Jetzt warnt auch der Deutsche Lehrerverband vor der "Durchseuchung" der Kinder und Jugendlichen in diesem Winter. Was genau soll da eigentlich drohen? Und was soll diese Debatte? Eine Analyse.
ES IST EIN WIRKMÄCHTIGER BEGRIFF, der Aufmerksamkeit garantiert in der Corona-Debatte – und erst recht in der immer besonders aufgeregten Diskussion über Schulen, Kinder und die Pandemie: Durchseuchung.
Heinz-Peter-Meidinger, der Vorsitzende des Deutschen Lehrerverbandes, weiß das. Er ist ein Profi in Sachen Öffentlichkeitsarbeit und hat der WELT erst jüngst wieder eines dieser Zitate geliefert, die, weiterverbreitet über die Nachrichtenagenturen, in den Medien rauf und runterlaufen, weil sie so schön nach klarer Kante klingen.
Niemand könne ausschließen, dass wegen der Delta-Variante und der mangelnden Impfquote eine "enorme vierte Welle" komme, in der dann auch wieder Wechselunterricht nötig werde, sagte Meidinger. "Wer jetzt verspricht, dass es im nächsten Jahr auf jeden Fall vollständigen Präsenzunterricht geben wird, begibt sich auf dünnes Eis. Präsenzunterricht um jeden Preis bedeutet, die Durchseuchung der Schulen in Kauf zu nehmen. So ehrlich sollte die Politik das schon sagen."
Die Botschaft, die kaum verklausuliert mitschwingt: Meidinger ist so ehrlich. Die Kultusminister sind es nicht.
Nur was genau will der Verbandspräsident eigentlich sagen, wovor warnt er und warum?
Was das Wort
eigentlich bedeutet
Wikipedia definiert Durchseuchung, "auch Infektionsprävalenz genannt", als "den Verbreitungsgrad einer endemischen Infektionskrankheit in einer Population zu einem bestimmten Zeitpunkt." Durchseuchung ist demzufolge kein Vorgang, sondern ein gradueller Zustand, der je nach Infektionskrankheit und Region unterschiedlich hoch sein kann.
Doch klingt das Wort so dramatisch, dass es im allgemeinen Sprachgebrauch derzeit anders eingesetzt wird. Dann steht "Durchseuchung" plötzlich dafür, dass die gesamte Bevölkerung oder bestimmte Altersgruppen absichtlich oder zumindest in Kauf genommen mit Infektionen geflutet werden, so dass am Ende fast alle sie gehabt haben. Dies drohe derzeit vor allem den Kindern und Jugendlichen, so lauten die Warnungen – weil diese noch gar nicht oder kaum geimpft seien. Und es drohe ihnen umso mehr, wenn die Kitas und Schulen im Herbst auch bei hohem Infektionsgeschehen offenbleiben sollten. In Kauf nehmen das dieser Logik folgend dann die verantwortlichen Kultusminister und, derzeit besonders heftig kritisiert, die Mitglieder der Ständigen Impfkommission (STIKO), die sich bislang geweigert haben, eine Impfempfehlung für Kinder und Jugendliche über 12 Jahre auszusprechen.
Wenn man den Begriff der "Durchseuchung" dann noch mit den Schlagwörtern "Long Covid" und "PIMS" verbindet (und mit Warnungen, die Delta-Variante werde diese auch bei infizierten Kindern in großer Zahl auslösen), ist das Szenario komplett. Ist es das, wovor auch Meidinger warnen will, wenn er von "um jeden Preis" raunt?
Doch an der Stelle bleibt der langjährige Gymnasialdirektor aus Bayern, der so gern auf Klartext macht, erstaunlich vage. Kein Wunder. Er ist schlau genug, um zu wissen, dass die Verbände der Kinder- und Jugendärzte derzeit keine Anhaltspunkte für eine massenhafte Gefährdung der Kinder und Jugendlichen durch die neue Virusvariante sehen und dass ihnen zufolge "Long Covid" und "PIMS" weiter nur in seltenen Fällen nachgewiesen werden kann. Was übrigens auch der Grund für die STIKO ist, die grundsätzliche Impf-Empfehlung bislang zu verweigern: Der Nutzen der Impfung für die Kinder und Jugendliche erscheint den Mitgliedern des Gremiums noch zu ungewiss, genauso wie sie die möglichen Nebenwirkungen bislang für zu wenig erforscht halten.
Geschätzte sechs Prozent
Durchseuchung in 18 Monaten
Das Narrativ der "Durchseuchung", das auch Meidinger bedient, verdient in dem Zusammenhang ebenfalls eine genauere Betrachtung. Der offizielle Corona-Durchseuchungsgrad der Unter-18 Jährigen liegt in Deutschland derzeit bei etwa 3,6 Prozent oder anders formuliert: 491.922 von 13,75 Millionen Kindern und Jugendlichen haben eine registrierte Corona-Infektion durchgemacht. Wie groß die Dunkelziffer der nicht erkannten Fälle ist, weiß keiner – weil das Robert-Koch-Institut (RKI) keine regelmäßigen repräsentativen Stichproben zieht. Das RKI selbst geht anhand der wenigen Daten, die es hat, davon aus, dass es etwa 1,8 mal so viele Infektionen bei Erwachsenen gegeben haben könnte, wie offiziell gemeldet wurden. Was bezogen auf die Kinder und Jugendlichen auf einen tatsächlichen Durchseuchungsgrad von 6,4 Prozent hinauslaufen würde.
So viele Fälle gab es in 18 Monaten. Eine vollständige "Durchseuchung" der Kinder und Jugendlichen, wie Mahner sie befürchten, würde bei gleichbleibendem Tempo und ohne Impfungen weitere 281 Monate dauern – mehr als 23 Jahre. Nur dass dann die heutigen Kinder und Jugendliche schon längst keine mehr wären. Und selbst für den Fall, dass die 7-Tages-Inzidenz bei allen Unter-18-Jährigen auf den bisherigen Höchstwert von 275 (erreicht Anfang März für eine einzige Woche allein in der Altersgruppe der 15-bis 19 Jährigen) steigen und dort auf Dauer verharren würde, also inklusive Dunkelziffer bei einer Inzidenz von um die 500, würden trotzdem nochmal mehr als dreieinhalb Jahre vergehen, bis die "Durchseuchung" komplett wäre.
Die theoretische Durchseuchung der Schulen in einem einzigen Winterhalbjahr würde demgegenüber sogar monatelange reale Inzidenzen bei den Kindern und Jugendlichen von 4000 und mehr erfordern.
Ist es wirklich angemessen, vor so etwas ernsthaft zu warnen? Trotz aller bereits vorhandenen Corona-Sicherungsmaßnahmen in den Schulen? Zumal es derzeit mal wieder so aussieht, als steckten sich Kinder anderswo häufiger an als im Unterricht, aktuell zum Beispiel im Urlaub. Auch hat die STIKO nie ausgeschlossen, dass sie in absehbarer Zeit zu einer Neubewertung der Studienlage kommen und dann die Impfung der 12- bis 17-Jährigen doch grundsätzlich empfehlen wird. Ebenso wahrscheinlich wird es schon in einigen Monaten Impfangebote für die Unter-12-Jährige geben.
Warum also diese Warnungen vor einer "Durchseuchung", die in dem Tempo und in dem Umfang, wie die Mahner sie offenbar verstehen, nie kommen wird? Eines bewirkt sie ganz sicher: Der Druck auf Eltern, ihre Kinder impfen zu lassen, steigt – auch bevor die STIKO dies gutheißt.
Ein Krankenhausaufenthalt kommt
auf 81 Infektionsmeldungen
Noch ein paar Zahlen zum Einordnen. Aus den 374.596 Corona-Fällen bei den 0- bis 14-Jährigen folgten bislang 4610 Krankenhauseinweisungen, eine Relation von 81 zu 1. Rechnet man wiederum die mögliche Dunkelziffer drauf, ergab etwa jede 150. Infektion einen Krankenhausaufenthalt. Eine entsprechend Abgrenzung der 15- bis 18-Jährigen ist anhand der RKI-Daten nicht möglich. Das "PIMS Survey" der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) verzeichnete seit Ende Mai 2020 392 Krankenhauseinweisungen mit einer PIMS-Diagnose entsprechend der WHO-Falldefinition. 5,5 Prozent (22 Kinder und Jugendliche) wurden mit Folgeschäden aus dem Krankenhaus entlassen. Von den mit Covid-19-Befund eingewiesenen jungen Corona-Patienten behielten 0,4 Prozent Folgeschäden zurück. Was in absoluten Zahlen auf die bisherige Pandemie deutlich weniger als 100 Fälle bedeutet. Zu Ausprägung und Häufigkeit von "Long-Covid"-Krankheitsbildern liegen laut DGPI für Kinder und Jugendliche immer noch keine belastbaren Daten vor.
Zurück zur "Durchseuchung" mit Covid-19. Eine vollständige Durchseuchung aller Kinder und Jugendlichen innerhalb weniger Monate, die wie gesagt vollkommen abwegig ist, würde hochgerechnet auf etwa 75.000 Krankenhausaufenthalte bei Unter-14-Jährigen hinauslaufen, von denen wiederum geschätzten 0,4 Prozent mögliche Folgeschäden drohen. Zur Einordnung: Jedes Jahr kommen etwa 200.000 Kinder wegen einer schweren Verletzung ins Krankenhaus.
Und was ist nun mit Meidingers Warnung, die so ähnlich vom SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach, aber auch von vielen anderen vor allem in den Sozialen Medien geäußert wird: Wem bringt diese immer weitere Emotionalisierung der Debatte etwas? Und warum betreibt ein Lehrerverband sie fleißig mit, wissend, dass der öffentliche Druck erneute präventive Schulschließungen tatsächlich wieder wahrscheinlicher macht? Warum setzt er sich stattdessen, nachdem nun die meisten Lehrkräfte geimpft sind und alle ein Impfangebot hatten, nicht für das unbedingte Offenhalten der Schulen ein, abgesehen von Fällen konkreter Ausbrüche – und für den Ausschluss flächendeckenden Wechselunterrichts? Warum benennt er nicht die Risiken einer Infektion nüchtern und stellt sie den Risiken der (teilweisen) Schulschließungen entgegen: Lernlücken, wachsende soziale Ungleichheiten, Karrierenachteile für Frauen, familiäre Verwerfungen, aber auch und gerade die zunehmenden Fälle von Gewalt und Kindeswohlgefährdungen?
Und warum überlässt er die Schlussfolgerungen aus dieser medizinisch-ganzheitlichen Abwägung, gerade was die Erkenntnisse zu Long Covid und PIMS angeht, nicht den Kinder- und Jugendärzten und ihren Verbänden? Die natürlich auch sehr aufmerksam beobachten, welche Dynamiken sich durch die Delta-Virusvariante noch ergeben könnten und was daraus folgt.
Das sind die Fragen, die mich umtreiben und die Meidingers Statement plötzlich anders aussehen lassen: als das Gegenteil von klarer Kante.
Nachtrag am 23. Juli 2021, 23 Uhr:
Weil einige Nachfragen hierzu kamen, möchte ich eines abschließend betonen: Ich gehe sehr wohl davon aus, dass es aufgrund der inzwischen vorherrschenden Delta-Virusvariante zu hohen und
teilweise sehr hohen Inzidenzen kommen könnte, und das möglicherweise schon bald, siehe hierzu meinen Artikel vom Mittwoch. Natürlich wird dies dann auch junge Menschen stark betreffen, so dass das von mir beschriebene
Szenario einer realen 7-Tages-Inzidenz von 500 oder sogar mehr zumindest in bestimmten Altersgruppen zwischenzeitlich denkbar ist. Das lässt sich schon aus den Entwicklungen in anderen Ländern
ableiten. Was ich jedoch für komplett abwegig halte (weil Wellen eben so nicht ablaufen und die immer höhere gesellschaftliche Impfquote dazu kommt): dass solch hohe Inzidenzen über Wochen
und Monate anhalten. Und wie gesagt: Selbst eine Inzidenz von 500, die vier Wintermonate über bliebe, würde den Anteil der Kinder und Jugendlichen mit durchgemachter Infektion auf weniger als ein
Fünftel steigen lassen.
Was allerdings absurd wäre: jetzt in die bereits laufende vierte Welle hinein weiter zu lockern, was das Zeug hält (wie etliche Bundesländer es noch tun), und dann in wenigen Wochen umso stärker bremsen müssen – dann, so steht zu befürchten, erneut vor allem bei Kindern und Jugendlichen. Wir brauchen jetzt eine angemessene Reaktion der Ministerpräsidenten.