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Das Pandemie-Argument passt hier nicht

Zwei Bundesministerinnen lehnen eine Dienstpflicht mit dem Hinweis ab, junge Menschen hätten in der Corona-Zeit genug mitgemacht. Das stimmt. Doch die systematische De-Priorisierung von Kindern und Jugendlichen hat mit Steinmeiers Vorschlag so gar nichts zu tun.

BUNDESBILDUNGSMINISTERIN Bettina Stark-Watzinger (FDP) ist entschieden dagegen. Über zwei Jahre lang hätten sich junge Menschen für die Gesellschaft zurückgenommen und auf vieles verzichtet. "Ein staatlicher Eingriff in den Lebenslauf ist so ziemlich das letzte, was sie jetzt brauchen", schrieb sie bereits am Sonntag auf Twitter. "Eine Dienstpflicht wird es mit uns nicht geben."

 

Der Kommentar von Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) wies ebenfalls am Sonntag darauf hin, dass viele junge Menschen sich bereits "mit Herzblut" in den Freiwilligendiensten engagierten. Eine Dienstzeit würde aus der Motivation eine Pflicht machen. Außerdem: Junge Menschen hätten in Zeiten der Pandemie auf vieles verzichtet und sich solidarisch mit den Älteren verhalten. "Wir sollten sie über die Gestaltung ihres Lebensweges weiterhin frei entscheiden lassen."

 

Nur ein paar Stunden vorher hatte die Bild am Sonntag einen entsprechenden Vorstoß von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier veröffentlicht. Die rasche und teilweise bis in Argumentationsdetails gehende Einheitlichkeit der Ablehnung durch FDP, Grüne und andere deutet darauf hin, dass hier zunächst reflexartig reagiert wurde. Was auf eine gewisse Weise sogar nachvollziehbar wäre, handelt es sich doch um die wiederholte Neuauflage einer Debatte, die 2018 zum Beispiel von Annegret Kramp-Karrenbauer, damals CDU-Generalsekretärin mit Vorsitz-Ambitionen, gestartet wurde.

 

Was aber hatte der Bundespräsident eigentlich genau gesagt? "Es geht um die Frage, ob es unserem Land nicht guttun würde, wenn sich Frauen und Männer für einen gewissen Zeitraum in den Dienst der Gesellschaft stellen." Ob bei Bundeswehr, bei der Betreuung von Senioren, in Behinderteneinrichtungen oder Obdachlosenunterkünften: Die Einführung einer solchen sozialen Pflichtzeit, die auch kürzer als ein Jahr sein könne, werde sicherlich nicht einfach, eine Debatte darüber halte er aber in jedem Fall für angebracht.

 

Das Pandemie-Argument
ist kein gutes

 

Die Debatte darüber. Man könnte hinzufügen: ergebnisoffen, nachdenklich, ohne Voreingenommenheit. Ganz bestimmt werden in deren Verlauf sehr gute Argumente für eine Dienstpflicht kommen. Und sehr gute dagegen. Vielleicht sogar mal ein paar neue.

 

Das Pandemie-Argument allerdings, das, des Eindrucks kann ich mich nicht erwehren, diesmal zum Totschlagen der Diskussion eingesetzt wird, ist kein gutes. Gerade weil die Kinder und Jugendlichen massiven – und über weite Strecken einseitigen – Einschränkungen ausgesetzt wurden. Über die ich auch hier im Blog wieder und wieder berichtet habe – inklusive der These, dass es in einer solidarischen Gesellschaft genau umgekehrt liefe. Da würden sich Erwachsene in ihren sozialen Kontakten zugunsten der Kinder und Jugendlichen zurücknehmen.

 

Stattdessen gingen die Schulen monatelang in den Distanz- und Wechselunterricht, wurde die meiste Zeit nur für Kinder eine Testpflicht eingeführt – mit der Folge massiv hoher Quarantänezahlen, während mutmaßlich bei Erwachsenen ein viel höherer Anteil von Infektionen unentdeckt blieb. Erst in den vergangenen Monaten werden mehr und mehr die Auswirkungen auf die körperliche Gesundheit und die psychosoziale Entwicklung deutlich, vor denen Experten von Beginn an gewarnt hatten. Und die Lernrückstände vor allem bei den schon vor Corona Benachteiligten zeichnen sich ab. Was davon mit den Schulschließungen zusammenhängt, wird sich kaum ermitteln lassen und zu weiteren wenig fruchtbaren Kontroversen führen.

 

"Ich weiß nicht, ob man aktuell gut über einen Pflichtdienst streiten kann", twitterte derweil die Klimaaktivistin Luisa Neubauer. Angesichts von "jugendpolitischem Versagen in der Pandemie und zukunftspolitischem Herumgetrampel in der Klimakrise ist es schlicht schwer zu glauben, dass man gerade kategorisch das Beste für die Jungen will."

 

Die systematische De-Priorisierung
von Kindern bekämpfen

 

Fest steht aber auch: Nichts davon wird besser, wenn mit Hinweis auf die Corona-Einschränkungen die Debatte über eine soziale Dienstzeit ausgebremst wird. 

 

Besser wäre es, wenn Politiker:innen der unterschiedlichen Parteien sich darauf konzentrieren würden, die systematische De-Priorisierung von Kindern und Jugendlichen und ihrer Belange in unserer Gesellschaft zu bekämpfen. Die, darauf weist Neubauer hin, viel älter als die Pandemie ist und zugleich Grund, warum die deutsche Pandemie-Politik überhaupt ausfiel, wie sie ausfiel. Nur deshalb wurden auch die Folgen für Kinder und Jugendliche so wenig abgemildert.

 

So hat gerade erst wieder eine Umfrage des Paritätischen Wohlfahrtverbands unter 1200 Kitaleiter:innen den dramatischen Personalmangel gezeigt – und die schlechte Ausstattung von Kitas gerade dort, wo viele Kinder in Armut aufwachsen oder auf besondere Unterstützung angewiesen sind. Ärzteverbände mahnen vor dramatischen Versorgungsengpässen an Kinderkliniken und auf Kinderintensivstationen. Kinder und Jugendliche warten teilweise ein Jahr und länger auf einen Psychotherapie-Platz. 

 

In ihrer aufkommenden Haushaltsnot fangen die Bundesländer das Kürzen auch an den Schulen an. In Berlin ist der Lehrermangel so groß, dass selbst das Anwerben von Quereinsteigern nicht mehr reicht. Bildungsforscher:innen stellten schon vor Corona einen Trend bei den Schülerleistungen nach unten fest, der sich beim nächsten Bundesländervergleich genauso wie beim internationalen PISA-Test verfestigen dürfte. Wiederum besonders betroffen: Schüler aus sozial benachteiligten Familien.

 

Für wen wäre eine Dienstzeit denn nun gut,
und unter welchen Umständen?

 

Die Ampel hat den qualitativen Ausbau von Kita und Ganztag versprochen, dazu ein milliardenschweres "Startchancen"-Investitionsprogramm für tausende Schulen in schwieriger Lage. Übrigens alles Dinge, die richtig viel Geld kosten. Von dem die Ampel-Koalition immer weniger hat. Droht die nächste Stufe der De-Priorisierung von Kindern und Jugendlichen? Hier könnten Bettina Stark-Watzinger, Lisa Paus und viele andere mit ihrem Einsatz eine Menge bewirken, jeder und jede in ihrem eigenen Zuständigkeitsbereich. Und dabei den Kindern und Jugendlichen wirklich ein Stückweit Gerechtigkeit widerfahren lassen. 

 

Mit alldem so gar nichts zu tun hat die Frage, ob eine soziale Dienstzeit eine gute Sache wäre und für wen: für die Gesellschaft. Aber auch für die jungen Erwachsenen? Und wenn ja, unter welchen Umständen? Vielleicht braucht es diese Debatte sogar ausgerechnet jetzt, um die Belange der Jugendlichen in die Öffentlichkeit zu bekommen. Und sie läuft mittlerweile ja auch auf  Hochtouren, das mit dem Abwürgen hat nicht geklappt. Wie wäre es also, wenn man das Nachdenken über eine Pflichtzeit verbinden würde mit der Suche nach Antworten in der Klimakrise? Oder gar wenn man den Fokus erweiterte auf die Alternative einer (eventuell nur ein paar Monate langen) Dienstzeit unabhängig vom Lebensalter, die jeder und jede in selbstgewählter Form und zu einem persönlich passenden Zeitpunkt, nicht aber zwangsläufig in der Jugend, zu erfüllen hätte?

 

Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke), schon länger ein Befürworter eines sozialen Pflichtdienstes, wies laut Nachrichtenagentur dpa darauf hin, dass es in Form der Schulpflicht längst einen Zwang gebe, weshalb er dafür werbe, "mit ein bisschen mehr Gelassenheit das Thema anzugucken." Und zu diskutieren, ob man nicht noch ein Jahr "dazu definieren" könne – solange der Dienst bei der Ausbildung anerkannt würde. Ob die Argumentation mit der Existenz einer Pflicht für die Installation einer anderen überzeugend ist, bleibt dahingestellt. Aber es ist eine Argumentation. Inhaltliche Gegenreden zu Ramelows Position sind herzlich willkommen. 



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