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Heftige Kritik, aber auch Zustimmung: Wissenschaftliche Empfehlungen zum akuten Lehrermangel verursachen aufgeregte Debatte

Philologenverband: Einseitige Empfehlungen. Linke: Wie Power-Point-Präsentation einer Unternehmensberatung. KMK-Präsidentin: "Wichtige und umfassende Hinweise".

DIE ERSTE KRITIK folgte zeitgleich mit der Veröffentlichung der SWK-Empfehlungen. Um Punkt 12 Uhr, während die SWK-Vorsitzenden Felicitas Thiel und Olaf Köller gerade zur Vorstellung der Kommissionsvorschläge zum Umgang mit dem akuten Lehrermangel anhoben, verschickte der Deutsche Philologenverband (DPhV) bereits seine Protestnote per Pressemitteilung: Die Empfehlungen seien einseitig, ließen die Realität des Arbeitsplatzes Schule außer Acht und nähmen keinerlei Kritik am herkömmlichen Aufgabenspektrum vor.

 

"Dass die erste Empfehlung ausgerechnet die Erhöhung des Drucks auf die im Dienst befindlichen Lehrkräfte ist, ignoriert nicht nur die bestehende Überlast, sondern wird umgekehrt zu mehr statt weniger Unterrichtsausfall führen, weil immer mehr Kolleginnen und Kollegen einfach nicht mehr können", sagte die DPhV-Bundesvorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, Susanne Lin-Klitzing. "Dass dann gleichzeitig den Lehrkräften eMental-Health-Angebote als Maßnahmen zur Gesundheitsförderung empfohlen werden, ist schon fast ein Hohn."

 

Die Empörung der Lehrerverbände angesichts der Kommissionsempfehlungen hatten die SWK-Vorsitzenden freilich vorhergesehen.  Diese, sagte Köller im Podcast "WiardaWundertSich", müssten sich in der jetzigen Mangellage fragen lassen: "Was ist die Alternative?"

 

Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), Astrid-Sabine Busse, sprach in ihrer ersten Reaktion von "wichtigen und umfassenden Hinweisen", wie wir dem deutschlandweiten Fachkräftemangel begegnen können." Einige der vorgestellten Maßnahmen würden in dem ein oder anderen Bundesland bereits verfolgt oder auch von eigenverantwortlichen Schulen schon umgesetzt.

 

Zu den konkreten Vorschlägen äußerte sich Busse teilweise verhalten: "Manch andere der vorgeschlagenen Maßnahmen sind aus unserer Sicht erst einmal ein Vorschlag aus wissenschaftlicher Sicht, den wir zunächst mit der Schulrealität rückkoppeln müssen." So sage die Wissenschaft zum Beispiel, dass die Klassengröße für die Qualität des Unterrichts kaum einen Unterschied mache, das sehe sie aus der Praxis heraus "etwas anders", sagte Busse, die lange Jahre Schulleiterin war und jetzt SPD-Bildungssenatorin von Berlin ist. Eines sei klar: "Lehrkräfte waren durch die Pandemie und weitere Krisen besonders herausgefordert. Adhoc-Maßnahmen dürfen nicht dazu führen, dass die Pädagoginnen und Pädagogen verunsichert werden. Denn wir müssen den Bestand an Lehrkräften sichern und pflegen." Busse sprach von einem "großen Spagat": Es werde offensichtlich, dass es nicht das eine Wundermittel gegen den Lehrkräftemangel gebe, "sondern dass wir an mehreren Stellschrauben drehen müssen, um qualifizierte Fachkräfte zu gewinnen."

 

Die linke Bildungspolitikerin im Bundestag, Nicole Gohlke, übte heftige Kritik. Die Vorschläge seien "ein "absoluter Offenbarungseid". Die Empfehlungen läsen sich, "als hätte man sich damit abgefunden, dass man eben nicht mehr Menschen für den Lehrberuf begeistern kann. Wenn die KMK bei dieser Art der Mangelverwaltung bleibt, macht sie sich überflüssig". Überfüllte Klassen seien in vielen Schulen schon blanke Realität. "Und mit der 'Erhöhung der Selbstlernzeiten' werden die Schüler einfach sich selbst überlassen. Die Vorschläge können allenfalls als Verschlimmbesserung gewertet werden."Der Bericht lese sich "wie eine PowerPoint-Präsentation einer Unternehmensberatung. Da können sich McKinsey und Co noch eine Scheibe abschneiden".

 

Der hessische Kultusminister Alexander Lorz, der die Bildungspolitik der unionsregierten Länder koordiniert,  sagte, er sei "sehr dankbar, dass die SWK deutlich macht, dass es hier keine Denkverbote geben darf und wir zur Deckung des Lehrkräftebedarfs der Kreativität kaum Grenzen setzen dürfen".

 

Die bildungspolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Nina Stahr, sagte,  grundsätzlich lieferten die Empfehlungen der SWK "viele gute Anregungen, etwa zur verbesserten Gesundheitsförderung oder zur erleichterten Anerkennung ausländischer Abschlüsse, die nun in politische Maßnahmen umgesetzt werden müssen". Es brauche hierbei länderübergreifende Maßnahmen im Sinne eines kooperativen Bildungsföderalismus. Die Arbeitsbedingungen müssen aber auch von Grund auf attraktiver werden. "Einschränkungen der Möglichkeit zur Teilzeitarbeit und von Sabbatmodellen, wie von der SWK ins Spiel gebracht, sehen wir deshalb skeptisch."

 

Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe, der die SPD-Bildungspolitik in den Ländern koordiniert, dankte den Wissenschaftlern für "ihren Mut und ihre Klarheit". Er gehe davon aus, "dass die Wissenschaftler recht haben und wir trotz großer Anstrengungen, die wir weiter voranbringen müssen, auf Dauer nicht genügend Lehrkräfte finden können. Deshalb geht es jetzt darum, umzudenken und genau zu überlegen, wie wir mit diesem beginnenden Fachkräftemangel in einem so wichtigen Zukunftsfeld umgehen wollen."

 

Auch in den sozialen Medien wurde das Gutachten nach seiner Veröffentlichung ausgiebig diskutiert. So schrieb unter anderem der Vorstand des Forums Bildung Digitalisierung, Jakob Chammon, auf Twitter: "Wir dürfen nicht nur mehr Arbeitsstunden von den Lehrkräften einfordern. Es geht auch um länderübergreifende Unterstützung, multiprofessionelle Teams, digitale Lösungen und neue Berufsgruppen in Schulen."

 

Und Dirk Zorn, Bildungsdirektor bei der Bertelsmann-Stiftung, kommentierte, für ihn sei der problematischste Satz in der SWK-Stellungnahme dieser: "Bei aller zusätzlicher Belastung muss aber auch allen Akteur:innen im Schulsystem klar sein, das die Gesellschaft vor einer historischen Herausforderung steht, die größte Anstrengungen erfordert, um den kommenden Generationen von Schüler:innen ein Unterrichtsangebot zu machen, das ihnen soziale, kulturelle, gesellschaftliche und berufliche Teilhabe ermöglicht." Zorns Kommentar: "Welche Lehrkraft weiß das nicht?"




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