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Auf die Sprache kommt es an

Ein Fünftel aller Kinder wächst in Familien auf, in denen kein oder nur wenig Deutsch gesprochen wird. Ist den Kultusministern wirklich bewusst, was das bedeutet? Ein Gastbeitrag von Horst Weishaupt.

NACH DEN ERGEBNISSEN des Mikrozensus 2021 haben 40 Prozent der Kinder unter 15 Jahren in Deutschland einen Migrationshintergrund. Mehr als ein Viertel der Kinder in Deutschland wachsen in Familien auf, in denen eine andere Sprache als Deutsch gesprochen wird. Darunter leben mehr als fünf Prozent in Familien, in denen gar kein Deutsch gesprochen wird. Noch handelt es sich mehrheitlich um Kinder, die im Ausland geboren wurden und eine ausländische Staatsangehörigkeit haben. Doch hat inzwischen fast die Hälfte der Kinder in Familien mit vorwiegend nichtdeutscher Familiensprache die deutsche Staatsbürgerschaft. 


Horst Weishaupt ist emeritierter Professor für Empirische Bildungsforschung an der Bergischen Universität Wuppertal und dem DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation. Foto: privat.

Aufschlussreich ist die Vielfalt der in den Familien gesprochenen Sprachen (Abbildung 1), die die unterschiedlichen Zuwanderungsgruppen widerspiegeln. Arabisch ist inzwischen unter den Kindern mit nichtdeutscher Familiensprache die mit Abstand wichtigste nichtdeutsche Sprache, nicht mehr  Türkisch. Das hängt damit zusammen, dass ein Teil der Türken in Deutschland in der Familie Kurdisch spricht. Die übrigen Kurdisch sprechenden Familien stammen meist aus dem Irak und Syrien. Arabisch sprechen vor allem Familien, die aus Syrien, dem Irak, Marokko, dem Libanon und anderen nordafrikanischen Mittelmeer Anrainerstaaten stammen. Neben Englisch – das von Briten, Amerikanern, Indern und Pakistanis gesprochen wird – sind noch Albanisch (das auch in


Nordmazedonien gesprochen wird), Polnisch und Rumänisch als wichtige Familiensprachen hervorzuheben. 


Abbildung 1: Bevölkerung unter 15 Jahren 2021 in Privathaushalten mit einer zu Hause vorwiegend gesprochenen nichtdeutschen Sprache nach den gesprochenen Sprachen in Prozent. Mikrozensus Erstergebnisse, Sonderauswertung, eigene Auswertung und Zusammenstellung.


Die beschriebene Situation unterscheidet sich innerhalb Deutschlands ganz erheblich zwischen den Bundesländern. In den ostdeutschen Flächenländern ist der Anteil der Kinder nichtdeutscher Herkunftssprache bisher deutlich geringer als in den Stadtstaaten und in den westdeutschen Flächenländern (Abbildung 2).


Abbildung 2: Bevölkerung unter 16 Jahren 2021 in Privathaushalten nach zu Hause vorwiegend gesprochener Sprache und LändernMikrozensus 2021 Erstergebnisse, eigene Berechnungen; Ergebnisse einer Sonderauswertung. 


Aktuell wächst in den ostdeutschen Flächenländern jedes zehnte Kind in einer Familien auf, in der vorwiegend nicht Deutsch gesprochen wird, in den Stadtstaaten und Hessen sind es mehr als ein Viertel aller Kinder. Auch in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen lebt fast ein Viertel aller Kinder in Familien, in denen kaum Deutsch gesprochen wird. Insgesamt lebt etwa die Hälfte der Kinder mit Migrationshintergrund in einem fremdsprachigen Familienumfeld, in den Stadtstaaten liegt der Anteil noch erkennbar höher.

 

Auch die Bedeutung einzelner Sprachgruppen ist zwischen den Ländern sehr unterschiedlich. In den ostdeutschen Fächenländern ist unter den fremdsprachigen Familien Arabisch mit einem Anteil von einem Viertel die wichtigste nichtdeutsche Familiensprache. Dort hat auch Russisch einen hohen Stellenwert. In den alten Bundesländern haben neben Türkisch die im ehemaligen Jugoslawien gesprochenen Sprachen eine weitaus größere Bedeutung als in den ostdeutschen Ländern.

 

Von den Kindern ab drei Jahren bis zum Schulbeginn, die einen Migrationshintergrund haben, besuchen nur 80 Prozent eine Kindertagesbetreuung. Seit 2008 hat sich der Anteil dieser Kinder mit nichtdeutscher Familiensprache an allen Kindern von 16 auf 21 Prozent erhöht, zeigt der Nationale Bildungsbericht von diesem Jahr (Seite 108). Zwischen den Ländern gibt es wiederum große Unterschiede im Anteil der Kitakinder mit nichtdeutscher Familiensprache (Abbildung 2). In den Stadtstaaten konzentrieren sich mehr als die Hälfte dieser Kinder in Kindertageseinrichtungen, die mehrheitlich von Kindern mit nichtdeutscher Familiensprache besucht werden. In Hessen und Nordrhein-Westfalen gilt dies für über 40 Prozent der Kinder mit nichtdeutscher Familiensprache (Abbildung 3).


Abbildung 3: Anteil der Kinder ab drei Jahre mit nichtdeutscher Familiensprache in Kitas 2021 nach Ländern. Bildungsbericht 2022 und KomDat , eigene Berechnungen. 


Die Schulstatistik liefert keine mit der Statistik der Kindertageseinrichtungen vergleichbaren Daten zum Migrationshintergrund und einer nichtdeutschen Familiensprache der Schülerinnen und Schüler. Deshalb lässt sich auf Länder aufgeschlüsselt auch nicht sagen, wie hoch der Anteil der Schulklassen oder Schulen ist, in denen die Schülerinnen und Schüler mehrheitlich vorwiegend eine nichtdeutsche Sprache in der Familie sprechen. Doch ist an den Grundschulen anhand regionaler Befunde eine mit den Kindertagesstätten vergleichbare Situation anzunehmen, die sich an den nichtgymnasialen Schularten der Sekundarstufe I noch zuspitzen kann. Die meisten Länder, die die Familiensprache erheben, veröffentlichen nicht die Ergebnisse, sondern nur die Zahl der ausländischen Schülerinnen und Schüler. 

 

Allein der Mikrozensus liefert nach einheitlichen Kriterien erhobene Informationen für Deutschland über die familiensprachliche Situation an den Schulen nach Schularten und Nationalität (Abbildung 4). Danach ist an Gymnasien der Anteil der Schülerinnen und Schüler aus deutschsprachigen Familien deutlich höher als im Durchschnitt, an sonstigen Schularten der Sekundarstufe I dagegen niedriger.

 

Unter dem Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Integration ist der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit vorwiegend nichtdeutscher Familiensprache, aber deutscher Staatsangehörigkeit von besonderem Interesse. Bei den Grundschülerinnen und Grundschülern haben insgesamt über 40 Prozent, außerhalb der ostdeutschen Länder fast die Hälfte der Schülerinnen und Schüler mit nichtdeutscher Familiensprache eine deutsche Staatsbürgerschaft. An den Gymnasien sind es fast 60 Prozent. Die Schularten der Sekundarstufe II und die nichtgymnasialen Schularten der Sekundarstufe I weichen nur unwesentlich von der Situation in der Grundschule ab. 


Abbildung. 4: Bevölkerung in Privathaushalten 2021 mit allgemeinbildendem oder beruflichem Schulbesuch nach Schulart und zu Hause vorwiegend gesprochener Sprache und LändergruppenMikrozensus 2021 Erstergebnisse, eigene Berechnungen; Ergebnisse einer Sonderauswertung. 0,0 = keine Daten wegen zu geringer Fallzahl.


Zahlreiche Studien belegen bei Schülerinnen und Schüler den engen Zusammenhang zwischen nichtdeutscher Familiensprache und geringeren Leistungen in Deutsch und Mathematik verglichen mit nur Deutsch sprechenden Schülerinnen und Schülern. Wenn nur der Zusammenhang zwischen Migrationshintergrund und Schulleistungen untersucht wird – wie zuletzt beim IQB-Bildungstrend – ist eindeutig, dass er maßgeblich über die sprachlichen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler vermittelt ist. Deshalb besteht durch die anhaltende Zunahme von Kindern, die in ihren Familien vorwiegend eine andere Sprache als Deutsch sprechen eine doppelte Herausforderung: 

 

1. Die Kinder müssen bis zum Schulbeginn ausreichend mit der deutschen Sprache vertraut gemacht werden, damit sie dem Unterricht folgen können. Dies kann nur mit erheblichen zusätzlichen Sprachfördermaßnahmen erreicht werden. Auch über die gesamte Pflichtschulzeit hinweg ist unterrichtsergänzende Sprachförderung notwendig, um bestehende Defizite auszugleichen und nicht weiter zunehmen zu lassen. Zugleich sollte mehr getan werden, um eine Separation von Teilgruppen unter den Migranten zu verhindern, damit sich fremdsprachige Milieus, in denen Kinder aufwachsen, nicht verselbständigen.

2. Integration – im Gegensatz zur Assimilation – bedeutet auch die Anerkennung der "kulturellen Mitbringsel", zu denen die Herkunftssprache der Migranten gehört. Der muttersprachliche Unterricht und der Fremdsprachenunterricht in den Herkunftssprachen sollten hinsichtlich ihres Stellenwerts an den Schulen überdacht werden. Nur Hamburg und Nordrhein-Westfalen unterstützen gegenwärtig erkennbar den muttersprachlichen Unterricht und den Fremdsprachenunterricht in den Herkunftssprachen der Schülerinnen und Schüler. Die Förderung der Muttersprache der Kinder sollte in öffentlicher Verantwortung durchgeführt werden, damit sich dieser Unterricht nicht der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit entziehen kann. Angesichts der vielen Kinder mit nichtdeutscher Familiensprache und deutscher Staatsbürgerschaft erscheint dies unverzichtbar. 

 

Im Bildungsbericht 2022 werden im Kapitel C4 ausführlich die Sprachfördermaßnahmen der Länder dargestellt. Sie lassen eine zunehmende Einschränkung der bislang schon völlig unzureichenden Maßnahmen erkennen, statt der dringend notwendigen Ausweitung. Auch die ausführliche Übersicht von 2019 über die schulischen Sprachfördermaßnahmen der Länder durch die KMK lässt Zweifel darüber aufkommen, ob den Kultusministern der Umfang der Herausforderungen wirklich bewusst ist. Unter der Vielzahl der Programme befinden sich viele Pilotprojekte und kleine standortbezogene Initiativen, die nicht erkennen lassen, wie der zunehmenden sprachlichen Heterogenität der Schülerschaft insgesamt über durchgreifende Fördermaßnahmen begegnet werden soll.


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