Der SPD-Parteivorstand will die Bildungsausgaben massiv erhöhen, finanziert über zusätzliche Steuern. Die Parteivorsitzende Saskia Esken sagt, wie Bund, Länder und Kommunen auf ein gemeinsames Ziel eingeschworen werden sollen: den Kampf gegen die dramatische Bildungsungerechtigkeit.
Saskia Esken ist Softwareentwicklerin und war stellvertretende Vorsitzende des Landeselternbeirats Baden-Württemberg. Nach ihrem Einzug in den Bundestag 2013 engagierte sie sich in der Bildungs- und Digitalpolitik. 2019 wurde sie eine von zwei SPD-Bundesvorsitzenden. Foto: Anne Hufnagl.
Frau Esken, heute wird der SPD-Parteivorstand voraussichtlich den Leitantrag "Zusammen für ein starkes Deutschland" für den Bundesparteitag im Dezember beschließen. Wesentlicher Bestandteil ist ein "Deutschlandpakt Bildung". Wer soll da mit dem paktieren?
Mit dem "Deutschlandpakt Bildung" wollen wir erreichen, dass Bund, Länder und Kommunen sich zusammentun, um ihren gesamtstaatlichen Bildungsauftrag zu erfüllen. Die Lage der Bildung in Deutschland ist so herausragend schwierig geworden in den vergangenen 20 Jahren, die sozialen Schieflagen bei der Bildungsgerechtigkeit so groß, dass nur noch alle staatlichen Ebenen gemeinsam Veränderungen bewirken können. Die Zeit drängt, wir stehen vor einem großen demografischen Umbruch: Wenn meine Generation in Rente geht, kommt eine nach, die nur noch halb so groß ist. Woraus folgt, dass noch dringlicher wird, was ohnehin unsere Pflicht sein sollte: Wir müssen die Potenziale aller jungen Menschen vollständig entwickeln. Insofern ist der "Deutschlandpakt Bildung" eingebettet in eine größere Strategie zur Gestaltung der gesellschaftlichen Transformation, die wir dem SPD-Bundesparteitag vorschlagen wollen.
"Kooperationsgebot statt Kooperationsverbot", "ein echter Bildungsaufbruch", "gleiche Chancen für eine gute und zeitgemäße Bildung für alle Menschen", Ganztagsausbau, Verstetigung des Digitalpakts. Mit Verlaub: Vieles von dem, was in dem Leitantrag zum "Deutschlandpakt Bildung" vorkommt, stand so oder ähnlich schon im Ampel-Koalitionsvertrag von Ende November 2021. Hat der so wenig gebracht?
Der Koalitionsvertrag trägt eine starke sozialdemokratische Handschrift. Insofern steht viel Schlaues drin und wir haben auch einiges schon umgesetzt. Erst vor wenigen Wochen ist, leider mit wenig öffentlicher Wahrnehmung, das "Startchancen"-Programm zwischen Bund und Ländern geeint worden, das genau in die Richtung zielt, in die wir jetzt als SPD entschieden weitergehen wollen: Ganz gezielt die Bildung sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler zu fördern, weil wir nur auf diese Weise etwas erreichen können im Kampf gegen die große Bildungsungerechtigkeit. In der Ampel-Koalition müssen wir uns durch die finanziellen Limitierungen auf zehn Prozent der Schulen beschränken. Aber die Herausforderungen kennen diese Limits nicht: Ein Viertel der Grundschülerinnen und Grundschüler kann am Ende von Klasse vier nicht genügend gut lesen, schreiben, rechnen, zuhören. Ein Drittel der Neuntklässler verfehlt die Mindeststandards in Deutsch. 50.000 junge Menschen verlassen jedes Jahr die Schulen ohne Schulabschluss. Hier wird klar: Wenigstens die Hälfte aller Schulen braucht die Unterstützung, die wir jetzt nur jeder zehnten geben können.
"Mein Vorschlag mit dem Sondervermögen
war das erste Ausrufezeichen"
Der "Deutschlandpakt Bildung" soll also ein aufgepumptes "Startchancen"-Programm werden?
Er soll viel breiter werden als das, aber in der Tat, der Pakt soll derselben Logik folgen: Die Ebenen tun sich zusammen, um ganz gezielt Benachteiligungen der Bildungschancen auszugleichen. Wir gehen stärker in die Breite und schärfen gleichzeitig den Fokus, weil die Bildungsforschung noch einmal deutlicher gezeigt hat, wo die Probleme liegen. Erstens: Es kommt auf den Anfang an, auf frühe Hilfen, frühkindliche Bildung und – wenn nötig - frühe Intervention. In der Grundschule dann die gezielte Förderung der Basiskompetenzen, die Unterstützung genau dort, wo sie zu Hause fehlt, aus den verschiedensten Gründen. Vielleicht weil beide Eltern Vollzeit arbeiten und, um über die Runden zu kommen, zusätzlich einen Minijob haben. Die können nicht nachmittags mit den Hausaufgaben helfen und auch keine Nachhilfe bezahlen. Deshalb müssen wir hier den Ganztag nutzen. Denn als Gesellschaft sind wir aber verantwortlich, dass alle Kinder das notwendige Rüstzeug für eine erfolgreiche Bildungsbiografie bekommen. Und zweitens kommt es auf den Abschluss an, denn ohne den gibt es keinen Anschluss. Damit möglichst alle Schülerinnen und Schüler einen Schulabschluss erhalten, der sie formal und inhaltlich dazu befähigt, eine Berufsausbildung aufzunehmen und fertigzumachen.
Für die "Startchancen" wollen Bund und Länder jeweils eine Milliarde Euro pro Jahr investieren. Sie haben bereits vor Monaten 100 Milliarden zusätzlich für ein Sondervermögen Bildung gefordert – auch das mit wenig Widerhall in der Öffentlichkeit. Ist die Idee mit dem Deutschlandpakt jetzt der nächste Anlauf?
Mein Vorschlag mit dem Sondervermögen war das erste Ausrufezeichen, und es hat einigen Widerhall gefunden, zu Beispiel bei der "Bildungswende", aber leider noch keine Umsetzung. Um es klar zu sagen: Bildung ist eines der zentralen Zukunftsthemen unserer Zeit und sollte es darum auch für uns in der Politik sein. Woraus folgt, dass wir der Bildung dasselbe finanzpolitische Gewicht einräumen sollten wie anderen priorisierten Politikfeldern. Mit unserem Antrag legen wir nach und sagen jetzt konkret, was wir tun wollen, woher wir das nötige Geld nehmen wollen und wie wir durch einen Pakt zwischen Bund, Ländern und Kommunen sicherstellen, dass wir die verabredeten Ziele auch verbindlich erreichen.
Und da ist das Zauberwort wiederum "Sondervermögen"?
Ob nun ein Sondervermögen oder ein anderes Finanzinstrument gut für unsere Ziele passt, wird man sehen. Hauptsache, wir treiben jedes Jahr wesentlich mehr Geld für Bildung auf und sorgen dafür, dass es verbindlich und zielgerichtet eingesetzt wird. Wichtig ist auch, dass wir das Projekt wissenschaftlich begleiten. Wir brauchen endlich eine durchgehende Dateninfrastruktur zur Bildung in Deutschland - die Forschung klagt zu Recht, dass uns oft die Grundlage fehlt, um genauer hinschauen zu können.
"Zehn Milliarden Euro zusätzlich pro Jahr,
zumindest auf zehn Jahre"
Bitte mal konkret: Was meinen Sie konkret, wenn Sie von "wesentlich mehr Geld für Bildung" reden? Sind das besagte 100 Milliarden Euro, und über welchen Zeitraum?
Im "Startchancen"-Programm investieren Bund und Länder zwei Milliarden Euro zusätzlich für zehn Prozent der Schulen. Ich sage, dass wir mit dem "Deutschlandpakt Bildung" wenigstens die Hälfte der Schulen erreichen sollten. Insofern habe ich das Ziel, um die zehn Milliarden Euro zusätzlich pro Jahr zu generieren. Und so wie die "Startchancen" über zehn Jahre laufen sollen, sollten wir auch den Deutschlandpakt zumindest auf zehn Jahre anlegen. Das ist für die Politik, die normalerweise in Legislaturperioden denkt, schon nahe an der Dauerhaftigkeit. Perspektivisch, auch das steht im Leitantrag, wollen wir uns dem Ziel annähern, unbefristet sieben Prozent der Wirtschaftsleistung für Bildung auszugeben.
Laut Leitantrag wollen Sie das nötige Geld nicht etwa durch eine Umpriorisierung der heutigen Staatsausgaben erreichen, sondern durch eine höhere Einkommensteuer für Spitzenverdiener – und durch eine höhere Erbschafts- und Schenkungssteuer für Superreiche. Glauben Sie, das ist angesichts der politischen Mehrheitsverhältnisse durchsetzbar?
Vor allem ist es notwendig. Mit dem Vorschlag verfolgen wir ja zwei Ziele. Wir wollen mehr Geld für Bildung, wir wollen aber auch mehr Steuergerechtigkeit erreichen. Im Moment steht das System auf dem Kopf: Kleine und mittlere Erbschaften werden im Schnitt mit neun Prozent besteuert, während auf Erbschaften über 20 Millionen im Schnitt nur drei Prozent anfallen. Das ist grob ungerecht. Das müssen umdrehen. Wir machen das aber nicht aufkommensneutral, sondern so, dass mehr Steuereinahmen erzielt werden. Und wenn wir gleichzeitig über eine Einkommensteuerreform nur die extrem hohen Einkommen belasten, die mittleren aber entlasten, stärken wir auch dadurch die Gerechtigkeit – und generieren nochmal mehr Geld für Bildung.
Wie aber wollen Sie sicherstellen, dass dieses Geld dort auch ankommt? Es ist rechtlich unmöglich, Steuern mit Zweckbindung zu erheben.
Die Erbschafts- und Schenkungssteuer ist eine reine Ländersteuer, sie kommt also zu 100 Prozent den Ländern zugute. Aber natürlich haben Sie Recht: Wir können die Länder nicht zwingen, dass sie die Mehreinnahmen in die Bildung investieren. Der "Deutschlandpakt Bildung" zielt auf eine Vereinbarung von Bund und Ländern: Wenn der Bund einen Teil seiner höheren Steuereinnahmen aus der Einkommensteuer in den Deutschlandpakt investiert, erwarten wir von den Ländern das Commitment, ebenfalls einen Teil ihrer Mehreinnahmen in den gemeinsamen Topf für Bildung einbringen.
Bund und Länder zahlen also in den gemeinsamen Fonds ein, und dann, so sieht es der Leitantrag vor, entscheiden sie in einer gemeinsamen Kommission zusammen mit dem Kommunen, wofür es ausgegeben wird. Ein schönes Gedankenexperiment. Aber realistisch?
Natürlich ist es wichtig, dass die Kommission sich ihre demokratische Legitimation holt, indem sie über die Mittelverwendung einmal im Jahr Rechenschaft ablegt gegenüber den Parlamenten, bei denen das Budgetrecht liegt. Das wollen und können wir ihnen nicht aus der Hand nehmen. Aber wir können, so wie es beim "Startchancen"-Programm geschieht, auf der Grundlage der Kommissionsarbeit Bund-Länder-Vereinbarungen abschließen, die dafür sorgen, dass die Mittel aus dem Deutschlandpakt entsprechend den tatsächlichen Bedürfnissen zielgerichtet dort ankommen, wo sie gebraucht werden. Jeweils mit Zustimmung der Parlamente, versteht sich. Wichtig ist, dass wir am Ende der Tatsache Rechnung tragen, dass der Anteil sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler gerade in solchen Bundesländern besonders hoch ist, deren Finanzkraft eher gering ist.
"Es geht nicht nur um mehr Gerechtigkeit für die Kinder und Jugendlichen. Es geht auch um die Zukunft unserer Volkswirtschaft und unseres Wohlstands."
Mehr Geld an Bremer Schulen und weniger nach Bayern und Baden-Württemberg? Sind die "Startchancen" dann wirklich ein gutes Vorbild? Die Länder haben mit Ach und Krach einen Kompromiss erreicht, der darin besteht, dass der Großteil der Gelder doch wieder per Gießkanne verteilt wird.
Ich baue weiter auf die Kraft des Arguments. Denn es geht nicht nur darum, mehr Gerechtigkeit für die Kinder und Jugendlichen zu erreichen. Es geht auch um die Zukunft unserer Volkswirtschaft und unseres Wohlstands. Unsere Gesellschaft wird immer diverser, und wir brauchen die Zuwanderung ja auch, um unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft in Zeiten der Demografie am Laufen zu halten. Umso mehr brauchen wir dann aber auch ein Bildungssystem, das jeden und jede Einzelne in die Lage versetzt, das nutzen zu können, was in ihnen steckt. Deutschland hat keine Bodenschätze – unsere Ressource sind unsere klugen Köpfe. Und in die müssen wir investieren. Ich bin zuversichtlich, dass am Ende genau diese Argumente wirken werden.
Vielleicht sind die Länder leichter zu überzeugen, wenn dank des 100-Milliarden-Fonds auch die Zukunft des Digitalpakts gesichert wird? In den vergangenen Monaten hatten viele Länder die Befürchtung, für den Bund könnte es zwischen "Startchancen" oder Digitalpakt-Fortsetzung auf ein Entweder – Oder hinauslaufen.
Ich bin zuversichtlich, dass uns beim Digitalpakt eine Weiterentwicklung gelingt. Ich habe den Digitalpakt angestoßen, er wurde auf meine Anregung während der Pandemie aufgestockt. Unsere Schulen müssen auf die immer weitergehende Digitalisierung unserer Welt und auf Entwicklungen wie in der Künstlichen Intelligenz eine Antwort haben, und dafür brauchen sie die nötige Ausstattung. Mit der von uns vorgeschlagenen Reform der Erbschafts- und Schenkungssteuer erhalten die Länder weitere finanzielle Handlungsspielräume, die sie für die zeitgemäße Ausstattung ihrer Schulen aufwenden können.
Reden wir mal von etwas Anderem als Geld. Es gibt ernstzunehmende Bildungsexperten, die sagen: Eigentlich ist genug Geld da, das wirkliche Problem unseres Bildungssystems besteht darin, dass der Föderalismus nicht richtig funktioniert.
Also der Sanierungsstau an den Schulen von fast 50 Milliarden Euro ist schon ein erhebliches Geldproblem. Aber richtig ist, dass mehr Geld allein nicht reicht. Kein Geld der Welt kann zum Beispiel kurzfristig den enormen Fachkräftemangel lösen, den wir insbesondere in Kitas und Schulen haben. Und so sehr wir Lehrkräfte entlasten wollen, um ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern, so wenig wissen wir, wie wir die entstehenden Deputatslücken füllen sollten. Darum gehört zu unserem "Deutschlandpakt Bildung" der Vorschlag einer gemeinsamen Aus- und Weiterbildungsoffensive für Erzieher*innen, Lehrkräfte und weiteres pädagogisches Personal. Die Zusammenarbeit von Bund und Ländern ist auch im Bildungsföderalismus möglich und wird ja auch stetig weiterentwickelt. Auch in der Vergangenheit haben wir, wo es nötig war, das Grundgesetz geändert. Doch dafür brauchen wir eine Zweidrittel-Mehrheit, dafür müssten die Unionsparteien mit im Boot sein müssten. Ich setze auf neue Strukturen der gesamtstaatlichen Zusammenarbeit, wie ich sie für den "Deutschlandpakt Bildung" beschrieben habe. Strukturen, die nicht auf Zweidrittel-Mehrheiten und erst recht nicht auf Einstimmigkeit angewiesen sind, sondern die über ein gemeinsames Commitment funktionieren.
"Wenn die SPD den Leitantrag beschließt,
wird sie alles dafür tun, dass der Deutschlandpakt
auch Wirklichkeit wird"
Frau Esken, wann hat die SPD zuletzt erfolgreich ein so großes Bildungsrad gedreht, wie Sie das vorhaben?
An einen vergleichbaren Leitantrag kann ich mich nicht erinnern. Aber ich erinnere mich, wie das Versprechen von Aufstieg durch Bildung und Leistung eine ganze Generation inspiriert hat. Das war meine Generation. In den 60er und 70er Jahren haben viele Arbeiterkinder diesen Aufstieg geschafft, haben hohe Bildungsabschlüsse erzielt und Führungsaufgaben übernommen. Heute jedoch ist die soziale Mobilität praktisch zum Erliegen gekommen. Schlimmer noch: Viel zu viele Kinder und Jugendliche fallen in unserem Bildungssystem durchs Raster. Das ist eine riesige Ungerechtigkeit, doch wenn wir auch in Zukunft erfolgreich sein wollen als Volkswirtschaft und als Gesellschaft, dann können wir es uns gar nicht leisten, all diese Potenziale liegen zu lassen. Ich sage: Von der Bildung dieser jungen Menschen hängt unsere Zukunft ab. Und ich bin überzeugt: Dem stimmt die große Mehrheit der Menschen zu, die Wissenschaft wird es bestätigen und die Wirtschaft weiß es ohnehin. Diese Überzeugung kann und muss das gemeinsame Fundament für den "Deutschlandpakt Bildung" werden.
Mit dem es dann wann losgeht? Immerhin ist die SPD die stärkste Regierungsfraktion. Und die gemeinsame Kommission von Bund, Ländern und Kommunen, die Keimzelle des Deutschlandpakts werden soll, hatte die Ampel schon in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt.
Darum wäre es sehr wünschenswert, wenn es der Bundesbildungsministerin endlich gelänge, die Kommission einzurichten. Wir halten sie für dringend notwendig, sonst hätten wir sie nicht im Koalitionsvertrag vereinbart. Sie wäre der erste Schritt. Und Sie können sich darauf verlassen: Wenn die SPD den Leitantrag beschließt, wird sie alles dafür tun, dass der "Deutschlandpakt Bildung" auch Wirklichkeit wird. Und wir fangen noch in dieser Legislatur an, um Mehrheiten dafür zu werben.
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