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"Bewusste Provokation!" –"Nein, eine einseitige Debatte!"

Seit der "Bayreuther Erklärung" streiten die Unikanzler mit Gewerkschaften und Wissenschaftlernetzwerken über Befristungsquoten und die Verantwortung der Hochschulen. Jetzt haben sich Kanzlersprecher und GEW-Vize erstmals direkt unterhalten. Ein Streitgespräch kurz vor der Mitgliederversammlung der Rektoren.

Dieter Kaufmann und Andreas Keller (von links). Fotos: Elvira Eberhardt/Universität Ulm / privat (von links).

HERR KAUFMANN, DIE Unikanzler haben mit ihrer "Bayreuther Erklärung zu befristeten Beschäftigungsverhältnissen" eine Protestwelle ausgelöst. Sie lese sich wie eine "Bankrotterklärung des deutschen Wissenschaftsmanagements", die Kanzler rechtfertigten den "Befristungswahnsinn in der deutschen Wissenschaft", so tönte es aus Doktorandenverbänden, Mittelbauinitiativen und Wissenschaftsnetzwerken. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) befand: "Die Kanzlerinnen und Kanzler haben die Zeichen der Zeit nicht erkannt." Als Bundessprecher der Kanzler*innenvereinigung hielten Sie ein paar Tage später in der Süddeutschen Zeitung dagegen: "Unsere Erklärung wird von vielen falsch verstanden." Wo genau?

 

Kaufmann: Die Reaktionen in den sozialen Netzwerken und anderswo beziehen sich zum Teil auf Aussagen, die gar nicht in der Bayreuther Erklärung stehen. Vor allem haben wir an keiner Stelle gefordert, dass die Befristungsmöglichkeiten ausgeweitet werden sollen. Wir hatten aber das Gefühl, wir müssen dringend einmal deutlich machen, weshalb Universitäten überhaupt auf Befristungen angewiesen sind und warum gerade im wissenschaftlichen Dienst der Anteil der Befristungen relativ hoch ist. Es ist ja nicht so, dass wir gern befristen. Aber die tatsächlichen Gründe, warum wir gar nicht anders handeln können, werden in der aktuell so engagierten Debatte über Befristung und Entfristung völlig ausgeblendet.


Dieter Kaufmann hat Betriebswirtschaft studiert und ist seit 2005 Kanzler und hauptamtliches Vorstandsmitglied der Universität Ulm. Seit 2008 fungiert er auch als Vorstandsvorsitzender des Zentrums für Wissenschaftsmanagement in Speyer. 2015 wurde er Bundessprecher der Vereinigung der Kanzlerinnen und Kanzler der deutschen Universitäten. 

Andreas Keller hat Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft und Soziologie studiert und ist seit 2007 Mitglied des Geschäftsführenden Vorstands und Leiter des Vorstandsbereichs Hochschule und Forschung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). 2013 wurde er außerdem stellvertretender Vorsitzender der GEW. Er ist Mitglied mehrerer Kuratorien und Hochschulräte.



Herr Keller, die eben von mir zitierte GEW-Kritik, die Bayreuther Erklärung sei "anachronistisch", stammte von Ihnen. Haben Sie Herrn Kaufmann und seine Kollegen schlicht missverstanden?

 

Keller: Sicher nicht. In der Bayreuther Erklärung steht wörtlich drin, dass die Befristungsmöglichkeiten "erhalten und entwickelt" werden sollen. Wir können uns jetzt natürlich über Semantik streiten. Aber allgemein versteht man unter "Entwicklung", dass etwas weiterentwickelt, ausgebaut werden soll. Doch selbst wenn das anders gemeint gewesen sein sollte: Ausgangspunkt ist, dass wir im Mittelbau eine Befristungsquote von 90 Prozent haben und die Zeitverträge überwiegend eine Laufzeit von unter einem Jahr aufweisen. Bund, Länder und sogar die Hochschulrektorenkonferenz haben mittlerweile anerkannt, dass die Befristungen aus dem Ruder gelaufen sind und dringender Korrekturbedarf besteht. Wenn die Kanzlerinnen und Kanzler in diesen sich abzeichnenden hochschulpolitischen Konsens hinein ihre Erklärung abgeben und dann von "Erhalt und Entwicklung" sprechen, ist das eine bewusste Provokation.

 

"Das ist eine
bewusste Provokation."

 

Kaufmann: Einen solchen Vorwurf weise ich von mir. Ich halte es für eine einseitige Debatte, wenn Gewerkschaften und Teile der Politik uns kritisieren und uns zu weitreichenden Änderungen auffordern, aber dabei gar nicht auf die Rahmenbedingungen eingehen, unter denen die Universitäten agieren müssen. Wer verlangt, dass wir den Anteil der Befristungen merklich zurückfahren, soll bitte auch sagen, wie das gehen soll, wenn mehr als 50 Prozent unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im wissenschaftlichen Dienst über Drittmittelprojekte finanziert werden. Das ist ja nicht so, weil uns diese Form der Finanzierung besonders viel Spaß macht, sondern weil wir von der Politik durch die föderale Finanzierungslogik in einen Wettbewerb um Drittmittel hineingetrieben worden sind.

 

Mehr als 50 Prozent sind aber nicht 90 Prozent, Herr Kaufmann.

 

Kaufmann: Moment. Es kommt noch ein zweiter Aspekt hinzu. Auch wer heute an Universitäten promoviert, erhält in der Regel einen befristeten Arbeitsvertrag, und das halte ich für richtig so, die jungen Leute befinden sich in einer Qualifizierungsphase. Wer das ändern will, fordert ernsthaft die Wiedereinführung von Stipendien, über die wir Promotionen früher abgewickelt haben. Das müssen wir dann ehrlich so sagen. Ich will das jedenfalls nicht, weil wir dann erst recht wieder prekäre Biografien schaffen würden.

 

Herr Keller, hauen Sie auf den falschen ein? Müssten eigentlich die Wissenschaftsminister der Länder hier am Tisch sitzen?

 

Keller: Natürlich sind wir jederzeit gern zum Schulterschluss mit den Hochschulen bereit, wenn es darum geht, ihre bessere Finanzierung und eine Verschiebung zugunsten der Grundmittel zu fordern. Und natürlich hat Herr Kaufmann an der Stelle Recht: Bund und Länder haben über viele Jahre hinweg viel Geld über befristete Pakte in die Wissenschaft gepumpt, das hat zu einer großen Unsicherheit an den Hochschulen geführt. Aber, und das ist der entscheidende Punkt, genau das hat die Politik doch zuletzt eingesehen und deshalb den "Zukunftsvertrag Studium und Lehre stärken" beschlossen. Der sieht vor, dass die Länder und damit die Hochschulen mehr dauerhaftes Geld bekommen werden anstelle befristeter Pakte. Was Bund und Länder im Gegenzug explizit von den Hochschulen verlangen: dass sie mehr unbefristete Beschäftigungsverhältnisse schaffen. Deshalb ist es ja so unverständlich, dass die Kanzlerinnen und Kanzler mit ihrer Bayreuther Erklärung deutlich machen, dass sie genau diese politische Ansage nicht umzusetzen gedenken.

 

Was, glauben Sie, ist der Grund dafür?

 

Keller: Das kann ich Ihnen nicht sagen, aber was ich weiß: Die Hochschulen verfügen trotz aller begrenzten Mittel heute über einen Grad der Autonomie, der ihnen die Möglichkeit und auch die Verantwortung gibt, vernünftig mit den Befristungsmöglichkeiten umzugehen. Das gilt in besonderem Maße für die Kanzlerinnen und Kanzler, die quasi die Personalchefs der Hochschulen sind. Es liegt an ihnen, eine aktive Personalpolitik und eine vorausschauende Personalentwicklung zu betreiben. Und bei allem Verständnis für die Zwänge, die sich dem hohen Drittmittelanteil ergeben: Natürlich lässt sich unter den gegebenen Bedingungen einiges tun. Die Kanzlerinnen und Kanzler könnten zum Beispiel einen Überbrückungsfonds aufbauen, der einspringt, wenn ein Drittmittelprojekt beendet ist und ein neues, in das eine Mitarbeiter oder ein Mitarbeiter wechseln könnte, noch nicht begonnen hat. Das einzige, was die Kanzlerinnen und Kanzler dafür bräuchten, ist Zuversicht, dass eine Universität, die heute viele Drittmittel einwirbt, auch in fünf Jahren noch Drittmittel haben wird.

 

"Ihre Argumentation ist doch
arg theoretisch, Herr Keller."

 

Kaufmann: Herr Keller, ich kann Ihre Argumentationsschiene ja nachvollziehen. Aber sie ist doch arg theoretisch. Die Realität an den Universitäten und Hochschulen ist eine andere. Nehmen wir den Zukunftsvertrag: Den haben Bund und Länder zwar unterschrieben, aber die Detailregelungen stehen noch aus. Die Erfahrung lehrt mich, dass die Länder nicht in allen Fällen die Mittel eins zu eins an die Hochschulen weitergeben, die sie vom Bund bekommen. Das war beim Hochschulbau so, für den der Bund den Ländern dauerhaft mehr Steuermittel zugestanden hat, und genauso beim Bafög, das der Bund seit einigen Jahren allein zahlt. Von dem Geld, was die Länder mehr bekamen, ist bei uns immer irgendwas angekommen, aber meist nur ein Teil und wenig davon direkt in der Grundfinanzierung sondern eher in Projektfinanzierungen. Vielleicht, hoffentlich, läuft es beim Zukunftsvertrag anders, aber bis dahin ist es zu einfach, auf politischer Ebene über mehr Dauerstellen als Resultat von mehr Dauerfinanzierung zu reden, solange von dieser noch nichts bei uns angekommen ist.

 

Und wie finden Sie die Idee mit dem Überbrückungsfonds, Herr Kaufmann?

 

Kaufmann: Das würde so funktionieren, wenn wir Tische oder Bänke produzierten und mit einem solchen Fonds schlechte Auftragslagen zwischendurch überbrücken würden. Doch als Universitäten haben wir die Aufgabe, dynamisch auf technologische und wissenschaftliche Entwicklungen zu reagieren. Das heißt: Unsere Produkte ändern sich ständig und damit immer wieder auch die Profile der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die wir brauchen. Heute ist ein bestimmtes Thema in der Forschung relevant und politisch en vogue, und dafür fließen die Fördergelder. Morgen vielleicht schon nicht mehr. Wenn wir heute in Ulm die Batterieforschung ausbauen, weil sie hochaktuell ist, bedeutet das im Umkehrschluss, dass wir vielleicht weniger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in anderen Disziplinen beispielsweise der Medizin oder den Wirtschaftswissenschaften finanziert bekommen. Und morgen kann das wieder ganz anders sein.

 

Stimmen Sie eigentlich den Zahlen, die Herr Keller genannt hat zu? Eine Befristungsquote von 90 Prozent bei den wissenschaftlichen Mitarbeitern und Laufzeiten von unter einem Jahr bei der Mehrzahl der Arbeitsverträge?

 

Kaufmann: Das sind Zahlen, die zum Teil schon viele Jahre alt sind. Dazwischen lag die letzte Novelle des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes, und ob und was dieses gebracht hat, werden wir nach dessen Evaluation erfahren, die demnächst anlaufen soll. Genau auf diese Novelle haben wir uns übrigens in unserer Bayreuther Erklärung bezogen, als wir von einer "Entwicklung der Befristungsmöglichkeiten" gesprochen haben. Die Gesetzesreform hat überall in den Universitäten ein Umdenken eingeleitet, wir wissen, dass wir sehr sorgsam mit dem Thema Qualifizierung umgehen und klare Regeln für Arbeitsverhältnisse definieren müssen, damit die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wissen, worauf sie sich einlassen. An dieser Entwicklung arbeiten wir.

 

Wo läge Ihres Erachtens denn eine akzeptable Befristungsquote, Herr Kaufmann?

 

Kaufmann: Wie ich sagte: Das hängt vom Anteil der Drittmittel ab. Und in jedem Fall haben wir daneben rund 40 Prozent der Beschäftigten im wissenschaftlichen Dienst, die sich in einer Qualifizierungsphase Promotion befinden.

 

"Wenn man die Aufgaben der Universität so verkürzt, braucht man eigentlich keine Universitäten mehr."

 

Herr Keller, Sie haben gesagt: "Nicht einmal die GEW ist der Auffassung, dass wir 100 Prozent Dauerstellen im akademischen Mittelbau brauchen." Was ist Ihres Erachtens die richtige Quote?

 

Keller: 90 Prozent sind auf jeden Fall zu viel, viel zu viel. Auch ich werde Ihnen jetzt keine feste Zahl nennen, aber die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen, zwischen null und 90 Prozent. Und es ist Aufgabe der Hochschulen, eine Quote zu ermitteln, die zu ihnen und ihrem künftigen Bedarf passt. Die Frage muss doch lauten: Wie viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf Dauerstellen brauche ich in fünf oder zehn Jahren, und wie viele junge Leute muss ich dafür heute qualifizieren. Diesen angenommenen Bedarf müssen die Hochschulen in ihren Gremien diskutieren, unter Beteiligung aller Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die heute an den Hochschulen arbeiten. Das ist übrigens der Grundansatz des von der GEW verabschiedeten Herrschinger Kodex "Gute Arbeit in der Wissenschaft", dass die Hochschulen sich zu solch einer Personalplanung verpflichten.

 

Können Sie es noch ein wenig konkreter machen? In welchen Fällen sind Befristungen aus Sicht der GEW in Ordnung?

 

Keller: Wir haben mit dem Templiner Manifest einen Slogan in die Welt gesetzt, der fast zu einem geflügelten Wort geworden ist: Dauerstellen für Daueraufgaben! Und das ist eigentlich auch das Prinzip, das die Novelle des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes bestimmt hat: Befristungen sind seit 2016 nur noch zulässig, wenn sie drittmittelfinanziert sind oder der Qualifizierung. Nur dass es dort nicht konsequent zu Ende gedacht worden ist, sondern vage und unbestimmt blieb. Im Umkehrschluss heißt das: Wenn keine Daueraufgaben vorliegen, kann man über Befristungen reden.

 

Bei Drittmitteln?

 

Keller: Ja – allerdings mit den von mir beschriebenen Einschränkungen. Die Hochschulen haben über Fonds und ähnliche Maßnahmen viel mehr Gestaltungsspielraum, als sie zumeist behaupten.

 

Bei Qualifizierungsstellen?

 

Keller: Vorsicht. Da muss man ganz genau hinschauen. Ich halte es für völlig übertrieben, dass die Kanzlerinnen und Kanzler in ihrer Bayreuther Erklärung sagen, die Universitäten seien insgesamt ein Qualifizierungssystem. Soweit sie Studierende ausbilden, sind sie das natürlich. Aber um Studierende auszubilden, braucht man bereits qualifizierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die unter vernünftigen Bedingungen arbeiten, die sich hochschuldidaktisch weiterbilden, die forschungsbasiert lehren können.

 

Kaufmann: Wenn man die Aufgaben der Universitäten als Qualifizierungssystem so verkürzt und sagt, sie seien nur dafür da, um Studierende auszubilden, dann würde ich sagen: Dann brauchen wir eigentlich gar keine Universitäten mehr, dann reichen Fachhochschulen.

 

"Wenn die Promotion abgeschlossen ist,
muss sich die Uni entscheiden."

 

Keller: Selbstverständlich reicht die Qualifizierung über das Studium hinaus, aus Sicht der GEW umfasst sie auch die Promotion. Und wir haben für Doktorandinnen und Doktoranden nie Dauerstellen gefordert. Der eigentliche, wahrscheinlich entscheidende Konflikt zwischen der GEW und den Kanzlerinnen und Kanzlern liegt woanders. Wir sagen: Wenn die Promotion abgeschlossen ist, muss sich die Uni entscheiden. Will sie die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weiter beschäftigen, muss sie ihnen eine Perspektive bieten. Das kann ein Dauervertrag sein. Oder der Einstieg in einen Tenure Track, der den jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verspricht: Ihr könnt im System bleiben, wenn ihr bestimme Leistungen erbringt, die vorher definiert worden sind.

 

Kaufmann: Aber die Qualifizierung endet doch nicht nach der Promotion! Universitäten haben die Aufgabe, Forschung und Lehre zusammenzufügen. Wenn Sie heute jemanden auf eine Professur berufen, dann muss er den Nachweis führen, dass er in der Lage ist, wissenschaftlich zu arbeiten. Meist tut er das anhand einer Liste seiner wissenschaftlichen Publikationen und der Forschungsprojekte, an der er beteiligt war. Dann muss er belegen, dass er in der Lage ist, Lehrveranstaltungen verschiedenster Art abzuhalten, und tut das anhand der bereits geleisteten Lehre. Beides, Forschung und Lehre, sind Daueraufgaben der Universitäten, aber im Falle des wissenschaftlichen Mitarbeiterin und bzw. Mitarbeiters besteht in der Ausübung der Aufgaben auch eine wesentliche Form der Qualifizierung nach der Promotion. Die ist doch nicht vorbei an dem Tag, an dem sie Ihre Promotionsurkunde in der Hand halten.

 

Keller: Nichts gegen lebenslanges Lernen. Ein beständiges Fort- und Weiterbilden wird auch von Professorinnen und Professoren erwartet, von Beschäftigten in der Industrie, im öffentlichen Dienst. Nur würde dort niemand auf die Idee kommen, alle, die sich weiterqualifizieren wollen, dafür auf eine befristete Stelle zu setzen. Im Kern liegt hier auch das Problem der Novelle des Wissenschaftszeitvertragsgesetz: Es verzichtet auf eine Definition von Qualifizierung und eröffnet den von den Hochschulen reichlich genutzten Interpretationsspielraum. Nach der Auffassung von Arbeitsgerichten definiert sich Qualifizierung aber dadurch, dass sie strukturiert ist und zu einem vorher festgelegten Ziel führt, dessen Erreichung mit einem Zertifikat bescheinigt wird, etwa den Doktorgrad. Wenn Sie, Herr Kaufmann, nun der Meinung sind, dass jemand, nur weil sie oder eine Lehrveranstaltung abhält oder einen Drittmittelantrag schreibt, etwas dazu lerne, dann stimmt das irgendwie, weil man bei fast jeder Tätigkeit immer etwas dazulernt. Aber das Qualifizierung zu nennen, wäre beliebig und unredlich.

 

Inwiefern unredlich? Die Leute bekommen doch womöglich eine Habilitationsurkunde dafür.

 

Keller: Spätestens nach der Promotion kommt der Zeitpunkt, ab dem die Wissenschaft für nichts mehr qualifiziert als für die Wissenschaft selbst. Die Chemie- oder Metallindustrie braucht jedenfalls keine habilitierten Ingenieurinnen und Ingenieure. Wenn man die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler trotzdem ohne klare Perspektive weiter beschäftigt und sie dann mit Mitte 40 auf die Straße setzt, ist das nicht nur menschlich tragisch, sondern auch eine Ressourcenverschwendung aus Sicht der Universität. Sie hat viel in Menschen investiert, die sie nicht weiter einsetzen will.

 

"Es ist zu einfach, so zu tun, als würden
wir nur für uns selbst qualifizieren."

 

Kaufmann: An der Stelle haben wir tatsächlich unterschiedliche Positionen. Natürlich sollte eine Befristung nach der Promotion nicht der Normalfall sein, aber es gibt auch die Situation, dass Menschen noch nicht ihren festen Platz im Wissenschaftssystem gefunden haben, sich aber trotzdem weiterentwickeln wollen. Weil sie sich in bestimmten Forschungsfeldern qualifizieren wollen, um sich später an einer außeruniversitären Wissenschaftseinrichtung zu bewerben, weil sie Professuren an anderen Universitäten anstreben oder in die Forschungsabteilung eines Unternehmens wollen. Es ist zu einfach, so zu tun, als würden wir nur für uns selbst qualifizieren. Dann müssten wir tatsächlich nur die eine Person qualifizieren, die wir in zehn Jahren auf eine Professur setzen wollen.

 

Gehen den Universitäten im Moment die besten Leute durch die Lappen, Herr Keller?

 

Keller: Auf jeden Fall. Die Universitäten sägen an dem Ast, auf dem sie sitzen. Indem sie die Leute nach dem Hire-und-Fire-Prinzip ständig auswechseln, unterminieren sie die Kontinuität und damit die Qualität von Forschung und Lehre. Und gerade in den MINT-Fächern können sie mit befristeten Stellen, noch dazu in Teilzeit, wenig ausrichten, wenn die jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler doch wissen: In der Industrie oder im Ausland verdienen sie nicht nur mehr, sondern sie erhalten dort auch die nötige Sicherheit, um zum Beispiel eine Familie zu gründen. Für viele Frauen und Männer um die 30 ist das nun mal ein ganz wichtiges Thema. Wir reden von der Attraktivität des Arbeitsplatzes Wissenschaft, wo die Arbeitgeber, also die Universitäten, und wir als Gewerkschaften eigentlich an einem Strang ziehen müssten.

 

Kaufmann: Na ja, da kommt es aber schon sehr auf die Disziplin an. In der Informatik haben wir Riesenprobleme, das stimmt, da bleiben die wenigsten bis zur Promotion. Aber in der Chemie ist es umgekehrt fast Standard, dass Sie für einen Job in der Industrie die Promotion benötigen, dafür akzeptieren die jungen Leute auch die befristeten Doktorandenstellen. Und was die Gehälter angeht, können wir in vielen Bereichen sicher nicht mit der Industrie mithalten, dafür aber sind die Universitäten Arbeitgeber, wo normalerweise nicht von heute auf morgen ganze Produktionsbereiche geschlossen oder ins Ausland verlagert werden. Ich bin ohnehin überzeugt: Die qualifiziertesten Leute verlieren wir nicht, weil sie in die Industrie gehen, sondern weil sie als Professoren an andere Universitäten berufen werden. Da können wir wegen des Hausberufungsverbots nicht gegenhalten. Das ist für uns immer ein großer Verlust!

 

Keller: Einspruch. Genau an der Stelle müssten Sie die Leute nicht verlieren. Das Hausberufungsverbot gibt es zwar, das ist ein Stein des Anstoßes seit vielen Jahren, aber es kann über den Tenure Track umgangen werden, und den erlaubt meines Wissens auch das baden-württembergische Hochschulgesetz.

 

Kaufmann: Ja, der ist möglich. Aber alles hat zwei Seiten. Dank des Hausberufungsverbots können wir uns umgekehrt auch die qualifizierten Leute aus den anderen Universitäten holen, so ist das System halt angelegt.

 

Keller: Ganz so ist es ja nun nicht. Nicht alle Postdocs, die eine Universität verlassen, werden woanders berufen. Das mag an der Universität Ulm so sein, dass Sie besonders erfolgreiche Postdocs haben. Aber insgesamt haben wir im Wissenschaftssystem einen Flaschenhals: Es werden sehr viele junge Leute in eine Postdoc-Laufbahn geholt, besonders seit wir die Exzellenzinitiative bzw. -strategie haben, und für sehr viele von ihnen gibt es danach eben keine Zukunft in der Wissenschaft. So viele Professorenstellen haben wir nämlich gar nicht! Diesen Flaschenhals werden wir nur beseitigt bekommen durch mehr Tenure-Track-Stellen zum einen und durch mehr Dauerstellen im Mittelbau zum anderen, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern neben der Professur neue Karriereoptionen eröffnen.

 

"Eine Dauerstelle heißt ja nicht, dass man sich
in einer Leibeigenschaft bindet."

 

Der Mittelbau, den es in den 70er und 80er Jahren gab, mit tausenden dauerhaft beschäftigten akademischen Räten, existiert kaum noch. Sollte der echt wiederbelebt werden, Herr Kaufmann?

 

Kaufmann: Zunächst, das war eine völlig andere Zeit. Ich sehe das pragmatisch. Wenn die Länder bereit wären, mehr Geld und Beamtenstellen für akademische Räte und Oberräte in die Universitäten zu geben – wäre die Diskussion eine andere. Die Realität in Baden-Württemberg ist aber, dass die Universitäten heute 30 Prozent weniger Grundfinanzierung pro Studierendenkopf haben als vor 15 Jahren. Da kann man sich leicht ausrechnen, dass das nicht mit der Einrichtung zusätzlicher Dauerstellen zusammenpasst. Solange die Finanzierung ist, wie sie ist, würden wir mit jeder wissenschaftlichen Mitarbeiterin und jedem wissenschaftlichen Mitarbeiter, die wir heute entfristen, eine Qualifizierungsstelle für die nächste Studierendengeneration dichtmachen. Als Gewerkschafter mag man vielleicht der Meinung sein, das sei gar nicht so schlimm, weil die Universitäten ohnehin schlechte Arbeitgeber seien. Aber ich bin der Überzeugung, dass die jungen Leute von morgen dasselbe Anrecht haben, sich wissenschaftlich zu qualifizieren, wie die gegenwärtig im System Befindlichen.

 

Keller: Eine Dauerstelle heißt ja nicht, dass man sich in einer Leibeigenschaft bindet. Die meisten Professorinnen und Professoren sind Lebenszeitbeamte und trotzdem wechseln viele von ihnen die Uni - freiwillig. Ein akademischer Mittelbauer aber soll, nur weil er eine Dauerstelle hat, plötzlich keinerlei Bestrebungen mehr haben, sich weiterzuentwickeln oder zu verändern? Das finde ich nicht plausibel. Außerdem sagt keiner, dass auf einen Schlag alle Dauerstellen besetzt werden sollten, wie das vielleicht in den 70er Jahren gemacht wurde, und dann ist nach zwei Jahren alles dicht. 

 

Wir brauchen ja eine ausgewogene Altersstruktur, und vor allem brauchen wir Universitäten, die eine aktive Personalpolitik betreiben und einen Ausgleich finden zwischen befristeten und unbefristeten Beschäftigungsverhältnissen, zwischen der heutigen und der nächsten Generation von Doktorandinnen und Doktoranden. Mit einer Befristungsquote von 90 Prozent bekommen sie so einen Ausgleich aber nie hin.

 

Brauchen die Kanzler einfach mehr Mut, Herr Keller?

 

Keller: Auf der einen Seite waren sie ja gerade äußerst mutig, indem sie sich mit ihrer Bayreuther Erklärung gegen den Trend zu mehr Dauerstellen gestemmt haben. Auf der anderen Seite würde ich den Kanzlerinnen und Kanzlern schon wünschen, dass sie sich trauen, mit den begrenzten und noch dazu oft befristeten Mitteln, die sie haben, mehr vorausschauende Personalpolitik zu betreiben. Das wäre gut für die Beschäftigten, aber auch für die Hochschulen, weil sie attraktivere Arbeitgeber wären.

 

Kaufmann: Ich glaube nicht, dass wir zu klein denken. Wir müssen das Gesamtsystem im Blick haben, wir müssen einen Ausgleich schaffen zwischen unseren Beschäftigten von heute, denen von morgen und dazu noch zwischen den Forschungsthemen, wie sie heute sind und wie sie sich morgen entwickeln könnten. Unsere Hauptsorge und Aufgabe ist, die Universitäten so aufzustellen, dass sie auch 2025 noch eine Rolle spielen. Klar sind wir mutig. Indem wir den Dialog mit den Gewerkschaften weiterführen, aber auch mit der Politik. Wir müssen der Politik noch deutlicher machen, dass zu den geforderten tollen Karrierechancen für wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch eine auskömmliche und dauerhaft planbare Hochschulfinanzierung gehört. Ich gebe zu, dass unsere Erklärung mutig war. Doch das wussten wir. Wir wussten, dass wir damit polarisieren und eine Debatte auslösen. Denn diese Debatte ist notwendig.

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Kommentare: 24
  • #1

    irrelevant (Freitag, 15 November 2019 08:54)

    Mehr noch als die Bayreuther Erklärung sind die wiederholten Statements von Dieter Kaufmann eine Provokation. Das Unvermögen zur personalpolitischen Differenzierung macht fassungslos. Viele Grüße aus dem Ausland, wo man in Deutschland Promovierte gerne nimmt (mit Festanstellung)

  • #2

    Jan-Martin Wiarda (Freitag, 15 November 2019 08:56)

    @irrelevant: Ich habe einen Satz entfernt. Wenn Sie den Punkt inhaltlich nochmal machen wollen, sehr gern. Aber bitte nicht persönlich beleidigend werden.

  • #3

    irrelevant (Freitag, 15 November 2019 09:14)

    Von Herrn Kaufmann erwarte ich substantielle (!) Aussagen zur Vereinbarkeit von Familie und Wissenschaftskarriere, wie sie auch der engagierte Herr Keller einfordert.

  • #4

    Christian (Freitag, 15 November 2019 11:53)

    Spannendes Interview und ein Offenbarungseid - ich hätte mir allerdings gewünscht, dass der internationale Vergleich noch mehr zum Tragen kommt. All die Dinge, die laut Herrn Kaufmann scheinbar an deutschen Unis unmöglich sind, funktionieren ja andernorts ganz gut. Die 90% haben wir meines Wissens nur in Deutschland. Herr Kaufmann tut ja auch fast so, als ob eine Festanstellung im Mittelbau für einen Promovierten bedeuten würde, dass da jemand noch völlig unterqualifizierter jetzt eine Sicherheit bekommt, die er/sie nicht verdient und die dazu verleitet, nur noch Dienst nach Vorschrift zu machen…

  • #5

    Klaus Diepold (Freitag, 15 November 2019 19:36)

    hier wird zum Teil immer mit den 90% argumentiert, als wenn das ein bestätigte Zahl ist. Das ist möglicherweise nur eine "gefühlte" Zahl.

    Ansonsten kann ich nur feststellen, dass auch Herr Keller Aussagen formuliert, die ich eher ideologisch geprägt wahrnehme und die ich in der Realität so nicht sehen kann.
    Für meinen Geschmack wird hier zu einseitig und z.T. unreflektiert auf den Kanzlern rumgehackt.

  • #6

    irrelevant (Freitag, 15 November 2019 21:55)

    @Klaus Diepold: Vor zehn Jahren errechnete die (erste) Evaluation des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes 83%: https://his-he.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Forum_Hochschulentwicklung/fh-201104.pdf

  • #7

    Klaus Diepold (Samstag, 16 November 2019 11:44)

    noch ein Gedanke: in der Diskussion wird mehrfach auf den Ausbau eines Tenure Track Systems hingewiesen. Fair enough - aber das alleine wird nicht die Rettung darstellen. TT profs sind zeitlich befristet und haben die Option entfristet zu werden sofern eine Evaluation positiv verläuft. Dazu müssen aber auch Stellen für unbefristete Professuren da sein. Wenn deren Zahl nicht erhöht wird, entsteht bei TT Evaluation ein Shoot-Out. Wer bekommt die Stelle. In amerikanischen Unis ist das nicht selten eine 10:1 Chance.

    TT Profs müssen ein vollständiges Berufungsverfahren durchlaufen, bei dem auch auf das Thema Hausberufungen geachtet wird (werden muss). Also, im eigenen Haus eine Post-DocStelle antreten um sich dann eine TT Prof zu angeln wird nicht funktionieren. Da müssen die Post-Docs sich auch bewegen.

    Ich plädiere auch für die Besetzung von wissenschaftlichen Dauerstellen unterhalb der Professur für eine internationale und offene Ausschreibung. Wer sich hier durchsetzt hat wohl eine Dauerstelle verdient. Erbhöfe und Gefälligkeiten haben hier keinen Platz.

    Ich habe zu Hauf erlebt, dass wissenschaftliche Mitarbeitende im Mittelbau 20 Jahre lang kein Paper oder Forschungsantrag geschrieben haben und beim Verwalten von studentischen Hilfskraftmitteln auf die Pension warten. Hier möchte ich nur vor überzogener Romantik warnen. Es gibt alle Kombination - in alle Richtungen. Die Diskussion ist mir von Seiten der "Gewerkschaften" zu einseitig.

  • #8

    Systemsprengerin (Sonntag, 17 November 2019 15:59)

    Die logischen Brüche in der "Argumentation" von Herrn Kaufmann sind unerträglich und mir von der Universität bekannt, an der ich als Post-Doc war (und an der man übrigens nach 2016 aufgefordert wurde, einfach für Lektorenstellen "Post-Doc-Qualifikationsziele" zu erfinden, damit befristet beschäftigt werden konnte - kurzer Gruß an dieser Stelle in den kleinsten der Stadtstaaten!).

    "Wir haben an keiner Stelle gefordert, dass die Befristungsmöglichkeiten ausgeweitet werden." --> Ist jetzt bei 90% und mehr auch nicht mehr unbedingt möglich. Und wer bitte hat das in den sozialen Medien den Kanzlern vorgeworfen? Die Diskussion dreht sich darum, dass sie die unverantwortlich hohe Befristungsquote nicht abbauen wollen.

    "[…] die jungen Leute befinden sich in einer Qualifizierungsphase. Wer das ändern will, fordert ernsthaft die Wiedereinführung von Stipendien, über die wir Promotionen früher abgewickelt haben." --> Sie meinen eine Finanzierung, bei der die Doktoranden sich tatsächlich auf die Qualifikation konzentrieren können, statt den Uni-Betrieb zu stemmen? Das wäre natürlich ganz klar zum Nachteil der Doktoranden. Sie Guter.

    "Beides, Forschung und Lehre, sind Daueraufgaben der Universitäten, aber im Falle des wissenschaftlichen Mitarbeiterin und bzw. Mitarbeiters besteht in der Ausübung der Aufgaben auch eine wesentliche Form der Qualifizierung nach der Promotion." --> Nicht doch! Es besteht an den Universitäten ein dauerhafter Bedarf für Leistungen in F&L und jemand, der in diesem Bereich tätig ist, qualifiziert sich für genau diese Tätigkeit und nicht für eine andere? Wie um alles in der Welt, kann man daraus die Notwendigkeit befristeter Post-Doc-Stellen ableiten? Es gibt in diesem Fall zwei Möglichkeit: A) Post-Doc qualifiziert sich, geht irgendwann, weil er z.B. auf eine Professur berufen wurde. B) Post-Doc qualifiziert sich und übt die Tätigkeit, für die er sich qualifiziert hat, dauerhaft aus - dann nimmt er auch niemandem eine Qualifikationsmöglichkeit weg.

    50% werden über Drittmittel finanziert, 40% sind Doktoranden, deshalb muss zu 90% befristet werden --> Es gibt keine Überschneidungen zwischen diesen beiden Gruppen? Doktoranden promovieren nicht in Drittmittelprojekten und Post-Docs haben keine etatisierten Stellen?

    Natürlich ist ein fairer Ausgleich zwischen den Interessen der Universität an Dynamik und der notwendigen Stabilität für die Mitarbeiter schwierig, aber die Bayreuther Erklärung und die darauffolgenden Interviews von Herrn Kaufmann sind ein intellektueller Offenbarungseid: Die Kanzler teilen der Welt immer wieder mit, dass sie mit der Komplexität ihrer Aufgabe überfordert sind. Und dann - sorry - ständig dieses "Mimimi. Wir werden nur nicht richtig verstanden!". An wem liegt das wohl, Herr Kaufmann? Die Universitäten hätten den Mittelbau im Verhältnis zu den Professuren nie so aufpumpen müssen und letztlich waren ja gerade die Kanzler nicht in der Lage, hier steuernd einzugreifen. Da fordern gerade diejenigen Bestandsschutz für ihre Inkompetenz ein, die den exzessiven Befristungsmissbrauch der letzten Jahre zu verantworten haben.

    "Ich gebe zu, dass unsere Erklärung mutig war." --> Dieses "Eingeständnis" muss ihm ja richtig schwer gefallen sein, denn wer lässt sich schon gerne "mutig" nennen?

  • #9

    Literaturwissenschaftlerin (Sonntag, 17 November 2019 22:15)

    @Klaus Diepold: Vgl. den Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs von 2017, S. 126-127: Nachweislich der Hochschulpersonalstatistik waren 2014 82% des hauptberuflichen wissenschaftlichen
    und künstlerischen Personals an Hochschulen (ohne Professoren) befristet. In der Gruppe der bis 45-Jährigen waren es 93%, bei den unter 35-Jährigen 98%.
    Die sehr viel offensichtlicher "gefühlte" Wahrheit ist die Behauptung, dass festangestellte Wissenschaftler nichts mehr leisteten. Bei den Professoren beobachtet man das auch nicht (und vor allem unterstellt es ihnen niemand). Wenn es Akademische Räte gab, die sich innerlich verabschiedet haben, spricht manches dafür, dass die (in den Faulheitsunterstellungen bis heute hörbare) Verachtung, die man ihnen vonseiten der Professorenschaft entgegengebracht hat, dabei eine Rolle spielte. Davon kann manch ein Betroffener noch ein Lied singen. Heute verbirgt dieselbe Verachtung sich hinter den scheinbaren Systemzwängen, die Prekarisierung auch noch da legitimieren, wo sie Forschung und Lehre offenkundig schadet. Denn das Argument, dass Befristung der Qualifizierung diene, wird da absurd, wo sich feststellen lässt, dass trotz eines signifikanten Zuwachses an befristetem Personal in den vergangenen Jahrzehnten die Zahl der abgeschlossenen Promotionen stagnierte, die der Habilitationen sogar deutlich zurückging. Die Prekarisierungs-Tretmühle mag jede Menge (unfreiwilliger) Aktivität provozieren, substanzielle Ergebnisse befördert sie nicht.

  • #10

    Dr. Josef König (Dienstag, 19 November 2019 11:30)

    Diese ganze Diskussion sowie die bisherigen Leserbriefe kranken an der Tatsache, dass hier generalisiert wird, und wo man verallgemeinern muss, ist man bald bei Schlagworten, und auf Schlagworte folgt ein Schlagabtausch.

    Letztlich muss man Einzelfälle betrachten, die sehr viel differenzierter sind, als hier diese Allgemeinplätze. Ich gebe nur ein Beispiel (aus manchem tatsächlichen Fall konstruiert):

    Gesetzt den Fall, jemand bekommt nach einer guten Promotion eine Stelle bei einem Prof (w/m) in einem soeben eingeworbenen Projekt. Dieses ist auf drei Jahre befristet, wie beantragt und vom Geldgeber bewilligt. Die junge wissenschaftliche Kraft beginnt hoffnungsvoll dort, macht gute Arbeit, trägt auf einem Kongress darüber vor und bekommt dort von einer anderen Uni/Institution eine noch besser oder mit größerer Hoffnung ausgestattete Stelle und verlässt das Projekt nach anderthalb Jahren. Die Leitung des Projektes kann neu ausschreiben, das Projekt muss weitergehen ... Aber durch das vorgesehene Ende der Projektlaufzeit kann der Lehrstuhl die neue Person nur für ein bis anderthalb Jahre beschäftigen. Für länger ist nicht mehr Geld da, und es interessiert nicht den Geldgeber (DFG, BMBF oder wen auch sonst), ob ein Wechsel stattgefunden hat oder vielleicht die Projektmitarbeiterin schwanger geworden ist, oder was auch immer die Verzögerung verursacht hat. Am Ende der drei Jahre muss ein Bericht über die Qualität der Ergebnisse und die verausgabten Mittel erfolgen.

    Gesetzt den Fall anders, der postdoc bekommt kurz vor Ende des Projektes wegen Zuverlässigkeit und guter Arbeit und Einsatzbereitschaft eine Dauerbeschäftigung. Aber nur ein Jahr später verlässt der Lehrstuhlinhaber (w/m) die Uni und wird von einer anderen berufen. Die Fakultät entschließt sich, die Stelle mit einer anderen Ausrichtung neu zu besetzen, es komme eine neue Prof, bringt eigene Leute mit, und die Person mit der Dauerstelle ist letztlich für diese neue Aufgabe nicht ausgebildet und geeignet. Aber als jemand mit Dauerbeschäftigung ist sie die nächsten 30 Jahre da und unkündbar! Sie mag vielleicht Verwaltungsaufgaben oder Lehre übernehmen, aber die Entwicklung ist zunächst blockiert - für beide Seiten. Für neue Qualifikationen ist die Stelle blockiert und auf Dauer nicht adäquat besetzt. Was tun?

    Außerdem hat sich ja vielleicht inzwischen die Person eingerichtet, Familie gegründet, das erste Kind ist da, die Wohnung/das Haus wollen abbezahlt werden, usw.

    Mit solchen Problemen muss man klar kommen und daher haben im Prinzip beide Seiten, die Kanzler wie die GEW ihre guten Argumente. Aber indem sie einen Schlagabtausch sich leisten, kommen sie nicht weiter; sie unterhalten uns nur hier.

    Das Problem steckt letztlich im System: Befristete Projekte bedeuten befristetes Personal und das weiß auch jemand, der einen solchen Vertrag unterschreibt. Dass die Kanzler nicht die Situation schaffen wollen, wie in den 80ern, als der Mittelbau sich scharenweise einklagte und die Unis bewegungslos erstarrten, ist verständlich - ebenso vielleicht wie, dass man jungen Menschen zwar eine berechtigte Hoffnung macht, auf Dauer im System zu bleiben, aber solche Versprechen nicht gehalten werden können, weil das System sie nicht hergibt - und da sind manche Chefs von Lehrstühlen häufig entweder zu schwach oder zu eitel oder zu machtbewusst. Viele Verantwortliche im System haben auch nicht den Mut oder die Haltung, jemanden zu sagen: Das war's! Sie sind zwar gut, aber es gibt wenig Hoffnung angesichts der Konkurrenz, dass Sie sich wirklich durchsetzen werden. Suchen Sie sich also eine Stelle in der Industrie oder sonst wo - was viele auch nicht wollen, weil Universitäten trotz aller Probleme des Systems dennoch eine "warme Stube" sein können.

    Ja, es ist viel Geld in die Unis in den letzten 20 Jahren geflossen, aber in befristete Maßnahmen, Projekte und erzwungene oder willkommene Konkurrenz. Die Grundfinanzierung ist aber weiter gesunken und es nicht absehbar, dass sie wieder steigen wird. Da helfen leider auch keine noch so gut gemeinten Vergleiche mit dem Ausland - wo die Finanzierung des Systems Universität (insbesondere mit den USA) völlig anders ist, ebenso die Arbeitsgesetze.

    Die deutschen Probleme müssen hier gelöst werden, egal ob mit Fonds oder anders geartet. Tatsache ist aber, dass sie so weiter gehen werden, solange die Länder nicht die Grundfinanzierung endlich auf die Erfordernisse hochschrauben.

  • #11

    Prof. Dr. Wolfgang Menz (Dienstag, 19 November 2019 18:40)

    Auch drittmittelfinanzierte Stellen müssen überhaupt nicht zwingend befristet sein. Unbefristete, drittmittelfinanzierte Stellen sind in Deutschland in der außeruniversitären Forschung verbreitet; in anderen Ländern gibt es solche Stellen auch an Unis.
    In der Privatwirtschaft sind die Mitarbeiter*innen ja auch nicht für einzelne Aufträge angestellt - das ist rechtlich kein wirkliches Problem.

  • #12

    Edith Riedel (Mittwoch, 20 November 2019 08:48)

    "Unbefristete, drittmittelfinanzierte Stellen sind in Deutschland in der außeruniversitären Forschung verbreitet; in anderen Ländern gibt es solche Stellen auch an Unis.".
    Ja, diese Stellen gibt es an Einrichtungen, in denen Mitarbeiter*innen nicht sklavisch zu einem Lehrstuhl gehören sondern zum gesamten Department. Aber unsere doch immer noch sehr vom Ordinarienprinzip geprägten Universitäten tun sich damit extrem schwer.

  • #13

    Literaturwissenschaftlerin (Mittwoch, 20 November 2019 11:51)

    @Josef König: Mit der Feststellung, dass das Problem systemisch ist, widerlegen Sie Ihre Behauptung, man müsse Einzelfälle betrachten, doch selbst? Die Fokussierung auf den Einzelfall ist bei vielen Vertretern des Wissenschaftsmanagements ein ideologisches Manöver, das letztlich dazu dient, vorhandene Strukturen als unangreifbar dastehen zu lassen. Das etwas gerechtfertigt sei, weil es da ist, war aber noch nie ein gutes Argument. Wenn derzeit (so eine Erhebung des DHV) sieben Mal so viele Qualifizierte auf eine Professur kommen wie Professuren vorhanden sind, können Sie noch so viele Wissenschaftler frühzeitig herausberaten, Sie werden die Stellen ja doch besetzen. Dann ist es völlig egal, ob Sie die ‚Falschen‘ wegberaten haben oder nicht, so oder so müssen sie sechs von sieben hochqualifizierten, gestandenen Wissenschaftlern im Nachhinein erklären, dass sie vorher hätten wissen können, dass es hinterher nichts wird. Oder Sie wählen die Option von Herrn Kaufmann in einem anderen Interview und sagen, dass bei einem Marathon auch nicht jeder als erster durchs Ziel geht, und legen damit offen, dass der deutsche Wissenschaftsbetrieb auf gnadenlosesten Sozialdarwinismus ausgelegt ist. Denn „nicht als Erster durchs Ziel gehen“ heißt hier ja nichts anderes als karrieretechnisch, also im eigenen Beruf und Lebensentwurf, auf der Strecke bleiben. Ich kann mittlerweile fünf Personen aus meinem Bekanntenkreis aufzählen, die das Lebensalter des entfristeten Jobs nicht nur karrieremäßig, sondern buchstäblich nicht erreicht haben. Mit einem Wort, Sie wählen also entweder zwischen Zynismus und Brutalität, oder aber Sie erkennen (im Vergleich mit dem Ausland, das hilft, und wie!) an, dass das hiesige Wissenschaftssystem in seiner aktuellen Form pervers ist und verändert werden muss. In welchem anderen Land käme man auf die Idee, dass Wissenschaft *kein* Beruf sei, der möglichst viele erfahrene Köpfe braucht, die sich lange und stetig in komplexe Zusammenhänge vertiefen?
    Vorschläge zur Schaffung von Departmentstrukturen ohne Mittelbau kann man bei der Gesellschaft für Philosophie oder der Jungen Akademie nachlesen. Dann noch die DFG einschrumpfen und auf Förderformate umstellen, die keine Personalblasen erzeugen, und wir hätten eine Wissenschaft, in der wieder seriös gearbeitet werden kann, statt alle daran Beteiligten in einer permanenten Hetze um ‚Sichtbarkeit‘ aufzureiben.

  • #14

    Josef König (Mittwoch, 20 November 2019 22:40)

    @Lieraturwissenschaftlerin
    Natürlich richtet sich meine Kritik auch ans System. So etwa, dass seit Jahrzehnten die Grundfinanzierung der Hochschulen nicht den Erfordernissen gerecht wird und die Länder das schlicht überhören.
    Wenn Sie aber die Dauerstellen ausweiteten und alle wirklich geeigneten jungen Wissenschaftler/innen auf Dauerstellen setzten, wären diese diese Stellen bald auf Dauer besetzt und blockiert; und schon stünden die nächsten vor der Tür und begehrten Einlass, übrigens mit dem gleichen Recht! Das könnte das System nicht tragen. Es würde gesprengt.
    Nach meiner literaturwissenschaftlichen Promotion und dreijähriger Zeit als Assistenz (heute sagt man gern auf englisch „postdoc“) im Anschluss stand ich auch vor der Frage, ob ich noch die Habil verfassen sollte. Ich habe mich für einen anderen Weg entscheiden müssen und bin, obwohl ich vielleicht auch als Literaturwissenschaftler glücklich geworden wäre, auch sehr glücklich und zufrieden mit dem anderen Weg geworden (relativ erfolgreich die letzte 30 Jahre in der Wissenschaftskommunikation).
    Das ist was ich meine: Es kann nicht jede Person, nur weil sie will und sogar geeignet ist, den Weg verlangen gehen zu können, eben weil die Ressourcen begrenzt sind. Ob Sie das nun Sozialdarwinismus nennen, ist Ihnen überlassen. Für mich ist das eine ganz natürliche Konkurrenz um eine begrenzte Zahl von Stellen - man kann auch vom „NC für Professuren“ sprechen ...
    Dennoch ist jeder Fall ein besonderer Fall und kann nicht über einen Kamm geschoren werden. Und jeden dieser Fälle gilt es, trotz ihrer systembedingtheit, auch einzeln zu betrachten und zu entscheiden - und zwar aus verschiedenen Perspektiven, denen der Kanzler, der Betroffenen und der unmittelbar wissenschaftlich Verantwortlichen. Dass viele Betroffene, und übrigens auch die anderen beiden Parteien nicht glücklich darüber sind, lässt sich nicht vermeiden.

  • #15

    Literaturwissenschaftlerin (Donnerstag, 21 November 2019 11:58)

    @Josef König: Dass durch Entfristung Stellen "blockiert" würden, ist ebenfalls ein regelmäßig bemühtes, aber nicht überzeugendes Argument. Auch hier lässt sich feststellen, dass in Ländern, in denen es Lecturer- oder Maître-de-conférence-Stellen gibt, also entfristete Positionen relativ bald nach der Promotion, niemand auf die Idee kommt, es würde irgendeiner Generation dadurch etwas weggenommen. Zu dem Punkt empfehle ich Ihnen die Stellungnahme des Netzwerks für Gute Arbeit in der Wissenschaft: https://soziopolis.de/beobachten/wissenschaft/artikel/die-bayreuther-bankrotterklaerung/
    Warum sollte es fairer sein, eine Unmenge von "Nachwuchs"-Wissenschaftlern ein halbes Leben in der Wissenschaft zuzugestehen und sie genau dann hinauszudrängen, wenn sie Erfahrungen und Kompetenzen erworben haben? Warum ich das Sozialdarwinismus nenne: In meinem Umfeld sind die Erstberufenen zwischen Anfang 40 und 50 (und das sind nicht die, die in irgendeiner Provinz ein Gnadenbrot bekommen, sondern die, die es an die begehrtesten Orte schaffen). Unter ihnen ist niemand, für den die Zeit auf der Qualifikationsstelle ausgereicht hätte, sich zu habilitieren. Ob man sich darüber hinaus lange genug durchhangeln kann, ist weitgehend eine Frage von Glück oder Pech – genauer gesagt, von Protektion und Netzwerken. Und was mich an dem Argument über all dies hinaus befremdet: Warum nur soll ein Wissenschaftssystem, das sich zum allergrößten Teil aus un- oder wenig erfahrenem Personal rekrutiert, besser sein als eines, in dem möglichst viele Personen die Möglichkeit haben, Kompetenzen langfristig zu vertiefen? Jede/r Wissenschaftler/in weiß doch, wie lange es dauert, das eigene Fach auch nur halbwegs zu überblicken.

  • #16

    Karl (Donnerstag, 21 November 2019 23:37)

    Gehört es nicht zur Pflicht der Selbstsorge, für sich zu entscheiden, ob man angesichts des bestehenden Systems das Risiko eingeht, bis 45 auf die Erstberufung zu warten? Kurzzeitbefristungen und ausbeuterische Bedingungen über Jahre bis Jahrzehnte auf sich zu nehmen ist ja keine unausweichliche Pflicht, weil das Schicksal einen zur Profession der Wissenschaftler*in verpflichtet und ein Ausweg völlig undenkbar ist. Angesichts des blühenden Arbeitsmarkts der letzten Jahre ist das Gegenteil der Fall.

    Es ist im Übrigen zwar ein unterstützenswertes Ansinnen, das System verändern zu wollen, aber es gibt im Bereich der "Wissenschaft als Beruf" bei allem guten Willen inhärente Zielkonflikte und Komplexitäten, auch da bin ich bei Herrn König. Und zwar nicht nur in Deutschland. Befristungsquoten sind dabei auch nicht alles, und in vieler Hinsicht sind die scheinbar vorbildlichen Systeme in F, UK und US ja gerade das Gegenteil von funktionalen und humanen Systemen wissenschaftlicher Beschäftigung.

    Dass eine frühere Entscheidung über die Entfristung hierzulande einige Probleme lösen könnte, teile ich im Übrigen. Gleichzeitig wird man - und das ist in meinen Augen durchaus Teil des Problems - denjenigen, für die eine solche frühzeitige Entscheidung nicht positiv endet, kaum "verbieten" können, es weiterhin zu versuchen. Und dann sind wir wieder am Anfang: Man muss das System schon auch irgendwann zu lesen lernen und die sich die verantwortliche Frage stellen, ob ein weiteres Leben unter höchst unsicheren Bedingungen mit der eigenen Lebensplanung in Übereinstimmung zu bringen ist. Je früher man sich darüber klar ist (und wenn wir sagen, dass man eigentlich mit 35 berufbar sein sollte, dann sollte man umgekehrt vielleicht auch mit 35 reif genug sein, den eigenen Lebensentwurf wenigstens basal überblicken zu können), desto besser.

  • #17

    Literaturwissenschaftlerin (Freitag, 22 November 2019 11:55)

    @Karl: Sie können eine Lotterie nicht überblicken. Und eine gewisse Rolle spielt auch noch, ob Sie an das glauben, was Sie tun (fundierte Arbeiten mit Originalitätsanspruch und Weitblick brauchen Zeit, viel Zeit) oder ob Sie den Karrieristen und Schnell-und-viel-Publizierern das Feld überlassen möchten. Ich möchte mir den Zustand meines Faches nicht vorstellen, den wir hätten, wenn alle, denen es schwer gemacht wird, hinschmeißen würden (denn gerade das sind ziemlich oft die Guten). Außerdem reden auch Sie sich aus einem strukturellen Problem heraus, indem sie Verantwortlichkeit individualisieren. So können Sie beliebig vielen beliebig oft vorwerfen, es nicht besser gewusst zu haben - der Sache hilft das in meinen Augen nicht.

  • #18

    Josef König (Sonntag, 24 November 2019 22:54)

    @literaturwissenschaftlerin
    Wir leben in einem System mit begrenzten Ressourcen, und die Allokation der Mittel unterliegt der Konkurrenz zwischen Fakultäten, Lehrstühlen, Instituten. Es ist sicher selten gerecht, das ändert nichts daran, dass die Mittel nicht beliebig vermehrbar sind.
    Jede/r Einzelne muss sich entscheiden, ob er/sie im Bewusstsein eigener Qualität weitermacht und womöglich erst mit 45 oder älter überqualifiziert im System befristet bleibt oder sich um Alternativen bemüht. Man kann gern das System kritisieren, aber irgendwann muss man sich an die eigene Nase fassen und sich realistisch fragen, wie weit bin ich bereit zu gehen, mich zu verbiegen und welche Risiken kann und will ich tragen. Wenn wir Freiheit der Entscheidung wollen, müssen wir auch bereit sein, die Verantwortung auch für das eigene Scheitern zu tragen und nicht, diese dem System aufzubürden.
    Außerdem, das nur zu Erinnerung, ist die Habilitation als Voraussetzung für eine Professur gesetzlich schon vor langer Zeit abgeschafft. Viele Professuren, wenn nicht gar die meisten, werden inzwischen als Junioprofessuren mit tenior track vergeben, so dass bei Misserfolg dieses Weges man früher als per Habil und Privatdozentur eine klare Entscheidung hat.

  • #19

    JAMIRA (Montag, 25 November 2019 00:29)

    Mir scheint - die jetzt schon mythische "Bayreuther Erklärung" hin oder her - etwas billig, dass nun aus der (Nachwuchs-)Wissenschaft heraus die Kanzler als Feindbilder herhalten müssen, um die anhaltende Malaise im Befristungswesen zu erklären. Ansätze zur Verbesserung liegen doch längst auf dem Tisch: z.B. der Umbau des Lehrstuhl- in ein Departmentsystem. Der wird meiner Erfahrung nach sicherlich nicht durch Kanzler blockiert, sondern durch eben diejenigen, die sich im Konkurrenzsystem durchsetzen und ihre Position errungen haben, d.h. von der Wissenschaft selbst.

  • #20

    Literaturwissenschaftlerin (Mittwoch, 27 November 2019 09:29)

    @Josef König: Ich höre aus Ihrer Argumentation das weit verbreitete hochschulmanageriale Wunschdenken heraus, es möchten doch auch die Betroffenen die schöne Welt des maximierten Wettbewerbs als die beste aller möglichen empfinden. Von der Abschaffung der Habilitation merkt man in der Realität meines und der angrenzenden Fächer exakt: gar nichts, vom Tenure Track wenig. Ich brauche auch nicht bei mir selbst anzufangen, um zu sehen, dass um mich her die meisten Erstberufenen im (häufig fortgeschrittenen) fünften Lebensjahrzehnt stehen, und zwar diejenigen, von denen man auch vor 10 oder 15 Jahren hätte sagen können, dass sie sehr gute Wissenschaftler/innen sind, und denen ein fairer Job endlosen Selbstzweifel und konstante Absturzängste erspart hätte.
    Wenn Sie das Schauen-wir-mal-wer-überlebt-Prinzip durch Responsabilisierung der Einzelnen anstatt einer insgesamt menschenwürdigen Personalstruktur zu bekämpfen versuchen, ist einer der ersten Effekte, den Sie erhalten, wahrscheinlich der, die Frauenquote auf Professuren noch tiefer zu drücken, als sie schon liegt. Studien belegen regelmäßig, dass Frauen systematisch prekärer beschäftigt werden als Männer, und in Ihrer Logik könnten sie dann gar nicht anders, als möglichst schnell zu dem Schluss zu kommen, dass sie nicht geeignet sind. Ich erlebe das schon unter den gegebenen Verhältnissen ständig – und oft bei den Besten. Maximal wettbewerblich strukturierte Systeme wirken sich systematisch nachteilig auf Frauen (und andere unterrepräsentierte Gruppen) aus, dafür ist Deutschland im internationalen Vergleich ein trauriges Beispiel. Wie die Dinge liegen, bleiben oft die Wissenschaftler/innen dabei, die es sich finanziell leisten können, die, die deshalb an sich glauben, weil schon die Eltern Professoren waren, oder die, die dafür belohnt werden, dass sie so (männlich) selbstsicher daherkommen. Im Hinblick auf wissenschaftliche Qualität ist all das zum Heulen.
    Eine andere Konsequenz aus Ihrem Argument (bzw. dem von @Karl) wäre aber auch dies: Angesichts des vorhandenen Volumens an befristeten Stellen würde allen über 35-Jährigen vom Weitermachen abzuraten bedeuten, noch mehr Arbeit von weniger qualifiziertem Personal machen zu lassen. Faktisch ist den Strukturen, die wir haben, eine systemische Altersdiskriminierung so tief eingeschrieben, dass man gar nicht mehr fragen darf, ob eine ältere und erfahrenere Person vielleicht wirklich mehr kann und einen Job ernstlich besser machen würde. Begreift man Wissenschaft als etwas, das erlernt und gekonnt werden muss, kann man doch nur fragen: Wie absurd ist denn das?

  • #21

    JAMIRA (Donnerstag, 28 November 2019 00:10)

    Again, es liegt doch in der Hand der Wissenschaftler/-innen - zugegeben der Berufenen -, das zu ändern. Was mich an den Geisteswissenschaften (ich gehöre auch zu dieser Zunft) seit geraumer Zeit nervt, ist die Kopplung von maximaler diskursiver Kritikbereitschaft bei ebenso hoher struktureller Konservativität und Besitzstandswahrung. Die Optionen zur Verbesserung der Situation liegen weitgehend auf dem Tisch, man möge sie dann doch mal ausprobieren (und ja, dazu zählt dann auch die Abschaffung der Habilitation). Und zwar in den eigenen Instituten und Fakultäten, den eigenen Fachgesellschaften und Verbänden. Darauf zu drängen, dass "das System" oder "die Unileitungen" handeln müssten, ist im Kontext einer sonst bei jeder Gelegenheit eingeforderten Selbstgestaltungsfreiheit der Wissenschaft absurd und verortet Verantwortung immer schön im außen. Es gibt hier echte Akteure, die mal ins Spiel gebracht werden müssten!
    Im Übrigen, liebe @Literaturwissenschaftlerin, liest sich das von Ihnen nun in immer neuen Wendungen kundgetane Programm wie eine perfekte Anleitung zum Unglücklichsein: Das beredte Insistieren darauf, dass sich "das System" doch einfach ändern müsse, weil es so doch einfach zu ungerecht sei, führt ja zu nichts als Verzweiflung. Ich würde mir davon nicht mein Leben versauern lassen, sondern Konsequenzen ergreifen.

  • #22

    Wilhelm Achelpöhler (Donnerstag, 28 November 2019 09:19)

    1.Es gibt nicht „die“ Befristungspraxis an den Universitäten, weil die Universitäten wegen objektiver Umstände gar keine Spielräume haben. Im Bereich der Medizin gibt es etwa in NRW und Rheinland Pfalz einen deutlich höheren Anteil befristeter Stellen als in Bayern und Baden-Württemberg.
    2. Je höher der Anteil befristeter Stellen, desto geringer die Ausbildungskapazität. Hätten NRW und RLP denselben Anteil befristeter Stellen wie Bayern und BaWü ergäbe dies Studienplätze in der Größenordnung einer ganzen Fakultät wie etwa Magdeburg.

  • #23

    Literaturwissenschaftlerin (Freitag, 29 November 2019 16:33)

    @Jamira: Mir ist egal, ob sich von meinen Argumenten und denen Gleichgesinnter die Kanzler, die Präsidien, die Professoren, die DFG oder der zu mobilisierende Mittelbau als erste angesprochen fühlen: Ich meine alle. Wer der Meinung ist, dass das System sich ändern sollte, muss den Diskurs ändern, nicht sich selbst. (Wenn jemand sich angesprochen fühlt: Das Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft arbeitet dran - und ist offen für alle!). Wenn Sie bei Ihren Professorenkollegen damit anfangen möchten: gerne. Wenn man argumentativ aber nichts Besseres aufzufahren hat, als für Missstände, die wahrlich mehr als Enttäuschungen Einzelner umfassen, diejenigen verantwortlich zu machen, die primär darunter leiden, entlarvt sich das als Standpunkt doch selbst.

  • #24

    Systemsprengerin (Dienstag, 03 Dezember 2019 10:17)

    @JAMIRA/Vorwurf, dass die Kritik an der Bayreuther Erklärung "etwas billig" sei: Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Art der Amtswahrnehmung der Kanzler und der Entrüstung über die Bayreuther Erklärung. Als Verantwortliche für die Hochschulorganisation hätte es in ihrer Verantwortung gelegen, ein Monitoring im Hinblick auf die Befristungsexzesse zu etablieren und rechtzeitig gegenzusteuern. Stattdessen musste der Gesetzgeber mit der Novellierung 2016 des WissZeitVG eingreifen - und in Teilen zielt die Bayreuther Erklärung darauf ab, den dort eingeforderten Ausgleich zwischen den Interessen der Universitäten (Dynamik, "Qualifikationsfluktuation") und den Interessen der Mitarbeiter (Planbarkeit, Ausrichtung der Befristung am Qualifikationszweck, nicht am behaupteten Bedarf der Universitäten) wieder rückgängig zu machen.

    Die teilweise scharfen Äußerungen von gegenwärtigen und ehemaligen wissenschaftlichen Mitarbeitern erklären sich auch dadurch, dass die Kanzler sie mit der Bayreuther Erklärung zu Universitätsmitarbeitern "zweiter Klasse" machen: Durchreisende, deren Arbeitsrechte nicht nur direkt, sondern auch indirekt durch die Befristung beschnitten werden können (z.B. in Form von geringerer Handhabe bei sexueller Belästigung oder Diskriminierung). Hätten die Kanzler mit der Erklärung die Politik adressiert und die Begründung angeführt, dass sie eine Verstetigung der öffentlichen Finanzierung fordern, um für die Mitarbeiter, die langjährig als Seniors Researchers in Drittmittelprojekten beschäftigt werden, "Überbrückungsfinanzierungen" sicherzustellen, wären die Reaktionen nicht ansatzweise so scharf ausgefallen. Sie hätten so deutlich machen können, dass sie Verantwortung für *alle* Mitarbeiter der Universitäten übernehmen und dabei Unterstützung durch die Politik benötigen. Aber das haben sie nicht getan, sondern sie haben den Erhalt der derzeitigen Befristungspraxis gefordert, bei der sie nur sehr notgedrungen Verantwortung für einen fairen Ausgleich zwischen Lehrstuhlinhaber- und Mitarbeiterinteressen übernehmen.

    Wg. Departmentprinzip: Vollkommen d'accord, allerdings bewirkt die Hochschullehrermehrheit ein extremes Beharrungsvermögen des jetzigen Systems. Wenn die Hochschullehrer mit Hochschullehrermehrheit die Rektoren oder sogar die Kanzler wählen, verbessern sich die Chancen derjenigen, bei denen z.B. ein großzügiger Umgang mit der Hochschulautonomie im Bereich der Leistungszulagen zu erwarten ist. Professoren, die dagegen erklären, die Autonomie der anderen Hochschullehrer (fachliche Weisungsbefugnis) beschneiden zu wollen, haben damit noch mindestens eine Professorengeneration lang systematisch schlechtere Chancen. Wahrscheinlich ist auch das etwas, was letztlich die Politik aufgreifen muss, denn aus den Hochschulen heraus ist eine solche Reform nicht zu erwarten. Ich zumindest (--> kleinster Stadtstaat) habe die Professoren einer "roten Kaderschmiede" nicht als solidarisch erlebt.