Nächste Woche entscheiden Bund und Länder über mögliche Einschränkungen im Schulbetrieb. Müssen dann einige Klassenstufen wieder teilweise zu Hause lernen? Und wenn ja, was lässt sich aus den
Schulschließungen des Frühjahrs lernen? Eine Auswertung des Nationalen Bildungspanels gibt Antworten. Ein Gastbeitrag von
Manja Attig, Lena Nusser und Ilka Wolter.
DIE COVID-19-PANDEMIE könnte das Unterrichten und Lernen über die nächsten Monate hinweg zumindest zeitweise wieder aus dem Klassenkontext in die Familien der Schüler*innen verlagern. Damit würde erneut das durch Lehrkräfte angeleitete Lernen zu Hause in den Mittelpunkt rücken. Welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, und zwar sowohl bei den Schüler*innen und ihren Familien als auch in den Schulen, damit das Lernen zu Hause gelingt, ist eine viel diskutierte Frage in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Unsere heute veröffentliche Auswertung von Daten des National Bildungspanels (NEPS)* kann hierzu wichtige Anhaltspunkte geben.
Digitalisierung im Aufwind
Die schon lange geforderte Digitalisierung im Bildungssystem hat durch die Schulschließungen im Frühjahr 2020 einen deutlichen Aufschwung erfahren. Auf Seiten der Schulen und Lehrkräfte ließen sich große Anstrengungen und relativ zeitnahe Anpassungen an die digitale Umstellung während der Schulschließungen im Frühjahr 2020 erkennen. So zeigen unsere Auswertungen der NEPS-Daten, dass mehr als die Hälfte der Schüler*innen in der Sekundarstufe I ihre Lernmaterialien und weitere Informationen digital erhielt, unter anderem über Onlineplattformen oder via E-Mail – wobei Gymnasien digitale Kommunikationswege im Vergleich zu anderen Schulformen häufiger anboten. >>
Manja Attig leitet den Arbeitsbereich "Frühkindliche und schulische Bildung" am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBi). Ilka Wolter leitet die Abteilung "Kompetenzen, Persönlichkeit, Lernumwelten" am LIfBi, Lena Nusser den Arbeitsbereich "Lernumwelten" (von links).
>> Das Potenzial digitaler Lernformen wurde und wird allerdings bei Weitem nicht ausgeschöpft. Vor allem interaktive Kommunikationswege, virtuelle Konferenzen zum Beispiel, wurden von den Schulen eher selten zur Weitergabe von Lernmaterialien genutzt. Dies ist nicht verwunderlich, da vor allem die dafür nötigen technischen und didaktischen Voraussetzungen sich nicht so leicht und schnell umsetzen ließen. Und auch wenn knapp 90 Prozent der Haushalte schon im Frühjahr 2020 den nötigen Zugang zu Breitbandinternet und digitalen Endgeräten hatten, bedeutet das im Umkehrschluss, dass längst nicht alle Kinder ausreichend durch den Fernunterricht erreicht werden konnten.
Was bleibt von dem Schub?
Was blieb von dem Digitalisierungsstoß nach den ersten Schulschließungen, und was wird vom technisch-didaktischen Schub durch die Coronakrise insgesamt bleiben? Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat zur Beantwortung dieser Frage aktuelle Daten des Sozio-Oekonomischen Panels (SOEP) ausgewertet. Die Forscher*innen kamen zu dem Ergebnis, dass Gymnasien die neuen digitalen Lern- und Kommunikationsformen auch nach der Rückkehr zum Präsenzunterricht häufiger weiter einsetzten, während die Nutzung digitaler Formate an nicht-gymnasialen Schulformen nach dem Ende der Schulschließungen eher wieder zurückgegangen ist. Woraus folgt, dass besonders letztere Schulen mehr gezielte Unterstützung durch die Politik benötigen. Auf der Abseite ist festzuhalten, dass viele Lehrkräfte in der kurzfristigen Umstellung auf digitale Kommunikation im Frühjahr 2020 viele praktikable Lösungen gefunden haben, auf denen die weitere Schulentwicklung – bei der richtigen Förderung – aufbauen könnte.
Lernen fördern und begleiten
Unabhängig von der Schulform war überall derselbe Effekt während der Schulschließungen zu beobachten: Ohne die standardisierten Lernbedingungen und die Stundentafeln, die die Schulen bereitstellen, investierten Schüler*innen im Schnitt deutlich weniger Zeit in schulische Lernaktivitäten. So berichteten die im Rahmen des NEPS befragte Eltern von Achtklässler*innen, dass ihre Kinder durchschnittlich 16 Stunden pro Woche zu Hause gelernt hätten. Besonders wenig Zeit mit schulischem Lernen verbrachten leistungsschwächere Schüler*innen, die schon beim Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule in den Kompetenzbereichen Lesen und Mathematik unterdurchschnittlich abgeschnitten hatten. Sie kamen gerade einmal auf acht Stunden Lernzeit in der Woche. >>
Das NEPS
Das Nationale Bildungspanel (NEPS), beheimatet am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBI), besteht aus sechs großen Teilstudien, den sogenannten Startkohorten. Diese umfassen insgesamt mehr als 60.000 getestete und befragte Menschen von der Geburt über Ausbildungs- und Erwerbsphase bis in den Ruhestand hinein. Hinzu kommen 40.000 Personen aus ihrem Umfeld, zum
Beispiel Eltern oder Lehrkräfte. Die Stichproben der Startkohorten wurden repräsentativ für ganz Deutschland gezogen. Hinter dem NEPS steht ein interdisziplinär zusammengesetztes, deutschlandweiten Netzwerk, in dem zwölf Forschungsinstitute zusammenarbeiten. Die Bildungsforscherin Cordula Artelt leitet das NEPS und ist zugleich Direktorin des LIfBI.
>> Wenn Klassen wieder in den Fernunterricht wechseln müssen, kommt es also darauf an, bei den einzelnen
Schüler*innen genau hinzuschauen: Wie unterscheiden sich die Voraussetzungen zu Hause, und welchen Einfluss haben diese auf die realen Lernzeiten, wenn die Kinder und Jugendlichen eigenständig
lernen sollen? Cordula Artelt, die Direktorin des Leibniz-Instituts für Bildungsverläufe, fordert deshalb: "Um für die absehbare Entwicklung einer Verbindung von Präsenz- und Distanzlernen
gerüstet zu sein, müssen verstärkt Elemente der Lernförderung (Feedback, altersgerechte Motivierung und Unterstützung, virtueller Unterricht) in die auch digitalen schulischen Angebote für das
häusliche Lernen einfließen."
Die Eltern nicht vergessen!
Ein wichtiger Faktor für den Erfolg der Schüler*innen in der schwierigen Zeit der Schulschließungen sind die Eltern. Sind sie zufrieden mit der Unterstützung durch die Schule, sind die Lernaussichten ihrer Kinder besser und werden von den Eltern positiver eingeschätzt. Umgekehrt wirken sich Belastungen der Eltern auf den Fernunterricht aus.
Unsere NEPS-Auswertungen zeigen: Eltern fühlten sich dann weniger gestresst in der Zeit der Schulschließungen und erlebten die Belastungen und Herausforderungen als besser bewältigbar, wenn sie sich selbst dazu in der Lage sahen, ihre Kinder beim Lernen zu Hause gut unterstützen zu können. Allerdings schätzten ungefähr ein Viertel der Eltern ihre Fähigkeiten zur inhaltlichen Unterstützung ihrer Kinder als (eher) unzureichend ein. Hier können und sollten die Schulen mit zusätzlichen Hilfsangeboten für die Eltern ansetzen.
Ausblick
Eine Frage bleibt weiter unbeantwortet: Wie haben sich die Schulschließungen im Frühjahr tatsächlich auf die Leistungen und Kompetenzen von Kindern in der Sekundarstufe I ausgewirkt? Hierzu gibt es viele Vermutungen und Befürchtungen, aber wenig gesichertes Wissen. Deshalb wird das Nationale Bildungspanel dieser Frage gezielt nachgehen. Schüler*innen, die zum Zeitpunkt der ersten Schulschließungen die 8. Klasse besuchten, werden künftig über standardisierte Kompetenztests mit einer Altersgruppe Jugendlicher verglichen werden, die regulär durch das Bildungssystem gegangen sind. Womit das NEPS einmal mehr unter Beweis stellt: Es kann Fragen klären, die zum Zeitpunkt seiner Entstehung noch gar nicht gestellt werden konnten. Ergebnisse dürften Mitte 2022 vorliegen.
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Gerald Klenk (Samstag, 21 November 2020 11:38)
Dass nicht-gymnasiale Schulformen nicht bei digitalen Formaten blieben, liegt vielleicht weniger an mangelnder Unterstützung durch die Politik, sondern vielmehr an der pädagogischen Einsicht, dass Präsenzunterricht bedeutsamer ist als digitaler Fernunterricht, weil die zwischenmenschliche Nähe auch und gerade beim Lernen unersetzlich ist.