Die Idee ist nicht neu. Auch nicht der Standort. Wo heute
die Rekonstruktion des Berliner Schlosses steht, gab es schon
einmal ein Zentrum von Kultur und Wissenschaft ersten Ranges.
Von Christian Walther.
Christian Walther. Foto: Matthias Köhler.
ALLES SCHONMAL DAGEWESEN. Aber vergessen. Oder nie ins Bewusstsein getreten: Da, wo heute die Rekonstruktion des Berliner Schlosses steht und als Humboldt Forum Aufmerksamkeit auf sich ziehen will, genau dort gab es schon einmal eine Art Humboldt Forum. Die SED hat nämlich 1950 nicht das Schloss der Hohenzollern zerstört, sondern das Schloss der Republik. Und das war schon bald nach der Revolution von 1918 ein Zentrum von Kultur und Wissenschaft ersten Ranges.
Wie es dazu kam: Am 9. November 1918 hatte erst Philipp Scheidemann am Reichstag, dann Karl Liebknecht am Schloss die Republik ausgerufen. Liebknecht stellte zugleich das Schloss unter den Schutz des Arbeiter- und Soldatenrates und erklärte die Immobilie zum Volkseigentum. Das wurde sie dann auch: Eigentum des demokratischen preußischen Staates. Und eben beste Adresse für eine Vielzahl von Wissenschaftseinrichtungen und Museen, vorneweg das große, den gesamten Lustgartenflügel einnehmende Kunstgewerbemuseum. Aber eben auch Sitz der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, dem Vorläufer der Max-Planck-Gesellschaft, samt zweier international ausgerichteter juristischer Institute. Auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft residierte hier und der DAAD, dazu gab es eine Mensa und das Helene-Lange-Tagesheim für Studentinnen – und vieles mehr.
Verblüffend ist nicht nur dieser Sachverhalt selbst, sondern auch die Tatsache, dass das der heutigen Kulturszene zumeist ebenso unbekannt ist wie den akademischen Kreisen.
Die Diskussion der vergangenen 30 Jahre über den Wiederaufbau des Schlosses wurde vielerorts überschattet von der fälschlichen Annahme, man habe es hier mit einem Überbleibsel der Hohenzollern zu tun. Das war 1950 so falsch, wie es 1950 falsch gewesen wäre, den Louvre zu sprengen, um dem einstigen Herrschergeschlecht der Bourbonen
entgegenzutreten – oder den Kreml,
Christian Walthers Buch "Des Kaisers Nachmieter.
Das Berliner Schloss zwischen Revolution und Abriss" erschien im Mai 2021 im vbb Verlag.
um ein Zeichen zu setzen gegen den Zarismus. Alle drei Häuser hatten längst einen fundamentalen Funktionswandel vollzogen: zum Herrschaftszentrum der Sowjets in Moskau, zum Kunstmuseum in Paris und eben zu einem Kultur- und Wissenschaftszentrum in Berlin.
Aufmerksam geworden auf des Kaisers Nachmieter
Zugegeben: Ich selbst hätte die Frage nach Funktion und Inhalt des Berliner Schlosses nach der Revolution von 1918 vor 30 Jahren nicht besser zu beantworten gewusst als die meisten halbwegs orts- und geschichtskundigen Mitmenschen heute. Als aber Wilhelm von Boddien 1993 seine großformatige Schlossattrappe errichten ließ, war ich gerade Sprecher der Freien Universität. Das schärft den Sinn für Dinge, die die Welt der Wissenschaft berühren. Und so wurde ich aufmerksam auf des Kaisers Nachmieter.
Als ich mich des Themas ab 2015 systematischer annahm, war ich erstaunt zu sehen, wie wenig auch heute noch bestehende Einrichtungen über ihre eigene Zeit im Schloss wissen. Institutionelle Amnesie? Besonders aufgefallen ist mir dabei der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD), der zwar weiß, dass er einst im Schloss residierte, und der glaubt, dass 1933 zwei halbjüdische Mitarbeiterinnen aus dem Dienst ausgeschieden sind. Der sich aber wenig Mühe gemacht hat – oder keine? – deren Verbleib zu erforschen. Dabei wäre das keine Überforderung gewesen. Die Namen waren selten, und der Aufwand einer simplen Google-Recherche nach Familienangehörigen überschaubar.
Die "Frauen vom Schloss"
Aber der Reihe nach. Als ich 2016 in einem rbb-Hörfunkfeature erstmals über das "Schloss der Republik" sprach, waren mir bei der Recherche neben den Institutionen auch schon einige Personen aufgefallen, die meine Neugier weckten. Es waren Frauen. Keine Kaiserin, keine Zofen, keine Mägde – die waren ja längst raus nach der Revolution – sondern Frauen eines ganz neuen Typs, die sich den Zugang zu Studium und Wissenschaft noch hatten erkämpfen müssen. Oft jüdischer Herkunft, nicht selten aus dem Ausland. Und so gab es 2017 bei Deutschlandradio Kultur eine erste Skizze zu den "Frauen vom Schloss".
Nun ist mit "DES KAISERS NACHMIETER – DAS BERLINER SCHLOSS ZWISCHEN REVOLUTION UND ABRISS" die wohl erste republikanische Geschichte des Schlosses überhaupt erschienen, die die Zeit von der Revolution bis zum Abriss umfasst. Und in deren Mittelpunkt stehen nicht die Steine des Barock, die Interieurs der Monarchen und die Exponate der Museen, sondern neun Frauen, deren Leben das Schloss für Momente oder Jahrzehnte prägten. Bemerkenswerte Persönlichkeiten, selbst wenn die meisten von ihnen längst vergessen oder eher unbekannt sind:
- Ingrid Dybwad, von der inzwischen auch Michelle Müntefering, Staatsministerin im Auswärtigen Amt und dort zuständig für den DAAD, sagt, dass der DAAD "deren Andenken meines Erachtens vielleicht nicht genug pflegt",
- Lise Meitner, Deutschlands erste Physikprofessorin, die im Schloss über das Innere des Atoms sprach,
- Gudrun Meier-Scherling, die erste Frau im Bundesarbeitsgericht, deren Berufsweg im Schloss begann,
- Marguerite Wolff, die nicht nur über das britische Presserecht forschte, sondern auch ein Lehrbuch für Autofahrer schrieb,
- Eugenie Schwarzwald, die Frauenrechtlerin, die in der Schlossküche eine Gemeinschaftsküche für mittellose Studenten und Künstler einrichtete,
- Marie-Elisabeth Lüders, die Reichstagsabgeordnete, die das Tagesheim für Studentinnen Wirklichkeit werden ließ,
- Elisabeth Henschel-Simon, die 1933 ins Exil getriebene Schlösser-Kustodin,
später auch
- Eva Kemlein als Dokumentaristin des Abrisses
und schließlich
- Margarete Kühn, deren Schlosskarriere in den 20er Jahren begann, die den Kampf gegen den Abriss des Berliner Schlosses führte und verlor, dann aber um so erfolgreicher für den Wiederaufbau des Schloss Charlottenburg stritt.
Das Schloss war ihre Bühne, ihr Arbeitsplatz, ihre Wirkungsstätte.
Doch eine republikanische Geschichte des Schlosses muss auch die völlig vergessene Deutsche Kunstgemeinschaft mit ihren Bildern und Skulpturen erwähnen. Sie bot Bilder und Skulpturen zum Ratenkauf an für Bürger mit eher kleinem Geldbeutel, Kunst zum Abstottern also, und wurde unterstützt von höchsten Kreisen der Republik und Autoritäten des Kunstbetriebs wie Kollwitz und Liebermann.
Dieses Buch will eine Einladung sein
Zu erwähnen sind dann auch das erste Sportmuseum der Welt und die Serenadenkonzerte bei Fackelschein im Schlüterhof.
Und die republikanische Geschichte des Schlosses muss sich mit den beiden Liebknechts befassen: mit Karl Liebknecht, der das Schloss schützen wollte – er selbst hatte es ja demonstrativ zu Volkseigentum erklärt – , und seinem Neffen, dem Ost-Berliner Stadtplaner Kurt Liebknecht, der sich an die Spitze der Abrissbewegung setzte – und das offenbar gegen seine innere Überzeugung.
Das Buch ist eine Einladung, sich nicht länger oder zumindest nicht nur mit den Hohenzollern zu beschäftigen, sondern endlich auch mit den Bürgern und – ja! – den Bürgerinnen, die dem Schloss zu seiner neuen Identität als Kultur und Wissenschaftszentrum verholfen haben. Und es ist eine Anregung, all jenen – Frauen und Männern – zu einem angemessenen Gedenken zu verhelfen, deren Spuren im Schloss sonst zu verblassen drohen.
Christian Walther, 1956 geboren, ist freier Journalist. Seit dem Studium der Politikwissenschaft in Bonn und Berlin (FU) arbeitet er für Presse, Funk und Fernsehen, vor allem als Reporter für die Berliner Abendschau des rbb. Er war Pressesprecher der FU Berlin, der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung sowie der Leibniz-Gemeinschaft. Von 2016 bis 2020 war er Vorsitzender des Journalistenverbandes Berlin-Brandenburg.
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Gerald Blobel (Mittwoch, 16 Juni 2021 10:31)
Vielen Dank für diese Entdeckung, Erstaunlich, wie "leicht" derartiges Wissen versickert war. Hängt vermutlich damitzusammen, daß der historische Blick durch den Umgang mit der Rolle der DDR bei der Sprengung des alten Schloßes einfach ideologisch "kontaminiert" war.