In der Coronakrise ist viel vom schwedischen Sonderweg die Rede. Warum sich gerade die deutsche Pandemie-Debatte am nördlichen Nachbarn abarbeitet.
DAS BILD, das die Deutschen von Schweden haben, sagt schon lange wenig über Schweden aus und viel über die Deutschen und ihren emotionalen Zustand. Die nicht unterzukriegende Heile-Welt-Romantik spiegelt sich in der anhaltend starken Position Astrid-Lindgren-artiger Vornamen wie Lina, Jonas, Mia oder Lena in den Top 10 deutscher Kindervornamen, ebenso im medialen Framing, sobald sich etwas Schlimmes in dem skandinavischen Sehnsuchts-Land ereignet: "Bomben in Bullerbü", lauten dann die Schlagzeilen, oder, aktueller: "Auch Bullerbü kennt Covid-19".
Schweden ist, könnte man schlussfolgern, immer ein bisschen mehr so, wie Deutschland gern wäre – und dient damit, was die nationale Identitätsfindung hierzulande angeht, als eine von zwei wichtigen Leitplanken alternativer Gesellschaftssysteme. Die andere Leitplanke heißt Amerika, dessen Dynamik, Optimismus und Ideenreichtum mit Ehrfurcht und womöglich ebenfalls ein wenig Sehnsucht beobachtet wird, vor allem aber mit der selbstzufriedenen Gewissheit, dass man dafür in Europa den besseren sozialen Kompass besitze.
In der Krise funktioniert nur
noch eines der Klischees
Verwirrend für die Deutschen und ihre Identität ist, dass sich in der beispiellosen Coronakrise nur eine von beiden Leitplanken erwartungsgerecht verhält. Amerika kämpft mit Rekord-Infektionszahlen, die Covid-19-Toten nähern sich der 100.000er-Marke, und währenddessen schwadroniert Präsident Donald Trump von der "Wiederöffnung Amerikas" und bricht Pressekonferenzen ab, wenn kritische Fragen zu seinem Krisenhandling kommen. Soweit alles im Einklang mit dem Klischee – solange man außer Acht lässt, dass im föderalen Amerika viele Bundesstaaten mutig und konsequent gegen das Virus vorgehen.
Doch was ist los mit dem skandinavischen Nachbarn? Anstatt, wie es sich für einen besorgten und fürsorgenden Sozialstaat gehören würde – zumindest für die Version, wie sie viele Deutschen nördlich der Ostsee gern hätten – den Schutz von Leib und Leben vor Corona ganz oben anzusiedeln, verfolgten die Schweden in der Corona-Bekämpfung eine für viele verstörend andere Strategie. Sie haben die Schließung von Kitas, Schulen, Restaurants und Geschäften abgelehnt und saßen, während sich die Deutschen in den vergangenen Wochen zu Hause verkrochen, gemeinsam in der Frühlingssonne.
Mit dem Ergebnis, dass die bestätigten Infektionszahlen stiegen und stiegen: Pro 100.000 Einwohner liegen sie inzwischen rund ein Viertel höher als in der Bundesrepublik und womöglich lägen sie noch ganz woanders, wenn Schweden mehr Coronatests durchführen würde. Das zumindest lässt die Zahl der am Virus Gestorbenen vermuten, die im Verhältnis zur Einwohnerzahl mehr als das Dreifache Deutschlands erreicht hat.
"Tödlicher Sonderweg", titelte heute die Süddeutsche Zeitung, vor zwei Wochen gar: "Schwedens Menschenexperiment". Wenig überraschend Ende April die taz: "Schweden sterben auch", und die Stuttgarter Zeitung befand: "Schweden taugt nicht als Vorbild". Noch erregter verläuft die Debatte in den sozialen Medien, wo täglich Grafiken und Statistiken geteilt werden, warum Schweden "die Alten opfert".
Was sagt das eigentlich über den deutschen
Umgang mit der Pandemie?
Der nicht zu überhörende moralische Unterton hat drei, auch chronologisch in eine Reihenfolge zu bringende Ursachen. Die erste war enttäuschte Zuneigung: Die emotionale Überhöhung, die Schweden normalerweise in der Gefühlswelt vieler Deutschen erfährt, verkehrte sich in der Krise in ihr Gegenteil. Ausgerechnet das Bullerbü-Land verhält sich so rücksichtslos!
Die zweite Ursache war Verunsicherung: Wenn Schweden, diese Leitplanke deutscher Identität, eine so komplett andere Strategie gewählt hat, was sagt das eigentlich aus über den deutschen Umgang mit der Pandemie? Muten wir uns womöglich als Gesellschaft einen ökonomischen und sozialen Kamikaze-Kurs zu, der sich noch nicht einmal in einer besseren Bewältigung der Corona-Pandemie auszahlt?
Die dritte Ursache war Erleichterung. Nicht weil man froh war, dass es den Schweden in Sachen Corona-Statistik schlechter erging. Sondern weil es für viele beruhigend war, dass der im Vergleich zu Schweden deutlichere Rückgang der deutschen Infektionsdynamik sowie die niedrigere Zahl der Toten die geleisteten Opfer zu rechtfertigen schienen. Verknüpft mit der Erleichterung ist angesichts der zuletzt reihenweisen Lockerungen allerdings inzwischen auch schon wieder die Sorge: Jetzt bloß nicht nachlassen, sonst kommen wir ganz schnell hin, wo Schweden schon ist!
WHO lobt die Strategie der Schweden –
doch es gibt ein dickes Aber
Ja, aber wo steht Schweden eigentlich? Die WHO hat Schweden vergangene Woche gelobt. Die Reaktion des Landes auf Corona könne "ein zukünftiges Modell sein, wie man einer Pandemie begegnet", sagte WHO-Exekutivdirektor Michael Ryan. "Es herrscht die Auffassung, dass Schweden keine Kontrollmaßnahmen ergriffen und nur die Ausbreitung der Krankheit zugelassen hat. Nichts ist aber weiter von der Wahrheit entfernt." Es gibt Verbote von Veranstaltungen mit mehr als 50 Leuten, die Hochschulen sind zu, die Oberschulen arbeiten im Fernbetrieb. Ansonsten aber, betont Ryan, stütze sich Schweden sehr stark auf sein gutes Verhältnis zu seinen Bürgern und habe sich auf deren "Selbstregulierung" verlassen. "Mehr Schweden wagen", forderte daraufhin unter anderem Jasper von Altenbockum in der FAZ.
Die Strategie in zwei Sätzen: Die Jungen und Gesunden leben – zurückhaltend und risikobewusst – ihr normales Leben weitgehend weiter, infizieren sich über die Zeit, und die Gesellschaft nähert sich so langsam der sogenannten Herdenimmunität an, von der an das Virus sich nicht weiter verbreiten kann. Die Alten und Vorerkrankten werden derweil besonders geschützt, der Besuch von Altenheimen ist in Schweden zum Beispiel streng untersagt.
Allerdings hat der Chef der schwedischen Gesundheitsbehörde, Johan Carlson, inzwischen eingeräumt, dass das Land beim Versuch, die Risikogruppen besonders zu schützen, gescheitert sei. Keiner habe gewusst, wie schlimm es um den Zustand der Altenpflege im Lande bestellt sei, zitiert die Süddeutsche Zeitung ihn heute. Mathematiker fürchten, wenn die Regierung die Pandemie-Lage in den Altenheimen nicht in den Griff bekomme, drohten anstelle der bislang knapp 3300 Tote zwischen 8000 und bis zu 20.000 an Covid-19 Gestorbene. Auch Schwedens Wirtschaft kommt trotz Lockdown-Verzichts offenbar nicht an der tiefen Rezession vorbei, minus sieben Prozent lauten die neusten Wachstumsprognosen.
Hinzu kommt: Schweden habe mit am wenigsten Intensiv- und Beatmungsbetten in Europa, warnen Experten; auch in Schweden werden Berichte laut, dass angesichts der knappen Kapazitäten auffallend wenige ältere Menschen intensivmedizinisch behandelt würden. Findet hier eine Priorisierung auf Kosten der Alten statt?
Extreme Maßnahmen lassen sich
nicht beliebig wiederholen
Umgekehrt gilt: Von sieben Prozent Wirtschafts-Minus werden die meisten Lockdown-Staaten nicht mal zu träumen wagen. Die Finanzierung des Shutdowns und seiner Folgen wird allein Deutschland dieses Jahr hunderte von Milliarden kosten und auch die Finanzierung der Sozialsystem strapazieren. Hinzu kommt: Ein harter Lockdown wie in Frankreich oder Italien, auch ein weitaus sanfterer Shutdown wie in Deutschland bringen zwar die Infektionszahlen zunächst drastisch nach unten – aber für einen hohen gesellschaftlichen Preis. In Form geschlossener Kitas und Bildungseinrichtungen zum Beispiel, in Form tiefgreifender Auswirkungen auf erwerbstätige Frauen und Familien, des Verlusts hunderttausender Servicejobs über Nacht oder auch der enormen psychischen Belastung vieler Menschen durch die Isolation. Woraus folgt: Ein erneuter Komplett-Lockdown, so sinnvoll er epidemiologisch womöglich in absehbarer Zeit wäre, ließe sich vermutlich nicht durchsetzen, die tiefe gesellschaftliche Spaltung, die er in vielen Gesellschaften auslöst, wird auch in Deutschland bereits spürbar.
Damit aber begibt sich ein Land wie Deutschland, nachdem es eine einmalige gesellschaftliche und wirtschaftliche Anstrengung unternommen hat, mit Verzögerung doch auf die Spur, der Schweden von Anfang an gefolgt ist. Weshalb es womöglich nicht um ein "Mehr Schweden wagen" geht, sondern um ein "Mehr Schweden nicht vermeiden können". Was weniger nach Bullerbü-Vorbild klingt als nach schmerzhaftem, womöglich aber nötigem Realismus.
Die Bekämpfung einer Pandemie, sagen die Verantwortlichen in Schweden gern, sei ein Marathon. Auch in den Belastungen, die man der Bevölkerung dauerhaft zumuten kann? Behördenchef Carlson sagt: "Wir können, wenn wir müssen, so bis 2022 weiterleben." Schweden, soviel kann man sagen, hat sich auf den ersten zehn Kilometern des Marathons zurückgehalten und Ressourcen gespart. Und: Seit einer Weile entwickelt sich auch dort der Trend bei den bestätigten Neuinfektionen seitwärts, je nach Interpretation sogar nach unten.
Die Frage ist: Ob der Marathon wirklich bis zum Ende gelaufen werden muss. Der Zeitpunkt, zu dem ein Impfstoff zur Verfügung steht, könnte dabei den entscheidenden Unterschied machen – und bei schnellem Vorhandensein die Lockdown-Strategie in ihrer Wirksamkeit bestätigen. Oder aber, je länger es dauert, die Selbstregulierung der Schweden.
Fest steht in jedem Fall: Alle, die derzeit die deutlich niedrigeren deutschen Todeszahlen hervorheben, sollten womöglich noch ein bisschen abwarten.
Abbildung: Elionas/Pixabay.
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Gerd Faulhaber (Mittwoch, 13 Mai 2020 17:09)
Danke für diesen fundierten und ausgewogenen Artikel. Eine Wohltat im Vergleich zu manchen journalistischen Marktschreiern.
Bernd Käpplinger (Freitag, 15 Mai 2020 00:39)
Ich kann mich fast nur dem vorherigen Kommentar von Herrn Faulhaber rundum anschließen. DANKE