Bleibt die gegenwärtige Corona-Dynamik, wird in Berlin in der ersten Schulwoche die Inzidenz von 100 überschritten. Was geschieht da gerade, und was folgt daraus für Kinder und Erwachsene?
Die Entwicklung der täglichen Corona-Fallmeldungen in Berlin. Quelle: RKI-Covid-19-Dashboard.
REGIERUNGSSPRECHER STEFFEN SEIBERT hat neulich gesagt, es werde keinen "Automatismus" geben, dass bei steigenden Inzidenzzahlen wieder die Ende Juni ausgelaufene Bundesnotbremse greife. Die Entscheidung darüber werde von den Fallzahlen, den Impffortschritten und der Einschätzung von Wissenschaftlern abhängen.
Eine Aussage, die in Berlin schon in Kürze von Relevanz werden könnte. Dort hat die 7-Tages-Inzidenz laut Robert-Koch-Institut (RKI) 21,8 erreicht. Setzt sich das Fallwachstum der vergangenen zwei Wochen ungebrochen fort, läge sie am 9. August, dem ersten Schultag nach den Sommerferien, bei 93. Einen Tag später würde die 100 überschritten – so dass nach der bisherigen Notbremsen-Logik ab dem Freitag der ersten Schulwoche der Wechselunterricht beginnen müsste. Verlängern wir den Trend um noch ein paar Tage, so würde am 17. August die 165 genommen, ab 20. August, dem Freitag der zweiten Schulwoche, wäre also kompletter Distanzunterricht angesagt. Wenn die Notbremse noch in Kraft wäre.
Schluss mit dem Rechenspiel. Womöglich fällt die Wachstumsrate ja auch in den nächsten Tagen wieder, wobei es aktuell nicht danach aussieht. Und auch wenn die Bundesnotbremse nicht mehr gilt, ist zu befürchten, dass spätestens ab einer Inzidenz von 100 in Berlin die Debatte darüber wieder starten wird.
Andreas Schuppert von der RWTH Aachen hat bereits die 200 als neuen bundesweiten Grenzwert ins Spiel gebracht. Über diesem Wert müsse im Herbst eine Notbremse mit verschärften Verhaltensregeln greifen – jedenfalls wenn sich die Infektionen gleichmäßig über die Bevölkerung verteilten und Ältere nicht wirksam geschützt würden, sagte Schuppert der Stuttgarter Zeitung. Für die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) erstellt der Bioinformatiker regelmäßig ein Prognosemodell zur Auslastung der Intensivbetten für Covid-19.
Noch in der zweiten Schulwoche würde
in Berlin die 200er-Inzidenz überschritten
Womit ich doch noch einmal auf das Rechenbeispiel zurückkommen muss. Denn bei weiter gleichbleibender Wachstumsrate würde die 200 in Berlin nur zwei Tage nach der 165 erreicht: am 19. August. Noch in der zweiten Schulwoche nach den Sommerferien.
Nur hat Schuppert zwei wichtige Bedingungen für eine erneute Notbremse formuliert. Erstens: wenn sich die Infektionen gleichmäßig über die Bevölkerung verteilen. Aktuell ist das ganz und gar nicht so. Die neuen Corona-Fälle bei den Schulkindern nehmen, obgleich ungeimpft, deutschlandweit deutlich langsamer zu als in der Gesamtgesellschaft. In der aktuellen Kalenderwoche gilt das auch in Berlin, wo der Anteil der 5- bis 14-Jährigen an allen neuen Fällen nur noch bei 5,5 Prozent liegt – nach 5,9 Prozent in der Vorwoche. Auch Schupperts zweite Bedingung trifft derzeit nicht zu. Die Über-50-Jährigen stehen nur noch für 8,3 Prozent der neuen Fälle – nach den ohnehin schon sehr niedrigen 9 Prozent in der Vorwoche.
Wo aber kommt dann die enorme Dynamik in Berlin her? Die Antwort ist erstaunlich eindeutig: aus der Altersgruppe der 20- bis 29-Jährigen. Sie stellten in der vergangenen Kalenderwoche 40,0 Prozent aller neuen Corona-Fälle der Hauptstadt, in dieser Woche sind es bislang schon 40,4 Prozent. Weitere 27,1 Prozent trugen vergangene Woche die 30- bis 39-Jährigen bei, diese Woche sinkt ihr Anteil auf derzeit 25,5 Prozent. Mit anderen Worten: 20 Altersjahrgänge vereinen in der Hauptstadt zwei Drittel der Neuinfektionen auf sich.
Die Erwachsenen machen sich locker,
unterstützt von der Politik
Weshalb sich drei Schlussfolgerungen aufdrängen. Die erste: Die Impfungen wirken auch bei der Delta-Variante ziemlich verlässlich, was man am niedrigen und weiter zurückgehenden Infektionsanteil der Älteren sieht. Wobei sie sich vom Trend – leider – nicht völlig abkoppeln können. Die zweite: Die Lockerungen und der Urlaub spiegeln sich zusammen mit der noch niedrigen Impfquote besonders bei den jungen Erwachsenen in drastischer Weise in steigenden Corona-Zahlen wider. Offenbar sind sie die Einschränkungen ihrer Freiheiten extrem Leid und verhalten sich entsprechend. Die dritte: Die Kinder und Jugendlichen laufen wie schon in den Wellen zuvor dem allgemeinen Infektionsgeschehen hinterher, sie laufen ihm nicht voraus.
Die dritte Schlussfolgerung scheint in Berlin aktuell besonders wichtig zu sein. Denn dort hatte die rot-rot-grüne Koalition versucht, die Schulen trotz niedriger Inzidenzen bis zu den Sommerferien im Wechselunterricht zu halten – mit Hinweis auf die vermeintliche Rolle der Schulen im Infektionsgeschehen gerade angesichts der Delta-Variante. Nachdem ein Gerichtsurteil diesen Plan vereitelte, hatten auch die Berliner Schüler bis zu dem Sommerferien noch einige Tage vollen Präsenzunterricht – mit trotzdem weiter zurückgehenden Infektionszahlen bei den Kindern und Jugendlichen. Was sich mit der Entwicklung in allen anderen Bundesländern deckte, wo zum Teil schon deutlich länger wieder Unterricht in voller Klassenstärke stattfand.
Zuletzt ergab dann ein Vergleich zwischen Bundesländern mit und ohne Schulferien, dass dort, wo sich die Kinder noch nicht in der Sommerpause befinden, ihre Infektionszahlen spürbar langsamer stiegen. Der Urlaub, nicht der Unterricht, wirkt sich also derzeit auf ihre Corona-Dynamik aus.
Es waren und sind nicht die Kinder – trotzdem
wird vor allem über die Schulen diskutiert
Wenn nun also nach den Sommerferien die Inzidenzen in Berlin (und womöglich kurz darauf auch anderswo) gen oder über 100 steigen sollten, wenn dann über neue Bundesnotbremsen diskutiert wird, wäre es Ausdruck einer empiriebefreiten Politik, wenn diese als erstes wieder über eine Abkehr vom vollen Präsenzunterricht oder über neue Einschränkungen in den Kitas diskutieren würde. Es waren und es sind nicht die Kinder. Auch wenn in Berlin wie im Bund im September gewählt wird, sollte dies nicht erneut vergessen werden.
Es waren und es sind die Erwachsenen, die sich (vertreten durch ihre Politiker) selbst von der Testpflicht beim Einkaufen befreit haben, die nach Mallorca, Kopenhagen oder Amsterdam in den Urlaub wollen, die wieder eng gedrängt und durcheinander in Restaurants sitzen, die wieder zusammen feiern, privat oder bei Großveranstaltungen mit hunderten oder tausenden Leuten. Die Erwachsenen sind es, die Wähler, die unterstützt von Landesregierungen, die den Schuss noch nicht gehört haben, auf die Abstands- und Corona-Regeln pfeifen. Während zum Beispiel in vielen Kitas die Gruppen immer noch getrennt sind, Indoor-Spielplätze geschlossen bleiben und Kita-Abschiedsfeiern ohne Geschwister stattfinden.
Genau dies wird jedoch gerade nicht diskutiert. Gefühlte 80 Prozent der Corona-Debatte drehte sich stattdessen in den vergangenen vier Wochen wieder einmal um die Rolle von Schulen und die Anschaffung von Luftfiltern für alle Klassenzimmer. Letzteres kann als zusätzliche Maßnahme sinnvoll sein. Das Gegenteil von sinnvoll ist, durch diese Debatte zu suggerieren, die Luftfilter seien die neue Voraussetzung für verantwortbaren Präsenzunterricht.
Denn der beste Schutz der Kitas und Schulen kommt von außen. Von Erwachsenen, die endlich ihre Verantwortung gegenüber den Kindern und Jugendlichen wahrnehmen. Durch mehr Selbstdisziplin. Und wenn sie diese vermissen lassen und dadurch mit Verzögerung auch die Infektionszahlen bei den Kindern und Jugendlichen treiben, zumindest durch das Commitment, diese nicht auch noch mit erneuten Schulschließungen dafür zu bestrafen.
Was eine empiriebasierte
Politik tun würde
Anders ausgedrückt: Wenn demnächst vor allem ungeimpfte Erwachsene die Intensivstationen füllen sollten, müssen auch die Erwachsenen die größten Einschränkungen tragen. Das mögen die bereits Geimpften als unfair erachten. Am unfairsten wäre, stattdessen wie bislang immer die Kinder und Jugendlichen am stärksten (und vorrangig fremdnützig) in die Pflicht zu nehmen.
Zu einer empiriebasierten Politik würde also gehören, Kitas und Schulen bei künftigen Notbremsen aller Art auszunehmen oder sie zumindest erst unter sehr viel höheren Inzidenzen unter Kindern und Jugendlichen greifen zu lassen.
Lange, nachdem erstmals eine echte Homeoffice- und Testpflicht für Beschäftigte eingeführt würde, was Bund und Länder bislang konsequent vermieden haben und dabei spätestens jetzt dringend tun sollten. Lange nach neuen Reiseeinschränkungen oder der nochmaligen Schließung von Restaurants oder Läden, was viele Politiker brisanterweise und im Gegensatz zu Wechselunterricht an den Schulen als künftige Corona-Maßnahme nahezu ausgeschlossen haben.
Realistisch? Zumindest sollte es das sein für eine Politik, die ihre Entscheidungen an Fakten und wissenschaftlichen Erkenntnissen orientiert und nicht an der Frage, welche Maßnahmen am meisten Wählerstimmen bringen oder kosten. Eine solche Politik würde sich die Inzidenzgrenzen für erneute Schulschließungen auch allein von Kinder- und Jugendmedizinern empfehlen lassen – denn die haben am besten im Blick, ob mögliche Corona-Erkrankungen oder deren Folgen (Stichworte Long Covid, PIMS) in ihren Dimensionen die Schäden durch Kita- und Schulschließungen übersteigen.
Berlin, das zeigt sich immer deutlicher, könnte zu alldem bald die ersten Aha-Effekte der vierten Welle liefern.
Nachtrag am 21. Juli, 12 Uhr:
Eva Hummers ist Direktorin des Instituts für Allgemeinmedizin der Universitätsmedizin Göttingen und seit 2011 Mitglied der Ständigen Impfkommission (STIKO). Sie warnte im Mannheimer Morgen, jetzt nicht voreilig auf die Impfung von Kindern zu drängen. Es sollten sich primär Erwachsene impfen lassen. "Es kann ja nicht sein, dass wir jetzt die Kinder in die Verantwortung nehmen und sagen, sie müssen sich impfen lassen, um impfunwillige Erwachsene in ihrem Umfeld zu schützen." Es sei immer noch nicht klar, "ob die Impfung möglicherweise oder in welchem Umfang sie möglicherweise für die Kinder eine Gefährdung ist". Erwachsene hingegen würden die Impfstoffe im Allgemeinen sehr gut vertragen und seien außerdem diejenigen, die selbst durch Covid-19 gefährdet seien. Bisher unbegründet sei zudem die Befürchtung, dass Kinder in relevantem Umfang Erwachsene anstecken würden: "Meist wurde das Virus durch Erwachsene zum Beispiel in die Schulen hineingetragen." (zitiert nach einem Beitrag auf Tagesschau.de).
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Stefan Eichardt, 29221 Celle (Mittwoch, 21 Juli 2021 19:55)
Die Politik ist vor allem daran interessiert, ihren bisherigen Kurs durch Beibehaltung als den richtigen auszuweisen. Daher werden Fehlerkorreturen als Gesichtsverlust gesehen. In Fehleinschätzung der epidemiologischen Lage im Sommer 2020 wurde auf Virenfilter für Schulen (nicht für Regierungsgebäunde & Gerichte) verzichtet (Kostenpunkt für alle Unterrichtsräume ca. 1,5 Milliarten).
Was Virenfilter angeht ist die Politik vor allem daran interessiert, die Diskussion zu verunklaren u.a. mit Unterstützung der UBA & Prof. Kriegel.
Ein mobiler Hochleistungsraumluftreiniger auf HEPA-14 Basis und sechsfachen Luftwechsel schützt nicht vor direkter Infektion (Tröpchen), aber zuverlässig gegen indirekte Infektion (Aerosole). Sprich, mit einem Virenfilter erspart man sich das Lüften während des Unterrichts und es ist effektiver als Stoßlüften, da von weniger Parametern abhängig. Gelüftet wird dann wie seit Jahrzehnten in der Unterrichtspause. Detailliertere Angaben hierzu bei Prof. Kähler von der Bundeswehr Uni München
Kein Amtsträger (Donnerstag, 22 Juli 2021 20:29)
wird das Risiko eingehen und sich aktiv für eine Durchseuchung der Schulen einsetzen (z.B. durch Beendigung der Schnelltests). Da bei hoher Inzidenz Infektionen einfach von außen in die Schulen getragen werden, schließen diese dann nach und nach wegen Quarantäne. Das hört erst auf, wenn in der Schule Herdenimmunität erreicht ist. Durch konsequente Impfung ginge das am schnellsten. Frau Hummers und Co. verhindern Schule.