Die Impfdurchbrüche nehmen zu, Geimpfte landen auf den Intensivstationen. Eine Krise der Impfstoff-Forschung? Nein, eine Krise der politischen Kommunikation.
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KEINER KANN SAGEN, wie der Herbst und Winter wird, aber eines lässt sich in jedem Fall festhalten: Die Corona-Impfstoffe wirken hervorragend, sie sind eine großartige Errungenschaft der modernen Wissenschaft. Und, was man gar nicht oft genug betonen kann, das gilt selbst dann noch, falls die Neuinfektionen in den nächsten Wochen doch wieder sprunghaft ansteigen sollten. Selbst wenn dann eine guter Teil der schwer Erkrankten doppelt geimpft sein wird.
Wie das mit der zuerst von der Funke Mediengruppe verbreiteten Meldung zusammenpasst, die in den vergangenen Tagen kursierte, derzufolge von den 1.186 Corona-Patienten, die in der zweiten Augusthälfte auf deutschen Intensivstationen aufgenommen wurden, 119 vollständig geimpft waren? Oder damit, dass der Anteil zweifach Geimpfter unter allen ins Krankenhaus eingewiesenen Neuinfizierten zuletzt bei knapp 37 Prozent lag – bezogen auf die Altersgruppe ab 60 und die Kalenderwochen 36 bis 39?
Eigentlich ist die Antwort so simpel, dass es wundert, dass es immer noch funktioniert, mit den genannten Zahlen eine aufgeregte Debatte anzuzetteln: Wenn zum Beispiel von allen über 60-Jährigen laut RKI-Impfmonitoring 84 Prozent vollständig geimpft sind, heißt das, dass zuletzt auf diese 84 Prozent nur 37 Prozent aller registrierten Infektionen entfielen. So wie im August die zehn Prozent Geimpften unter den schwer Erkrankten zu diesen Zeitpunkt den 60 Prozent vollständig Geimpften in der Gesamtbevölkerung gegenüberstanden.
13-fach niedrigeres Risiko
Woraus folgt: Das individuelle Risiko, sich trotz doppelter Impfung mit Corona zu infizieren, liegt für Ältere aktuell gut neunmal niedriger als ohne Impfung. Und die Gefahr, wegen einer Covid-19-Erkrankung auf der Intensivstation zu landen, lag im August für Ungeimpfte im Schnitt aller Altersgruppen sogar 13 mal so hoch. Und je nachdem, wie stark das Robert-Koch-Institut die Impfquoten unterschätzt, desto günstiger wären die Relationen sogar noch. Worüber also reden wir?
Und wenn wir schon dabei sind: Spricht die steigende Zahl der Impfdurchbrüche für einen grundsätzlichen Rückgang der beschriebenen Wirksamkeit der Impfstoffe? Die Antwort: ein ziemlich deutliches Nein.
In erster Linie kommen mehr Impfdurchbrüche durch die höhere Impfquote zustande – einfach weil es mehr Menschen gibt, die zwar um ein Vielfaches besser geschützt sind als ohne Impfung, aber dennoch – logischerweise – in absolut größerer Zahl erkranken. Hinzu kommt, dass Impfungen nach einer Weile aufgefrischt werden müssen, wie es ja derzeit bei früh geimpften Risikopatienten und sehr alten Menschen bereits passiert. Über welchen Zeitraum aber tatsächlich welcher Impfschutz verloren geht, da gehen die vorliegenden Studien auseinander. In jedem Fall lässt sich der Impfschutz erneuern.
Schließlich scheint es so zu sein, dass der Impfschutz vor einer Infektion mit Delta geringer ausfällt als bei früheren Varianten, allerdings schwere Erkrankungen weiter zu einem Großteil sehr effektiv verhindert werden. Dieser Umstand dürfte indes für die aktuelle Entwicklung keine Rolle spielen, weil die deutsche Impfkampagne ohnehin erst so richtig in Fahrt gekommen ist, seit Delta hierzulande die Oberhand hatte.
Was sich im Vergleich zu 2020 geändert hat
Um zu begreifen, wie groß der Erfolg der Impfkampagne ist, muss man sich folgendes klarmachen: Im vergangenen Sommer und Herbst gab es keine gut besetzten Fußballstadien, keine vollen Kneipen und Clubs. Anstelle von 2G oder 3G herrschten strikte Abstandsregeln bei allen öffentlichen Veranstaltungen. Die meisten Menschen verhielten sich vorsichtig, viele Ältere mieden ihre sozialen Kontakte, während sie sich jetzt wieder treffen, in den Urlaub fahren, Geburtstage feiern. Und: Vergangenes Jahr um diese Zeit gab es in Deutschland noch keine Alpha- und erst recht keine Delta-Variante.
Und trotzdem sind die gemeldeten Corona-Infektionen in diesem Spätsommer und Frühherbst nicht in astronomische Höhen geschnellt, im Gegenteil: Sie liegen noch etwas höher als vergangenes Jahr, aber sie stagnieren seit Wochen. Während sie im vergangenen Oktober schon mit wöchentlichen Wachstumsraten um 60 Prozent und mehr explodierten.
Das heißt nicht, dass der Winter nicht noch einmal schwierig werden kann. Aber dass die Gesellschaft sich bis zu diesem Punkt überhaupt so weit hat öffnen können, liegt an den Impfungen.
Dass es dennoch immer noch so leicht gelingt, diesen Erfolg kleinzureden, das hat das öffentliche Corona-Management auch sich selbst zuzuschreiben. Gerade das Robert-Koch-Institut hat allzu oft keine gute Figur gemacht (siehe Kasten). Einen Teil der Verantwortung für den Vertrauensverlust, den die Impfungen erlitten haben, trägt sicher auch die Ständige Impfkommission, die ihre Impf-Empfehlungen immer wieder kurzfristig geändert hatte – noch dazu nicht immer nachvollziehbar kommuniziert.
Falsche Erwartungen geweckt
Vor allem aber waren es die Gesundheitspolitiker und Regierungschefs in Bund und Ländern, die immer wieder den Eindruck erweckt haben, als wären Geimpfte zuverlässig (im Sinne von "sicher") gegen das Virus geschützt. Als Totschlag-Argument für eine Impfung. Obwohl das nie der Fall war und nie der Fall sein kann. Eine gewaltige Verringerung einer Gefahr bleibt immer noch eine Gefahr. Was im Falle alter Menschen bedeutet, dass sie immer noch häufiger schwer erkranken als ungeimpfte Kinder und Jugendliche.
Weshalb es noch ärgerlicher ist, dass Bund und Länder sich parallel auf langwierige Debatten über vermeintlich bevorstehende Massen-Durchseuchungen bei ungeimpften Kindern und Jugendlichen eingelassen haben, obwohl die wahre Risikogruppe die Alten waren und bleiben werden. Denen damit jedoch suggeriert wurde, für sie sei mit der Impfung das Problem gelöst. Was ja in Ordnung gewesen wäre. Solange sie von Anfang an des Restrisikos bewusst gemacht worden wären.
So aber gerät dieses Restrisiko erst jetzt immer stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit und stellt die Wirksamkeit der Impfungen insgesamt in Frage, obwohl diese, siehe oben, so unglaublich gut ist. Wer sich also wundert, wenn die Impfquoten dann nicht weiter steigen: Hier hat er eine weitere Erklärung.
Das Impfquoten-Desaster
Hat uns das Robert-Koch-Institut um einen Freedom Day wie in Dänemark betrogen? So weit wollte Kassenärzte-Chef Andreas Gassen im Gegensatz zu manchem Tageszeitungs-Kolumnisten dann doch nicht gehen, nachdem das RKI vergangene Woche mitgeteilt hatte: Die Corona-Impfquote in Deutschland könnte deutlich höher liegen als bislang berichtet. Doch Gassen sah den Tag, an dem alle Pandemie-Einschränkungen aufgehoben werden, näherrücken. Mit einer zu niedrigen Impfquote könne man jedenfalls jetzt nicht mehr für mehr Corona-Maßnahmen argumentieren, sagte er der Bild-Zeitung. Auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) beeilte sich zu versichern, Deutschland könne dank der guten Nachricht ohne zusätzliche Maßnahmen gut durch den Winter kommen.
Den Kern der Neuigkeiten aus dem RKI haben damit beide verfehlt. Das Institut hat schon im August eingeräumt, dass eine Diskrepanz zwischen der offiziellen Quote und den Ergebnissen der deutschlandweiten Covimo-Studie bestehe, bei denen alle paar Wochen 1000 deutschsprachige Personen ab 18 nach ihren Impfstatus befragt werden.
Jetzt hat das RKI zum zusätzlichen Abgleich alle ausgelieferten Impfdosen nachgezählt. Das Ergebnis: Möglicherweise sind bis zu 84 Prozent der Menschen in Deutschland mindestens einmal
geimpft, 80 Prozent zweimal. Was auch bei den Zweitimpfungen vier bis fünf Prozentpunkte mehr wären als offiziell registriert. Es könnten aber auch noch mehr sein, laut der nächsten Covimo-Studie zwölf, 13 Prozentpunkte mehr.
Und genau dies ist der Kern der RKI-Mitteilung. Das Institut weiß es einfach nicht. Womöglich, sogar wahrscheinlich, sind es mehr als gedacht, aber wieviel mehr, hängt davon ab, ob tatsächlich alle Dosen verbraucht worden sind und wie verlässlich die Methodik der Impf-Umfragen sind. Und auch wenn Gassen und Spahn Anderes suggerieren: Als politische Entscheidungsgrundlage taugt das erneute Eingeständnis des behördlichen Unwissens nicht.
Umso mehr aber dazu, endgültig einzusehen: Das RKI muss reformiert werden. Es braucht eine neue, unabhängigere Führung, die liefert, was gebraucht wird – und nicht das, was die Politik anfordert. Es braucht eine wissenschaftsnähere Struktur und schnellere Entscheidungswege.
Anderen Ländern ist es gelungen, ein umfangreiches System repräsentativer Pandemie-Kennziffern für die Politik zu generieren. Deutschland stochert auch in dieser Spätphase der Pandemie im Datennebel.
Dieser Kommentar erschien heute zuerst im Freitag.
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Django (Donnerstag, 14 Oktober 2021 15:00)
In einem Land, in dem es irgendwie schick ist, in der Schule schlecht in Mathe gewesen zu sein, ist es immer so eine Sache mit den Zahlen. Wenn die Impfung eine Wirksamkeit von 80 % hat (oder wie viele auch immer), heißt das ja, dass 20 % der Infektionen immer noch "erfolgreich" (aus Sicht des Virus) sind.
Das mit den Zahlen kann man auch daran sehen, dass selbst renommierte Medien (z.B. Tagesschau) mit Vorliebe absolute Zahlen von Corona-Infektionen oder Todesfällen angeben und es dem Publikum überlassen, das in Relation zur Bevölkerungszahl zu setzen. 600.000 Coronatote in Brasilien klingt ja schon mal dramatisch (und nach dem 2. Platz in der Mortalitätsstatistik), aber 285 Tote je 100.000 Einwohner liest sich schon anders (gleichauf mit Tschechien, hinter Ungarn und Bulgarien, und in Peru sind es 622!).
Ansonsten war in der Berliner Zeitung vor einiger Zeit ein Beitrag, der darauf hingewiesen hat, welche Rolle asymptomatisch oder mild verlaufende Infektionen für die Fitness unseres Immunsystems bedeuten.
Gerrit Lauben (Donnerstag, 14 Oktober 2021 17:06)
Daß sich jetzt sogar ein Herr Drosten dazu hergibt, die desaströse Impf"statistik" des RKI bzw. des BMG zu verteidigen, gibt mir schwer zu denken.