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"Die Notbremse hat nicht gewirkt"

Sten Rüdiger berechnet anhand von Mobilfunkdaten, wie oft Menschen einander begegnen. Das Ergebnis: Zuletzt sind die Kontakte sogar wieder mehr geworden. Warum die Inzidenzen trotzdem sinken und warum der Datenexperte entäuscht von der Politik ist: ein Interview.

Sten Rüdiger ist Mathematiker und Senior Data Analyst bei NET CHECK GmbH. Foto: privat.

Herr Rüdiger, Sie haben Mobilfunkdaten ausgewertet, um die Wirksamkeit der Bundesnotbremse zu analysieren. Ist es dafür nicht noch etwas früh?

 

Das ist ja gerade der Vorteil, wenn Sie wie wir mit Mobilfunkdaten arbeiten. Wir können quasi in Echtzeit beobachten, ob die Menschen ihre Kontakte einschränken oder nicht. Und deshalb können wir jetzt auch schon sagen: Nein, die Bundesnotbremse hat nicht gewirkt.

 

Aber die Inzidenzen sinken doch!

 

Ja, aber das liegt nicht an einer Verhaltensänderung der Menschen, sondern an der zunehmenden Impfquote.

 

Sie sind ein Unternehmen, das die Qualität von Mobilfunknetzwerken überprüft. Wie verlässlich ist Ihre Corona-Methode überhaupt?

 

Wir haben Zugriff auf die anonymisierten Mobilfunkdaten von über einer Millionen Menschen, die der Nutzung für Forschungs- und Marketingzwecke explizit zugestimmt haben. Das Besondere ist, dass wir nicht wie herkömmliche Mobilitätsanalysen nur den Bewegungsradius der Leute messen. Denn der sagt im Zweifel wenig aus über mögliche Ansteckungen. Zum Beispiel können sie viel unterwegs sein, aber die ganze Zeit allein im Auto sitzen. Wir gehen anders vor. Wir beobachten, ob es tatsächlich zu relevanten Kontakten kommt.

 

Wie das?

 

Nur wenn sich Menschen mit ihren Mobiltelefonen für längere Zeit in unmittelbarer Nähe zueinander befinden, ist die Wahrscheinlichkeit extrem groß, dass es zu Ansteckungen kommen könnte. Und das messen wir und berechnen einen Kontaktindex, den wir CX nennen. Wir haben in einer wissenschaftlichen Studie mit dem Hasso-Plattner-Institut und der Charité belegen können, dass unser Kontaktindex den vom Robert-Koch-Institut berechneten Reproduktionswert zwei bis drei Wochen im Voraus mit hoher Genauigkeit vorhersagen kann.


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Vielen Dank!



Was bedeutet das praktisch?

 

Das bedeutet, dass ein Anstieg unseres bundesweiten CX zwei, drei Wochen später mit höheren Infektionszahlen einherging. So haben wir die zweite Welle schon im September vorhersagen können. Umgekehrt war es genauso: Sobald unser CX sank, gingen wenig später auch die Infektionen zurück. 

 

Wenn die Bundesnotbremse nicht gewirkt hat, wie war das beim ersten Lockdown im vergangenen Jahr?

 

Genau wie beim zweiten im Herbst auch: Die Leute haben ihre Kontakte schon vor Inkrafttreten stark eingeschränkt. Und danach kaum noch. Die Bewältigung der Pandemie scheint also weniger mit den staatlich festgesetzten Kontaktregeln zu tun zu haben als mit dem Bewusstsein der Leute, dass sie sich in einer Krise befinden. Die natürliche Vorsicht der Leute wirkt stärker als jeder Lockdown. Und, wie man aktuell an der Bundesnotbremse sieht, das Gegenteil, gilt auch. 

 

Wie meinen Sie das?

 

Dass die Bundesnotbremse keinerlei messbaren Einfluss auf das Kontaktverhalten hat, dass wir tendenziell sogar einen Zugang an Kontakten sehen, liegt meines Erachtens daran, dass die Leute der Maßnahmen müde sind und dass sie zudem nicht glauben, dass die Ausgangssperre sich durchsetzen lässt.

 

Was erklären würde, warum die Infektionsraten sich etwa in der Schweiz auch ohne eine Verschärfung der Regeln ähnlich entwickeln zurzeit. Wenn die Bundesnotbremse allerdings so wirkungslos geblieben ist, wenn die Menschen sich sogar wieder häufiger treffen, müssten wir uns dann absehbar auf wieder mehr Neuinfektionen einstellen?

 

Zum Glück nicht. Denn die meisten Leute haben den ganzen Winter über ihre Kontakthäufigkeit sehr niedrig gehalten. Ohne Virusmutation hätte das vermutlich sogar gereicht, um die dritte Welle ganz zu vermeiden. So ist sie immerhin flacher verlaufen als die zweite, und die wachsende Zahl der Impfungen gleicht die zusätzliche Wirkung der Virusmutation auf den Reproduktionswert immer stärker aus – wodurch die Zahlen weiter fallen. Und das bleibt nach unserem Modell auch bis auf Weiteres so, denn die Zunahme der Kontakthäufigkeit seit Inkrafttreten der Bundesnotbremse verharrt zum Glück auf vergleichsweise niedrigem Niveau. 

 

Wie verteilen sich die von Ihnen gemessenen Kontakte eigentlich auf die Leute?

 

Extrem unterschiedlich. Bevor die Pandemie begann, konnten wir messen, dass 10 Prozent der Menschen etwa 90 Prozent des Kontaktindex ausmachen. Das waren die potenziellen Superspreader. In der Krise haben diese Menschen ihr Sozialleben besonders stark zurückgefahren, stehen trotzdem aber noch für 30 Prozent aller ansteckungsrelevanten Begegnungen. Und sie sind auch diejenigen, die, sobald sie zu ihren alten Gewohnheiten zurückkehren, die Reproduktionszahl besonders treiben. Falls sie dann noch ansteckend sein sollten.

 

Mit anderen Worten: Es kommt nicht nur darauf an, wie oft Menschen sich mit anderen treffen, sondern vor allem auch – wie viele Menschen auf einmal dabei sind?

 

Genau. Und darum wird es extrem spannend sein zu sehen, was passiert, sobald Großveranstaltungen wieder zugelassen werden – wo dann besonders viele der besonders kontaktfreudigen Menschen wieder aufeinandertreffen. 

 

Haben Sie Ihre Daten mal dem Robert-Koch-Institut (RKI) angeboten?

 

Dem RKI und auch dem Bundesgesundheitsministerium, im Dezember war das. Tatsächlich sind wir auf großes Interesse gestoßen, unsere Daten wurden im Februar bestellt, sollten in den RKI-Lockdown-Monitor eingebunden werden. Passiert ist das allerdings bis heute nicht, was ich enttäuschend finde. Auch für ein zweites Projekt, das wir dem Bundeswirtschaftsministerium vorgeschlagen haben, hat man uns eine Förderung in Aussicht gestellt. Doch die lässt auf sich warten. Schade – zumal ich glaube, dass die Politik die Daten in den vergangenen Wochen wirklich gut hätte brauchen können, um ihre Corona-Entscheidungen zu unterfüttern. 

 

Wie erklären Sie sich die Verzögerungen?

 

Ich kann es nicht erklären. Ich kann nur feststellen, dass die Bedeutung möglichst präziser Daten zum Monitoring der Pandemie von vielen in der Politik bis heute offenbar nicht ausreichend erkannt wurde. Sonst würde es längst auch repräsentative Stichproben geben, um verlässlich festzustellen, wie viele Menschen welchen Alters sich in welchen sozialen Zusammenhängen wann anstecken. Wir müssen dringend besser werden. Und unser Beispiel zeigt: Viele Daten sind ja da, wir müssen sie allerdings auch nutzen.

 

Dieses Interview erschien gestern in einer gekürzten Fassung zuerst in meinem Newsletter.  




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Kommentare: 3
  • #1

    Django (Donnerstag, 06 Mai 2021 15:12)

    Ich finde es beschämend, dass die Regierungen von Bund und Ländern trotz der zur Schau gestellten Wissenschaftsfreundlichkeit (und der grundsätzlichen Zustimmung zu "big data" als dem "nächsten großen Ding") offenbar nicht bereit sind, ihr Handeln empirisch zu überprüfen und ggf. zu korrigieren.

  • #2

    satireisttot@web.de (Freitag, 07 Mai 2021 09:27)

    Wenn von 14 Mio. Jugendlichen in Deutschland
    1.200 mit CoVid-19 ins Krankenhaus kommen und davon gerade mal 4 versterben und diese 4 ”Corona-toten Kinder” allerdings über 70 Verkehrs-toten Kindern im gleichen Zeitraum gegenüber stehen und eine solche wichtige Studie, die vielen Eltern die Sorgen vor einer tödlichen Corona Infektion ihrer Kinder nehmen würde, nicht sofort in einer Sondersendung publiziert wird, ja, von den ”Qualitätsmedien” generell unterschlagen wird, verstehen Sie sofort, warum auch das RKI natürlich diese Studie nicht berücksichtigt:
    Die Parole lautet: keine Nachrichten, die die Wirkung der Angst verbreitenden Schocktherapie beeinträchtigen könnte!

  • #3

    Uwe Borchert (Freitag, 07 Mai 2021 10:07)

    Es gibt eine sehr starke wetterfühligkeit von saisonalen Viren, wie Influenza-, RS- und Coronaviren. Das ist einfaches Basiswissen Medizinmeteorologie. Wir gehen jetzt in die Sommerpause. Zwischen Kalenderwoche KW 20 und KW 40 passiert da grundsätzlich nicht viel. In der Zeit gibt es nur ein paar Importe aus Klimazonen in denen gerade Saison ist und das war es dann. Das Verhalten und die Kontakte werden da immer noch total überbewertet, das Wetter ignoriert.

    Mir gehen die Wetterleugner langsam auf die Nerven. Folge der Wissenschaft kreischen, wirres wissenschaftsfernes Zeug schwurbeln und dann die einfachsten, seit den letzten Jahrhundert bekannten und erforschten Einflüsse des Wetter leugnen ist doch arg postmodern, postwahr und postfaktisch.