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Jeder Sechste ist betroffen

2011 gaben acht Prozent der Studierenden in Deutschland an, eine studienerschwerende Beeinträchtigung zu haben, 2021 waren es doppelt so viele. Vor allem die Zahl der psychischen Erkrankungen hat laut der neuen "best3-"Studie dramatisch zugenommen. Was ist passiert? Und wie geht es den Betroffenen?

Illustration: Agentur SEVN, mit Genehmigung des Deutschen Studierendenwerks. 

ES IST die umfangreichste Studie zum Studieren mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die es in Deutschland je gab: Knapp 30.000 Studierende haben mitgemacht bei "best3". Die enorme Teilnehmerzahl hat zwei Gründe. Der erste ist positiv: "best 3" ist im Gegensatz zu seinen Vorläufern Teil der neuen, groß angelegten "Studierendenbefragung in Deutschland" mit insgesamt fast 188.000 Befragten, aus der sich auch die Sozialerhebung des Deutschen Studierenden-


werks (DSW) speist. Was erstmals aussagekräftige Vergleiche zwischen Studierenden mit und ohne Beeinträchtigungen möglich macht. 

 

Der zweite Grund für das gegenüber "best2" verdreifachte Sample ist dafür umso besorgniserregender: Gaben 2011 noch 8 Prozent der befragten Studierenden in Deutschland an, eine studienerschwerende Beeinträchtigung zu haben, sagten das beim zweiten best-Durchlauf 2016 bereits elf Prozent. Und 2021, zum Zeitpunkt von "best3", 16 Prozent. Ein Sechstel der Studierendenschaft.

 

Was ist da passiert? Und was bedeutet das? Zunächst muss man wissen, dass es sich bei der Befragung um eine Selbsteinschätzung handelt. Die Studierenden sollten anhand einer Liste möglicher Beeinträchtigungen und Beschwerden beantworten, ob sie unter einer Beeinträchtigung leiden. Das können allerdings auch andere sein als die in der Liste beispielhaft aufgeführten. Anschließend wurden nur die betroffenen Studierenden gebeten zu sagen, ob ihre Beeinträchtigung ihnen das Studieren erschwert. Traf beides zu – Beeinträchtigung und Studienerschwernis – wurden die Befragten Teil der best-Stichprobe. 

 

Hinter der Studie steckt das Deutsche Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW), das BMBF hat wie bei der Sozialerhebung insgesamt die Finanzierung übernommen. DZHW und Deutsches Studierendenwerk stellten "best3" am Montagmittag vor.

 

Zwei Drittel der Beeinträchtigungen
sind psychischer Natur

 

Ein Grund für den Anstieg könnte sein, sagt Studien-Koautorin Mareike Beuße vom DZHW, dass es heute weniger tabuisiert sei als noch vor einigen Jahren, eine psychische Erkrankung einzuräumen. "Denn deren Zahl ist besonders stark gestiegen."

 

Stellten Studierende mit einer psychischen Beeinträchtigung 2011 noch 45 Prozent der best-Studierenden, so waren es zehn Jahre später 65 Prozent. Ob dies aber tatsächlich mit einer gestiegenen gesellschaftlichen Akzeptanz zu tun habe oder etwa auch mit Folgen der Corona-Pandemie, lasse sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht sicher sagen, sagt Frauke Peter, ebenfalls Forscherin am DZHW. "Und ob wir hier einen Trend sehen, werden wir auch erst bei best4 wissen." Der vierte Durchgang der Studie ist für 2025 geplant. 

 

Ebenfalls häufig mit 13 Prozent der best-Teilnehmer sind chronische Erkrankungen, sieben Prozent berichten eine gleich schwere Mehrfachbeeinträchtigung (mehrere Erkrankungen, die sie im Studium gleichermaßen beeinträchtigen). Nur knapp 17 Prozent der Befragten hatten die Beeinträchtigung von Geburt an, bei 63 Prozent trat sie vor Studienbeginn auf – und bei den übrigen erst danach. Drei Fünftel sagen, die Beeinträchtigung habe starke oder sehr starke Auswirkungen auf ihr Studium, wobei am meisten die Studierenden mit einer Mehrfachbeeinträchtigung zu kämpfen haben. 

 

Bei all dem gibt es Unterschiede zwischen den Geschlechtern und Abhängigkeiten von anderen demographischen Merkmalen. So berichten nur zwölf Prozent der Studenten von studienerschwerenden Beeinträchtigungen, aber 18 Prozent der Studentinnen. Internationale Studierende sind deutlich seltener betroffen, Studierende mit Einwanderungsgeschichte mit 18,2 Prozent etwas häufiger als diejenigen ohne (16,3 Prozent). Die Bildungsherkunft hat dagegen kaum einen Einfluss.

 

Beeinträchtigte Studierende denken dreimal häufiger
über Abbruch nach – bei gleicher Leistung

 

Wozu führen die Beeinträchtigungen konkret? Mareike Beuße sagt, der Studienverlauf der best-Studierenden sei häufiger von Studienunterbrechungen (22 versus neun Prozent) sowie von Studiengangs- (36,5 versus 23,6 Prozent) oder Hochschulwechseln (27,3 versus 19,2 Prozent) geprägt. Und: "Studierende mit studienerschwerender Beeinträchtigung denken deutlich öfter als andere Studierende über einen Studienabbruch nach." Genauer gesagt: mit 13,0 Prozent dreimal so häufig (4,7 Prozent) – und zwar bei gleicher Studienleistung. Die best-Studierenden wollen auch deutlich seltener ein Masterstudium an ihren Bachelor anhängen. 

 

Ein paar mögliche Anhaltspunkte, woran das liegen könnt: 

 

o Die best-Studierenden haben ihren Antworten zufolge deutlich häufiger keinen oder nur selten Kontakt zu ihren Mitstudierenden. Und nur 34 Prozent berichten, bei ihren Lehrenden voll und ganz auf Verständnis hinsichtlich ihrer Studiensituation zu stoßen, während 66 Prozent sagen, dies sei eher nicht oder gar nicht der Fall.

o 73 Prozent der best-Studierenden berichten, in ihrem Studium Diskriminierungserfahrungen gemacht zu haben, 15 Prozentpunkte mehr als die übrigen Studierenden. Etwa die, dass ihnen Leistungen nicht zugetraut oder erbrachte Leistungen herabgesetzt worden seien, was jeweils 26 Prozent der best-Studierenden sagen, rund zehn Prozentpunkte mehr als die übrigen. 

 

o Studierende mit studienerschwerenden Beeinträchtigungen sind zudem deutlich unzufriedener mit den Bedingungen an ihrer Hochschule (48 versus 64 Prozent). Fast alle (92 Prozent) berichten von Schwierigkeiten in mindestens einem der Bereiche Studienorganisation, Lehre und Lehren oder Prüfungen und Leistungsnachweise.

 

o Die best-Studierenden sorgen sich auch häufiger um die Finanzierung ihres Lebensunterhaltes: Nur 66 Prozent sagen, dieser sei sichergestellt, was wiederum 79 Prozent der übrigen Studierenden sagen. Auch berichten Sie mit 21,4 Prozent fast doppelt so häufig von finanzielle Schwierigkeiten.

 

Die wenigsten stellen einen
Antrag auf Nachteilsausgleich

 

Erstaunlich ist angesichts der Ergebnisse, dass trotzdem nur 21 Prozent der best-Studierenden, die von Studienschwierigkeiten aufgrund ihrer Beeinträchtigung berichten, ihren eigenen Angaben zufolge einen Antrag auf individuelle Anpassung oder Nachteilsausgleiche gestellt haben. Obwohl die große Mehrheit derjenigen, die das getan haben, angibt, ein solcher Antrag sei für sie (sehr) hilfreich. 

 

Warum stellen ihn dann nur so wenige? 58,7 Prozent der best-Studierenden geben an, sich dafür nicht beeinträchtigt genug zu fühlen. Und 57 Prozent sind unsicher, ob sie überhaupt einen Anspruch oder eine Chance auf Bewilligung hätten. Das Dramatische: Ausgerechnet die best-Studierenden mit Mehrfachbeeinträchtigung oder einer psychischen Erkrankung, die die meisten Schwierigkeiten im Studium angeben, verzichten am häufigsten auf die Beantragung.

 

Mareike Beuße sagt: "Auf dem Weg zur Inklusion an deutschen Hochschulen gibt es noch viel zu tun."

 

Der DSW-Vorstandsvorsitzende Matthias Anbuhl sagte bei der Vorstellung der Studie, die Mental-Health-Zahlen seien für ihn Anlass zur Sorge. "Vier Pandemiesemester, drei davon im Lockdown, sowie die multiplen Krisen unserer Zeit belasten Studierende und führen zu psychischen Erkrankungen und Belastungen." Die psychologischen Beratungsstellen der Studierendenwerke würden förmlich überrannt. Die Wartezeiten hätten sich an manchen Standorten vervielfacht. "Bund und Länder müssen die personellen Kapazitäten der psychosozialen Beratungsstellen von Studierendenwerken und Hochschulen weiter ausbauen." Zugleich plädierte Anbuhl mit Verweis auf die UN-Behindertenrechtskonvention für ein umfassendes Verständnis von Barrierefreiheit im Studium. Noch immer behinderten bauliche, kommunikative, organisatorische und didaktische Barrieren die Chancengleichheit. "Wir müssen über eine Flexibilisierung des Studiums und weniger Prüfungen sprechen, generell über eine bessere Vereinbarkeit von Studium und Beeinträchtigung." Vor Ort an den Hochschulen müssten Aktionspläne entworfen werden. 

 

BMBF-Staatssekretär Jens Brandenburg (FDP) sagte, auch wenn die Befragung mitten in der Corona-Pandemie durchgeführt worden sei, "sehen wir dringenden Handlungsbedarf. Denn ein erfolgreiches Studium muss auch mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung möglich sein." Sein Ministerium unterstütze die Hochschulen daher auf vielfältige Weise. "Von zentraler Bedeutung ist dabei die Informations- und Beratungsstelle Studium und Behinderung beim Deutschen Studierendenwerk (IBS), die gerade positiv evaluiert wurde." Zudem müssten die Hochschulen bessere Studienbedingungen für Studierende mit Beeinträchtigungen schaffen, zum Beispiel durch flexible Teilzeitstudienmodelle.



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