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Ein Aufbruch ist möglich

Sechs Prozent der Jugendlichen verlassen die Schule ohne Hauptschulabschluss, zeigte eine neue Studie. Eine so deprimierende wie wenig überraschende Zahl. Doch welche Schlussfolgerungen ziehen wir aus ihr?

DIE BERTELSMANN-STIFTUNG hat gestern eine neue Erhebung zum Anteil der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss veröffentlicht, wobei die Zahlen, die dabei herauskamen, alles Andere als neu waren. 

 

Für 6,2 Prozent der jungen Menschen endete ihre Pflichtschulzeit 2021 ohne Hauptschulabschluss, hat der Bildungsforscher Klaus Klemm ermittelt, der seit Jahren im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung wichtige – und viel beachtete – Beiträge leistet, um die Leistungen und allzu oft auch das Unvermögen unseres Bildungssystems transparent zu machen. Zwischen den Bundesländern sind die Unterschiede gewaltig (Bayern 5,1 Prozent, Bremen 10 Prozent) und zwischen Menschen mit deutschem Pass (4,6 Prozent) und ohne (13,4 Prozent). Und: 60 Prozent der Betroffenen sind männlich.

 

Die 6,2 Prozent als bundesweiter Schnitt entsprechen dabei bis auf ein Zehntelprozentpunkt exakt dem Anteil von 2011. Zehn Jahre Stagnation also. Wobei der Gleichstand verbirgt, dass es zwischenzeitlich zumindest bei den Schulabbrechern durchaus Fortschritte gegeben hatte. So war eines der Ziel des Dresdner Bildungsgipfels von 2008, ihren Anteil von acht auf vier Prozent zu halbieren, bis 2013 zumindest gut zur Hälfte erreicht worden – mit einer Quote von nur noch 5,7 Prozent. Doch ging es danach schon wieder aufwärts – natürlich auch all das damals dokumentiert von Klaus Klemm.

 

In den vergangenen Jahren schien dieses gesellschaftliche Feststecken in Sachen Bildungschancen immer öfter zu einer Mischung aus Frustration, Ermüdung und Konsterniertheit zu führen, so dass neue Zahlen, die im Grunde aber ja immer die gleichen waren, kaum noch Widerhall in der breiten Öffentlichkeit zu fanden. 

 

Ein Zehntel der Jugendlichen geht nicht zur Schule, Ausbildung oder Hochschule, arbeitet aber auch nicht

 

Erst Ende Januar war das wieder so, als das Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS), übrigens wiederum im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung, berechnet hatte, dass rund 630.000 Jugendliche in Deutschland zwischen 15 und 24 weder zur Schule gehen noch eine Ausbildung machen. Was die Folge genau jener Schulabbrüche ist, des regulären Abgangs ohne Abschluss und zusätzlich unseres Versagens als Gesellschaft, ihnen die Fähigkeiten zu vermitteln, um ein selbstständiges und selbstbestimmtes Auskommen im Leben zu haben.

 

Eigentlich sind diese 630.000 abgehängten Jugendlichen, zehn Prozent jeden Jahrgangs, sogar die noch weitaus dramatischere Zahl. Weil sich darunter auch viele Menschen befinden, die sogar mit Schulabschluss keinen Weg in die berufliche Zukunft finden. 

 

Doch während die Nachricht von Ende Januar längst wieder verblasst ist, sind die politischen Appelle nach der gestrigen Veröffentlichung der Abschluss-Zahlen noch präsent. "Das können wir nicht länger hinnehmen", sagte zum Beispiel Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP). "Wir müssen stärker auf die einzelne Schülerin und den einzelnen Schüler schauen und Bildungschancen für alle Jugendlichen ermöglichen." Und SPD-Parteichefin Saskia Esken sagte: "Es muss der Anspruch des Bildungssystems sein, dass alle jungen Menschen im Rahmen der Schulpflicht die Kompetenzen und Qualifikationen erlangen, die sie zu einem selbstbestimmten Leben und zur Aufnahme einer Berufsausbildung befähigen." 

 

Beide haben einen eigenen Grund, sich lautstark zu äußern. Stark-Watzinger will ihre Position in den Verhandlungen um das sogenannte Startchancen-Programm stärken, mit dem der Bund tausende Schulen in sozial schwierigen Gegenden speziell fördern will. Nur dass der Widerstand innerhalb der Kultusministerkonferenz dazu führen könnte, dass die Bundesgelder am Ende doch wieder größtenteils per Gießkanne auf die Länder verteilt werden – unabhängig davon, dass der Anteil benachteiligter Jugendlicher etwa in Bremen viel größer ist als in Sachsen oder Bayern. Stark-Watzinger hält gegen – und weiß die Klemms Zahlen auf ihrer Seite.

 

Warum es diesmal
anders laufen könnte

 

Ebenso wie Saskia Esken, die sich für ein "Sondervermögen für die Bildung" gefordert hat und, nachdem sie von den Mächtigen selbst ihrer eigenen Partei wenig konkrete Schützenhilfe erhielt, offenbar das Thema Bildungsgerechtigkeit unverdrossen weiter auf die politische Prioritätenliste befördern will.

 

Doch heißt das wirklich, dass diesmal eine Chance besteht, das Thema länger im öffentlichen Bewusstsein zu halten? Die womöglich überraschende Antwort: Ja. Nicht nur weil ein paar Politiker:innen auffällig kräftig pushen diesmal, sondern weil der Zeitpunkt der Veröffentlichung von der Bertelsmann-Stiftung (über deren Beharrlichkeit sich mancher in der KMK schon lange aufregt) strategisch so schlau gewählt wurde – wenige Tage vor dem Bildungsgipfel, der ein eingelöstes Versprechen aus dem Ampel-Koalitionsvertrag ist, von dem viele aber fürchten, er könne eine unverbindliche Show-Veranstaltung werden. 

 

Und die neuen Zahlen von Klemm bieten viele Ansatzpunkte: vor allem zur Abhängigkeit der Bildungschancen von der Herkunft, von Wohnort/Region und vom Geschlecht. Jetzt liegt es an allen in Politik, Medien, Bildungswesen und Zivilgesellschaft, die sich nicht mehr abfinden wollen mit dem sich jedes Jahr wiederholenden Schicksal von Generationen abgehängter Jugendlicher. Sie müssen jetzt den öffentlichen Druck erhöhen. Deutlich machen, dass Bildung wirklich zur gesellschaftlichen Priorität werden muss neben Sozialpolitik, Sicherheit, Verteidigung und den immer gut vertretenen Interessen der älteren Generationen. Es geht um mehr Geld und um eine neue Bereitschaft zur Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern, Kommunen und allen anderen, die helfen können, Kitas, Schulen und Co besser zu machen. Ein Aufbruch in der Bildung ist möglich. Nur ein Wunschtraum? Gut möglich. Vielleicht müssen wir aber auch einfach mal dran glauben. 




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