auch nicht erfasst werden könne. Für die Wissenschaftler "unterhalb der Professur" sei das anders. "Hier werden flexible Regelungen benötigt. Denn Wissenschaft lebt von Freiheit, Kreativität und Eigeninitiative. Festen Arbeitszeiten entzieht sie sich deshalb weitgehend."

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Kommentare: 10
  • #1

    sach_verstand (Freitag, 17 Mai 2019 15:46)

    Vorneweg:
    - Das Urteil bezieht sich primär auf die Pflicht zur Einhaltung und Kontrolle einer elfstündigen Arbeitspause.
    - Der EUGH verlangt keine Nine-to-Five Arbeitszeitblöcke.
    - Flexible Zeiterfassung ist mittels Smartphone technisch gelöst.
    - Selbstausbeutung durch „ausstechen und weiter arbeiten“ wird aber auch kein Zeiterfassungssystem verhindern können.

    „Grotesk“ ist es, wenn die obersten Wissenschaftsvertreter die Erkenntnisse der Wissenschaft ignorieren:
    - Ausreichender und regelmäßiger Schlaf ist sowohl kurzfristig als auch langfristig leistungsfördernd und dient zugleich der Gesundheit. Es werden auch bessere, durchdachtere Entscheidungen getroffen. Wäre das schädlich für den Wissenschaftsbetrieb?
    - Lange tägliche Arbeitszeiten vermindern die Kreativität und erhöhen die Fehleranfälligkeit. Arbeitsplätze mit hoher Eigen- oder Fremdgefährdung (Ärzte, Labore) unterliegen wegen letzterem besonderes hohen Anforderungen. Wäre das schädlich für den Wissenschaftsbetrieb?
    - Hochkonzentriertes Arbeiten ist bis maximal zweieinhalb Stunden möglich. Moderne Unternehmen gewähren deswegen z. B. Programmierern innerhalb der regulären Arbeitszeit sogar extra Zeit zur Regeneration und sind damit erfolgreich. Wäre das schädlich für den Wissenschaftsbetrieb?

    Und zum Schluss: Ein System, dass seinen primären Leistungsträgern (dem wissenschaftlichen Nachwuchs) nur Arbeitsverträge mit halber Wochenarbeitszeit gewährt, volle Wochenarbeitszeit verlangt und zur Erlangung einer Dauerbeschäftigung (Professur mit Beamtenstatus) noch mehr erfordert, wäre in seinen Grundfesten erschüttert, wenn das geändert würde.

    Eine Änderung dies Zustandes wäre fast so revolutionär für den Wissenschaftsbetrieb wie die Zulassung von Frauen zum Studium.

  • #2

    Betriebsrat (Samstag, 18 Mai 2019 13:12)

    Den Ausführungen von sach_verstand ist nichts hinzuzufügen !

  • #3

    Edith Riedel (Sonntag, 19 Mai 2019 10:51)

    Danke für die Zusammenfassung, sach_verstand.
    Nur: "Flexible Zeiterfassung ist mittels Smartphone technisch gelöst" - im öffentlichen Dienst, und gerade an den Universitäten, wird das jedoch nie Einzug halten. Da schreien doch Alle "Datenschutz", und ein Diensthandy für alle Mitarbeiter_innen wird wohl kaum eine Uni rausrücken.

  • #4

    Victor Ehrlich (Sonntag, 19 Mai 2019 22:49)

    Die "Lex Wissenschaft" wird interessanterweise immer dann beschworen, wenn es um die arbeitsrechtliche Schlechterstellung von Wissenschaftlern geht. Diejenigen, die dann immer die potenziellen schrecklichen Zwänge beklagen, sind meistens unkündbare und relativ gut bezahlte akademische Führungskräfte, deren Karrierefortschritt auf den Leistungen der befristet angestellten Mittelbau-Forscher beruht. Wenn es dann aber z. B. um die Frage geht, warum heutzutage nahezu jeder Wissenschaftler im Mittelbau undifferenziert und bei entsprechender Verantwortung oft eher karg nach E13 bezahlt wird, verstummen die von oben ausgestoßenen Rufe nach flexiblen und angemessenen Lösungen sofort.

  • #5

    Forschungsreferent (Montag, 20 Mai 2019 10:46)

    Lex Wissenschaft = Beibehaltung eines Systems der (Selbst-)Ausbeutung im Mittelbau und Teilen der Verwaltung. Eine Lex Wissenschaft verlangen Personen, die es "geschafft" haben. Sie sagen dann immer: Habt euch nicht so, da müsst ihr durch. Ich hab's ja auch geschafft (Die Tellerwäscher-Theorie!).

    Ich finde es herrlich: Die Möglichkeit, de facto Arbeitszeit erst einmal quantitativ abzubilden. Wenn sich die ungezählten Stunden der Mehrarbeit der Wasserträger'innen im Wissenschaftssystem endlich mal potenziell abbilden. Dann wird erst einmal richtig deutlich, wie strukturell unterfinaziert das System ist. Ein Hoch auf die Stechuhr - ob Old School oder digital. Erfassen ist Schritt 1. Der Rest ist Aufgabe der Politik.

  • #6

    Florian Bernstorff (Mittwoch, 22 Mai 2019 09:30)

    In der Qualifikationsphase ist eine der wesentlichen Ursachen für die Selbstausbeutung der Konkurrenzdruck aus der Community. Eine große Zahl an herausragenden Forschungsleistungen wird verlangt, und Berge an Drittmitteln gilt es einzuwerben, möglichst von der DFG. Dieses Problem wird trotz aller Zeiterfassung weiterhin den Sonntag zum regulären Arbeitstag und die Abende und Nächte zur regulären Arbeitszeit des wissenschaftlichen Nachwuchs machen. Man wäre ja schön blöd, wenn man diese Ressource ungenutzt ließe, um sich von anderen abzuheben oder zumindest im Wettbewerb zu bleiben.

  • #7

    Cluny (Montag, 30 September 2019 08:45)

    Universitäten funktionieren nur durch das Prinzip der Selbstausbeutung, sei es bei den wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen oder den befristeten Verwaltungsangestellten. Und das wissen alle Führungskräfte in der Universität, aber warum sollten sie es ändern? Es funktioniert doch... Daher ist die Erfassung der Arbeitszeit überfällig!

  • #8

    Ja_und_Nein (Dienstag, 05 November 2019 13:44)

    Ich kann mich den abgegebenen Kommentaren nur anschließen und finde mich irgendwie überall wieder. Als langjährig angestellter Nichtwissenschaftler an einer großen Universität mit naturwissenschaftlichem Schwerpunkt, kann ich die Einführung einer elektronischen Zeiterfassung nur begrüßen. Im Bereich der Verwaltung wird bereits elektronisch "gestempelt", was sich auf die Arbeitsmoral, Arbeitszeit und das Arbeitsverhalten durchweg positiv ausgewirkt hat. Zur Eigenabsicherung selbsterstellte Stundennachweise auf Vertrauensbasis, die dauernd und ständig Diskussionsgrundlage mit Vorgesetzten und der Personalabteilung hinsichtlich Urlaubsabgeltung für Überstunden waren, gehören hier nun der Vergangenheit an. Anders sieht es jedoch im Bereich der Forschung und Lehre aus. Die Hochschulleitung scheut die Einführung einer elektronischen Zeiterfassung, wie der Teufel das Weihwasser. Von "elektronischer Fußfessel" ist hier die Rede, von Einschrämkung der wissenschaftlichen Freiheit etc. Aber mal im Ernst: die, die sich so vehement dagegen wehren, leiden nicht an einem Mißverhältnis zwischen Bezahlung und geleisteter Arbeit. Es sind die teilweise arbeitstechnisch vollkommen überforderten nichtwissenschaftlichen Verwaltungsangestellten in den Instituten, die Doktoranden und PostDocs (der o.g. "Mittelbau"). Es werden z.B. im wissenschaftlichen Bereich offiziell Stellen mit 2/3 der regulären Arbeitszeit vertraglich (natürlich immer befristet) besetzt, es werden aber mind. die Wochenstunden einer 1/1 Stelle zzgl. Überstunden abverlangt. Klar, selbst Schuld, wer sich darauf einläßt - aber was haben junge Wissenschaftler den für ein andere Chance, als auf diesem Weg die für die Forschung oder freie Wirtschaft so dringend benötigte Reputation zu erlangen. Richtig! Keine! Es wurde schon richtig herausgearbeitet, dass die Politik hier eingreifen und entscheiden muss. Die Hochschulleitungen werden das so gut funktionierende und bewährte System nicht in Frage stellen. Dafür sind die eingeworbenen und einzuwerbenden Drittmittel ein zu verlockender Kuchen, Excellenz-Initiativen, DFG-Förderprogramme, EU-Projekte, sie alle tragen dazu bei, dass Forschung vorangetrieben wird, aber eben zu Lasten der tatsächlichen Protagonisten. Würde man hier bereits von vorne herein festlegen, dass auch Doktoranden mit einer vollen Stelle anzusetzen sind, dass jedes Projekt je nach Umfang ebenfalls eine Aufstockung der Verwaltungskräfte erlaubt, dann wären wir schon einen gehörigen Schritt weiter. Die Bewilligungsbescheide und Verwendungsrichtlinien sehen das nämlich zumeist nicht vor. Überdies würde der Dauerbrenner "falsch und unzureichend ausgefüllte Projektstundennachweise" ein Ende haben und so ,bei Audits nicht selten muniert, entsprechende Rückzahlungen an die Zuwendungsgeber eleminieren.
    Der Fisch fängt bekanntlich am Kopf an zu stinken. Die Hochschulleitung muss das Thema elektronische Zeiterfassung flächendeckend wollen und nicht differenzieren zwischen Verwaltung und Wissenschaft. Ein erster Schritt wäre bereits damit getan, alle nichtwissenschaftlichen Angestellten in den Instituten, an den Lehrstühlen und Dekanaten mit in die Zeiterfassung der Hochschulverwaltung zu integrieren. Dann wäre nämlich hier erstmal Schluß mit der Stundenanarchie, wie sie teilweise von den Professoren aus dem wissenschaftlichen Forschungsbereich auf die mit administrativen Tätigkeiten befassten Kolleginnen und Kollegen 1:1 übertragen wird. Wäre z.B. auch grundsätzlich ein Thema der Gewerkschaften, Personalräte und anderen Interessenverbänden öffentlicher Arbeitgeber.
    Also meinerseits klares Votum für die Einführung einer elektronischen Zeiterfassung, zumal das diesbezüglich derzeitig praktizierte Messen mit zweierlei Maßen zwischen Verwaltung und Wissenschaft an unserer Hochschule im Zuge des Gleichbehandlungsprinzips wohl auf Dauer eher nicht haltbar ist...! Hier sind auch die PR´s gefordert...ahja, aber die "stempeln" ja schon...Sorry...ich vergaß...;-)

  • #9

    Scientist (Montag, 14 Dezember 2020 13:46)

    Alles schön und gut, aber ich stelle mir in Bezug auf die Thematik bei Doktoranden (1/2 Stelle Bezahlung, für 1 Stelle arbeiten) immer wieder die Frage: Woher soll das Geld für die Bezahlung einer ganzen stelle kommen? Die finanzielle Ausstattung der Stellen durch die Länder ist teilweise unterirdisch schlecht und lässt gar keine andere Praxis zu!

  • #10

    Nils (Donnerstag, 18 November 2021 17:24)

    Auch wenn der Beitrag schon etwas älter ist scheint sich an der Situation bisher nichts geändert zu haben.

    Ich möchte da aber auch mal auf den Begriff "Selbstausbeutung" eingehen. Hier verdreht man einfach die Verhältnisse und tut so als wären die Opfer selber schuld an der Misere. Der Konkurrenzdruck entsteht ja erst einmal dadurch dass die Erwartungen der Vorgesetzten entsprechend hoch sind und diese oftmals noch direkt oder indirekt die Karriere der Doktoranden torpedieren können. Von Freiwilligkeit kann da denke ich keine Rede sein - und auch da muss man im Rahmen der Fürsorgepflicht einen Rahmen setzen.

    Wenn ich als privater Arbeitgeber meine Angestellten so stark unter Druck setzen würde dass sie mindestens doppelt so lange arbeiten wie vereinbart würde ich nur noch Zeit im Arbeitsgericht verbringen, wenn nicht sogar vor einem Strafgericht. Und die Ausrede "Woher soll das Geld für die Bezahlung denn kommen?" würde kein Gericht gelten lassen.

    Wer will kann sich mal ausrechnen wie viel bei 6 Jahren an unterschlagenem Gehalt zusammenkommt wenn jemand auf halber Stelle Vollzeit arbeitet. Bei E13 schätze ich das konservativ auf 140.000€ + nochmal 20.000€ an unterschlagenen Arbeitgeberbeiträgen zur Sozialversicherung. Und am Ende ist für diesen Preis der Titel nicht garantiert, viele brechen ja auch schon vorher ab oder erleiden Burnout bis zur Berufsunfähigkeit.