Der neue Charité-Chef Heyo Kroemer über die Gefahren des demografischen Wandels, die Finanzierungsnöte der Hochschulmedizin und Reformen, die bei beidem weiterhelfen könnten.
Seit September Chef der Berliner Universitätsmedizin: Heyo K. Kroemer. Foto: WPF.
Herr Kroemer, Sie und weitere Spitzenmediziner, Universitätspräsidenten und Wissenschaftsexperten haben für die Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) Empfehlungen zur Zukunft der Hochschulmedizin in Deutschland erarbeitet. Fehlte es wirklich an einem weiteren Papier?
Möglicherweise nicht. Wirklich fundamental Neues steht nicht in dem Papier, aber in der Hochschulmedizin müssen wir nach dem Motto verfahren: Steter Tropfen höhlt den Stein. Die Hoffnung ist, dass unsere seit Jahren beständig wiederholten Botschaften endlich bei den Adressaten ankommen. Die verabschiedeten Empfehlungen gefallen mir deshalb gut, weil sie eine in der Summe sehr stringente Zusammenfassung des Notwendigen darstellen.
Wer sind denn Ihre Adressaten, deren Gehör Sie endlich zu finden hoffen?
Natürlich vor allem die Politik, keine Frage. Alles Andere hätte Sie jetzt auch überrascht. Mein Eindruck ist, dass viele immer noch nicht das Ausmaß der Herausforderungen erfasst haben, vor denen wir im Gesundheitswesen stehen. Nehmen wir nur den demographischen Wandel. Der Jahrgang 1960, dem ich angehöre, war noch ein recht geburtenstarker. Wenn man sich im Vergleich den Jahrgang 1975 ansieht, nur 15 Jahre später, sind dort ein Drittel weniger Menschen in Deutschland geboren worden. Sie werden uns massiv fehlen: als Mitarbeiter im Gesundheitswesen, vor allem aber auch als Beitragszahler, um die medizinische Betreuung der dann vielen älteren Menschen abzusichern. Das sind große Herausforderungen.
Aber welche, auf die wir uns lange vorbereiten konnten.
Ja, aber haben wir das? Ich höre, die Krankenkassen erwarten eine stabile Zahl von Beitragszahlern, weil die Menschen in meinem Alter, die in den nächsten fünf oder zehn Jahren in Rente gehen, dank der guten Arbeitsmarktlage durch ebenso viele neue Arbeitnehmer ersetzt würden. Die Beteiligungsquoten am Arbeitsmarkt steigen ja in der Tat immer weiter, auch die Einwanderung hilft uns. Es ist aus meiner Sicht allerdings wenig wahrscheinlich, dass die gut verdienenden Babyboomer durch ähnlich gut verdienende neue Beitragszahler ersetzt werden, die ähnlich hohe Beiträge zahlen. In zehn Jahren wird die demografische Lücke so virulent, dass wir uns fragen müssen, wie wir unser Versorgungssystem aufrechterhalten.
Heyo K. Krömer, 59, ist Pharmakologe und Pharmazeut und seit September Vorstandsvorsitzender der Charité-Universitätsmedizin Berlin. Vorher war er sieben Jahre lang Dekan der Medizinischen Fakultät, Sprecher des Vorstands der Universitätsmedizin Göttingen und verantwortlich für das Vorstandsressort Forschung und Lehre.
Was hat das alles mit den Unikliniken zu tun?
Universitätskliniken werden, wie alle Betriebe im Gesundheitssystem, vom demographischen Wandel massiv betroffen sein und zwar zum einen durch den Fachkräftemangel und zum anderen durch die höhere Leistungsnachfrage seitens der älteren Bevölkerung. Die Universitätskliniken sind Orte der medizinischen Supramaximalversorgung, wie wir das nennen. Orte, an denen Spitzenforschung und die Betreuung von Patienten gleichermaßen geleistet werden. Diese Sonderstellung wird vom derzeitigen Finanzierungssystem nicht abgebildet, das als international einziges System die Unikliniken und die übrigen Krankenhäuser grundsätzlich gleichbehandelt.
Also geht es vor allem um mehr Geld – mal wieder?
Nicht nur, es geht darum, wie die Universitätskliniken auch in Zukunft ihre Funktion im Gesundheitssystem aufrechterhalten können. Ich habe in diesem Zusammenhang eine Grundüberzeugung: Es gibt für komplexe Probleme keine einfachen Lösungen. Neben einer besseren finanziellen Ausstattung oder auch dadurch ermöglicht, müssen wir uns in der Universitätsmedizin das Potenzial der Digitalisierung zunutze machen. Aufgaben, die nicht unbedingt von Menschen an Menschen gemacht werden müssen, sollten durch maschinelle Prozesse ersetzt werden. Die freiwerdenden Ressourcen könnten dann für eine bessere Betreuung der Patientinnen und Patienten verwendet werden. Auch neue Technologien müssen in die Digitalisierungsstrategie Eingang finden. Stellen Sie sich einen 85-Jährigen mit Vorhofflimmern vor. Früher wurde das mit Glück bei der nächsten Routineuntersuchung entdeckt – oder eben auch nicht. Heute misst ein digitales Device plötzlich einen deutlich höheren Puls, stellt anhand des eingebauten GPS fest, dass sich der Uhrenträger nicht bewegt, der Puls also nicht so hochgehen dürfte. Nach ein paar Minuten gibt sie dann Alarm. Das kann ein erheblicher Gewinn für die Patienten sein – und vermeidet Behandlungskosten.
"Forderungen, die man über lange Zeiträume erhebt,
müssen nicht unbedingt an Aktualität verlieren"
Und wo lässt sich in der Uni-Medizin sonst noch Geld sparen?
Wenn Sie sich die aktuellen wirtschaftlichen Ergebnisse in der universitären Medizin ansehen, ist das Sparpotenzial nach über zehn Jahren der fallpauschalierten Vergütung ausgeschöpft. Der immer intensivere Wettbewerb wird vermutlich zu einer noch stärkeren Fokussierung der medizinischen Fakultäten führen und zu stärkeren Kooperationen zwischen den Standorten. Für diesen Prozess der Binnendifferenzierung brauchen die Fakultäten Autonomie und neue Freiräume.
Konkret heißt es in den Empfehlungen: Wegen ihrer besonderen Aufgaben sollten Unikliniken finanziell besser ausgestaltet sein als die Plankrankenhäuser. Und wörtlich: "Dies schließt eine Mitfinanzierung des Bundes an geeigneter Stelle ein." Die Landespolitik spricht vom sogenannten "Systemzuschlag" durch den Bund und holt ihn auch gerade als Forderung wieder raus. Eine ganz alte Kamelle, oder?
Auch Forderungen, die man über lange Zeiträume erhebt, müssen nicht unbedingt an Aktualität verlieren. Wir reagieren auf die Tatsache, dass die alternative Lösung zum Systemzuschlag, die durch eine Vielzahl von Einzelmaßnahmen erreicht werden sollte, mit Ausnahme der Hochschulambulanzen nicht gekommen ist. Viele Länder sind finanziell allein kaum in der Lage, ihren Investitionsverpflichtungen nachzukommen. Es ist somit naheliegend, ein Engagement des Bundes in Erwägung zu ziehen.
Gibt es dafür schon Beispiele?
In Berlin wird ab 2021 das Berliner Institut für Gesundheitsforschung (BIG) als forschende Bundeseinrichtung ein eigenständiger Teil der landesfinanzierten Charité. Damit ist der Bund strukturell an der Charité beteiligt.
Das Berliner Institut für Gesundheitsforschung
als Vorbild für andere Standorte in Deutschland?
Kann dies auch ein Modell für andere Standorte sein?
Das kann ich mir durchaus vorstellen. Nur mithilfe solcher Modelle werden wir es schaffen, deutschlandweit einige Unikliniken zu haben, die wissenschaftlich mit den internationalen Spitzeneinrichtungen mithalten können.
Also BIG für wenige, Systemzuschlag für viele?
Eine bessere Vergütung der klinischen Leitungen aller Uniklinika ist unabdingbar, wenn die Leistungsfähigkeit erhalten bleiben soll. Ob es darüber hinaus eine individuelle Förderung einzelner Standorte für eine intensivierte Forschungsaktivität gibt, ist eine politische Entscheidung.
Glauben Sie, dass es diesmal besser mit der Forderung nach dem Systemzuschlag klappt?
Nein; es könnte aber sein, dass etwa basierend auf Empfehlungen des Sachverständigenrates eine grundsätzliche Neustrukturierung der Vergütung stationärer Versorgung in Deutschland in Gang kommt mit positiven Effekten für die Uni-Medizin.
Die Länder werden jedenfalls an Ihrer Seite stehen. Die Wissenschaftsminister fürchten, dass die Finanzierung der teuren Hochschulmedizin ihnen das Geld für die anderen Fächer raubt. Die Forderung nach Bundesgeld garnieren Sie denn auch in ihrem Papier mit weitreichenden Reformvorschlägen. Wie verkrustet ist die Hochschulmedizin?
Wenn Sie die Entwicklungen etwa in der Lehre der Medizin durch Modellstudiengänge und Ähnliches verfolgen, würde ich die Medizin im Konzert der deutschen Universitäten nicht als verkrustet bezeichnen. Ich bin allerdings als Vorstandsvorsitzender der Charité sicherlich nicht unvoreingenommen bei der Beantwortung ihrer Frage. Aber bewerten Sie doch unsere Bestandaufnahme an den Empfehlungen, die wir gemacht haben.
"Man muss genau hinschauen
beim Department-Modell"
Ich zitiere mal: "Auch in der Hochschulmedizin sollten Hierarchien abgebaut und Lehrstuhl- durch Departmentstrukturen ersetzt werden. Nachwuchs-wissenschaftler müssen die Chance auf frühe Unabhängigkeit, zur eigenständigen Forschung und zur Partizipation an Leitungsaufgaben erhalten. Der wissenschaftliche Fortschritt und die Ausdifferenzierung der Medizin können nicht ohne Auswirkungen auf die Struktur der Universitätsklinika bleiben. Der notwendige Strukturwandel erfordert einen Mentalitätswandel."
Das steht so als struktureller Vorschlag in dem Papier. Sicherlich ist es gut und richtig und meines Erachtens unabdingbar, die Karrierewege einfacher zu gestalten, um für den Nachwuchs attraktiv zu bleiben. Insbesondere garantierte Freiräume für Forschung sind hier wichtig. Daneben bedürfen viele Begriffe einer exakten Ausgestaltung. Nehmen Sie das Beispiel der Departmentstruktur: Viele Leute glauben, das sei eine Organisationsform, in der alle alles mitbestimmen können. Wenn Sie sich das Ursprungsland der Departmentstruktur, die USA, ansehen, werden Sie feststellen: Es geht kaum hierarchischer. Insoweit muss es darum gehen, die Vorteile solcher Modelle auf Deutschland zu übertragen. Es gibt Standorte wie Tübingen, die diesbezüglich erfolgreich sind. Auch an der Charité sind Schritte in diese Richtung unternommen worden.
Distanzieren Sie sich gerade von den Empfehlungen, die Sie selbst mit verabschiedet haben?
Nein. Ich sage nur: Man muss genau hinschauen. In der Charité haben wir im Bereich der Onkologie ein Department-Modell bestehend aus drei gleichberechtigten Chairs aufgebaut, das klappt sehr gut. Man sollte allerdings nicht vergessen, dass es Bereiche in der Medizin gibt, wo klare Hierarchien notwendig sind.
"Die Debatte um den Medizin-Doktor
hat nie aufgehört"
Besonders ausführlich widmen sich Ihre Empfehlungen der Qualifikation junger Mediziner. Sie fordern eine Differenzierung in sogenannte "Medical Scientists", die ihren Schwerpunkt in der biomedizinischen Forschung haben, und "Clinician Scientists", die patientenorientiert forschen. Wollen Sie auch die Debatte um den Medizindoktor neu eröffnen?
Das hat damit nichts zu tun. Bei diesen Vorschlägen geht es darum Qualifikationswege zu beschreiben, die für Wissenschaftler mit medizinischem und nicht-medizinischem Hintergrund gangbar und attraktiv sind. Auch diese Überlegungen dienen der Nachwuchsförderung. Die Debatte um die medizinische Promotion hat nie aufgehört. Die medizinischen Fakultäten machen sich seit Jahren intensiv Gedanken darüber, wie die Qualität in die Promotion verbessert werden kann. Dazu sind in den letzten Jahren viele Neuerungen eingeführt worden, wie etwa Promotionskomitees. In der Folge werden an vielen Fakultäten deutlich weniger angehende Ärzte promoviert als früher. Ein offener Punkt ist die Grundstruktur. Die Hochschulrektorenkonferenz hatte gefordert, dass die Promotion, wie in allen anderen Fächern, erst nach Abschluss des Studiums erfolgen sollte. Das erachten die medizinischen Fakultäten als schwierig, weil wissenschaftliche Tätigkeit häufig nicht für die Weiterbildung zum Facharzt angerechnet wird.
Warum wird nicht anders vorgegangen? Um die von vielen Experten geforderte Unterteilung in einen anwendungsnahen Medical Doctor im Studium und einen forschungsnahen, sehr viel anspruchsvolleren Ph.D. zu verhindern, weil letzteren nur sehr wenig machen würden – was wiederum den Medizindoktor entwerten könnte?
Es gibt viele mögliche Varianten, die denkbar sind. In der medizinischen Fakultät in Greifswald hatten wir eine Möglichkeit entwickelt, das Medizinstudium zwei Jahre zu unterbrechen, um in der Zeit einen Dr. rer. nat. zu erwerben. Konventionelle Medical Doctor-/ PhD-Programme, wie wir sie aus den USA und anderen Ländern kennen, sind in Deutschland wie oben beschrieben schwierig – schon aus einem einfachen Grund: Die jungen Leute werden dann zwei oder drei Jahre später Facharzt, haben also finanzielle Einbußen, die schwierig sind in der Phase der Familiengründung. Wenn man da etwas ändern würde, wenn sich die Forschungszeit auf den Facharzt anrechnen ließe, dann sähe die Sache anders aus. Andere Länder machen uns vor, wie es geht.
Welche Länder meinen Sie?
Die Niederlande zum Beispiel haben gestufte Medizin-Studiengänge. Das bedeutet nicht, dass dort Patienten von Bachelor-Ärzten behandelt werden, aber Sie können unter Umständen ein nichtmedizinisches Bachelorstudium absolvieren, um dann über ein verlängertes, spezielles Master-Aufbaustudium Arzt zu werden. Die niederländischen Unikliniken rekrutieren inzwischen einen Teil ihrer forschenden Ärzte über diesen Weg.
"Die Verbindung von Wissenschaft und wirtschaftlichem Betrieb ist einmalig. Ich kenne keine Ingenieurfakultät,
die ihre eigene Autofabrik betreibt"
Medizinische Dissertationen und Habilitationen geraten überdurchschnittlich häufig unter Plagiatsverdacht. Am Heidelberger Universitätsklinikum gab es jüngst einen Skandal um einen zu Unrecht hochgejazzten Krebstest, der renommierte Hirnforscher Niels Birbaumer wurde jüngst von der DFG hart wegen "wissenschaftlichen Fehlverhaltens" bestraft, gegen den inzwischen entlassenen Klinikleiter des Münchner Max-Planck-Instituts für Psychiatrie ermittelt seit Jahren die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts auf Abrechnungsbetrugs. Was sagt das über das System Medizin und speziell die Hochschulmedizin aus? Ist die Medizin anders?
Die Menschen die in der Universitätsmedizin arbeiten, sind genauso wie in allen anderen Organisationen, da gibt es keine Unterschiede. Was es tatsächlich nur in der Medizin gibt, ist die einzigartige Verbindung von Wissenschaft und einem großen wirtschaftlichen Betrieb, dem Klinikum. Ich kenne keine Ingenieurfakultät, die ihre eigene Autofabrik betreibt. Durch die unzureichende Finanzierung der universitären Leistungen in der Krankenversorgung ist ein ganz erheblicher wirtschaftlicher Druck aufgebaut worden, den es in anderen Bereichen der Universitäten in dieser Form nicht gibt. Damit sind wir wieder am Anfang unseres Gespräches angelangt.
Nur Druck oder auch Versuchung? Die Budgets der Unimedizin sind enorm, die Gehälter zum Teil ebenfalls. Weckt das nicht bei manchen Eitelkeit und, gepaart mit den steilen Hierachien, einen immer größeren Machthunger?
Zunächst arbeiten in der Universitätsmedizin in Deutschland insgesamt 190.000 Menschen jeden Tag sehr hart zum Wohl der Patientinnen und Patienten. Die Reduktion dieser Leistung auf die Kombination von Geld und Eitelkeit ist mir deutlich zu pauschal. Auch in anderen Bereichen, etwa Großforschungseinrichtungen, werden sehr hohe Budgets bewegt. Die Hierarchien etwa in Ministerien oder in der Wirtschaft sind meines Erachtens wesentlich steiler. Wir sollten aber unseren eigenen Organisationsstrukturen immer kritisch und veränderungsbereit gegenüberstehen. Dafür gibt es, nach meiner Wahrnehmung insbesondere unter den jüngeren Klinikdirektoren, eine hohe Bereitschaft.
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Victor Ehrlich (Samstag, 02 November 2019 22:00)
Während bei naturwissenschaftlichen Doktoranden schlecht bezahlte Lehrjahre auf dem Weg zur wissenschaftlichen Selbstständigkeit als völlig normal angesehen werden, zeigt Heyo Kroemer erstaunlich viel Verständnis für die Nebenbeidissertationen seiner ärztlichen Kollegen. Die ganz große Pointe aber ist, dass die mies vergüteten naturwissenschaftlichen Doktoranden oft mehrere Jahre an deutschen Unikliniken arbeiten, während die Medizinstudenten in einem Semester plus zweimal Semesterferien durchs Labor huschen. Nach erfolgreicher Promotion dürfen die Naturwissenschaftler dann an der Uniklinik für E13 forschen, während die weniger wissenschaftlich qualifizierten Ärzte einen Arbeitsplatz weiter an derselben Laborbank mit Ä1 deutlich mehr Salär am Monatsende in der Tasche haben.