Auch Luftfilter bieten den Schulen keine Sicherheit in der Pandemie. Was wir endlich brauchen, ist eine ehrliche Debatte über Risiken und deren Abwägung.
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ICH WÄRE GERN für Luftfilter in allen Klassenräumen bis zum Ende der Sommerferien. So, wie ich für die priorisierte Impfung für alle Lehrkräfte war. Oder für die Pflichttests in den Schulen. Doch ich kann nicht. Und das möchte ich erklären. Um dann in einem zweiten Schritt die dringend nötige Debatte über Risiken und deren Abwägung zu befördern.
Im Frühjahr haben sich die Gewerkschaften und Lehrerverbände mit Verve dafür eingesetzt, dass Pädagogen bevorzugt geimpft werden. Dies sei, hieß es, eine zentrale Voraussetzung, damit wieder Regelunterricht in den Schulen stattfinden könne.
Ich war zunächst skeptisch. Weil ich der Meinung war, dass wir uns bei der Vergabe des knappen Impfstoffs an Alter und persönliche Risikofaktoren halten sollten. Für Lehrkräfte aber gab es – im Gegensatz zu Erzieherinnen – keine statistisch eindeutigen Belege für ein erhöhtes Erkrankungsrisiko gegenüber dem Bevölkerungsschnitt.
Mir behagte der Gedanke nicht, dass demnächst gesunde Dreißigjährige geimpft sein würden, während viele Mittfünfziger mit Vorerkrankungen weiter auf einen Termin warteten. Doch da die Impfkampagne zunehmend ausfranste und plötzlich gefühlt ohnehin fast jeder von irgendeiner Ausnahme profitierte, dachte ich irgendwann: Also gut. Dann plädiere ich auch dafür, dass die Lehrer prioritär drankommen. Wenn sich dafür ihre Repräsentanten in einer nächsten Corona-Welle für das Offenhalten der Schulen einsetzen.
Die Lehrkräfte wurden geimpft, doch
die Ziele der Debatte verschoben sich
Doch je mehr Lehrkräfte geimpft waren, desto mehr verschob sich die Debatte. Auf die ebenfalls noch nicht geimpften Familienangehörigen von Kindern und deren Gefährdung durch den Präsenzunterricht. Auf die Risiken für die Kinder selbst (zu denen ich später noch komme). Auf die Forderung, die Pflichttests mehrmals pro Woche trotz inzwischen niedriger Inzidenzen fortzusetzen. Und die Maskenpflicht im Unterricht beizubehalten.
Wiederum pflichtete ich bei: Es sei vernünftig, schrieb ich, an den Schulen weiter vorsichtig zu sein, wenn dies der Preis offener Schulen sei. Obgleich, fügte ich hinzu, die rigide Behandlung der Kinder im Vergleich zum Umgang mit den Erwachsenen (keine Pflichttests im Büro, eklatantes Laissez-faire in Restaurants und Fußballstadion) immer eklatanter werde.
Doch reichte all das immer noch nicht. Im Gegenteil: Je mehr Sicherungsmaßnahmen wir in den Schulen installierten, desto mehr schienen viele Eltern und Lehrervertreter davon überzeugt zu sein, dass die Lage dort immer gefährlicher werde. Wie war das nochmal mit der zentralen Voraussetzung geimpfter Lehrkräfte?
Derweil fordert die Bundes-GEW immer noch trotz Niedriginzidenzen den Mindestabstand von 1,5 Metern ab Klasse 5 – was auf geteilte Klassen und Wechselunterricht hinauslaufen würde. Und Sachsen-Anhalts GEW-Vorsitzende, Eva Gerth, kommentierte gegenüber Radio Brocken: Man solle an den Schulen jetzt nicht "auf Teufel komm raus" lockern. Während parallel die Meldezahlen auch bei den Kindern und Jugendlichen und trotz vollkommen offener Schulen immer weiter abstürzten. Ja, hieß es, aber jetzt drohe doch die Delta-Variante, und es gebe Anzeichen, dass diese die junge Generation umso stärker treffen werde.
Womit wir bei der Petition angekommen sind, die Ende vergangener Woche von besorgten Eltern und Unterstützern um den Rintelner Rechtsanwalt Thorsten Frühmark gestartet wurde. Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen müssten "JETZT" pandemiesicher gemacht werden. Daher fordere die Initiative als "Minimalstandard des Infektionsschutzes": "die flächendeckende Anschaffung von HEPA-Raumluftreinigern für jeden Unterrichts- und Betreuungsraum in Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen in Deutschland spätestens zum Beginn des Schul- und Betreuungsjahres 2021/2022".
Ich kann nicht für die Forderungen
dieser Petition sein
Innerhalb weniger Tage haben mehr als 8000 Menschen die Petition unterzeichnet. Doch ich kann nicht für die Forderung sein. Warum?
Erstens: Weil sie einmal mehr so tut, als müsse noch zumindest diese eine Voraussetzung erfüllt werden, und dann endlich sei Präsenzunterricht zu rechtfertigen. Bis zur nächsten Forderung. Wodurch dann der – einfach-eingängige, aber eben nicht zutreffende – Eindruck weiter verstärkt wird, die Gesellschaft tue nichts, um die Schulen auf Corona einzustellen. Worüber, wer die Hygienemaßnahmen an Schulen vergleicht mit denen in Büros, Restaurants oder anderswo, nur müde lächeln kann.
Weil zweitens mobile Luftfilter zwar vermutlich helfen können, Infektionen zu vermeiden, aber eben als ein Baustein unter mehreren. Vor allem in Räumen, die keine oder nur eine schlechte direkte Belüftung zulassen. Auf ihre einzigartig-besondere Bedeutung deutet jedenfalls keine einzige Studie hin. Weswegen auch ihr Absolutsetzen wenig Sinn ergibt.
Vor allem aber, weil drittens die Formulierung der Petition ("flächendeckend", "jeder Unterrichtsraum", "spätestens" zum neuen Schuljahr) das Scheitern ihrer Umsetzung bereits in sich trägt. Es gibt fast 14 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18, von denen sich die meisten tagsüber in Kitas oder Schulen aufhalten. Geht man pro Raum von 20 Personen aus, ergibt das geschätzte 700.000 Räume, ganz sicher aber mehrere hunderttausend. Und für all die sollen jetzt innerhalb von sechs, sieben Woche hunderttausende Luftfilter per öffentlicher Beschaffung eingekauft werden, zehntausende Aufträge an Handwerksfirmen sollen herausgegeben werden, damit sie die Geräte fachgerecht aufstellen und einrichten, und diese Aufträge sollen dann auch noch alle fristgerecht erledigt werden?
Gab es schon einmal erfolgreiches
staatliches Handeln diesen Tempos?
Abgesehen davon, ob die Geräte überhaupt vorrätig wären und die Handwerker ungeduldig auf ihren Einsatz warteten: Gab es irgendwo schon einmal staatliches Handeln, das in der beschriebenen Form und in dem verlangten Tempo erfolgreich über die Bühne gegangen wäre?
Klar könnte man an dieser Stelle einwenden: Die Politik hatte doch über ein Jahr Zeit. Was aber voraussetzen würde, dass es, neben den zweifellos unzureichenden Ausgaben für Kitas und Schulen, einen Konsens gegeben hätte, dass der flächendeckende Einsatz von Raumluftreinigern das Mittel der Wahl sei.
NRW-Bildungsministerin Yvonne Gebauer (FDP) sagte gar der Rheinischen Post, nicht einmal die im Rahmen der vorhandenen Bundes- und Landesprogramme zur Verfügung gestellten Mittel seien bisher komplett abgerufen worden.
Dem wiederum könnte man mit Recht entgegengehalten, dass dies womöglich an zu hohen bürokratischen Hürden liege, etwa, dass das Bundesprogramm offenbar nur festinstallierte Lüftungsanlagen fördert, was in diesem Fall wenig bis nichts bringt – aber würde man dann nicht zugleich das Argument mitliefern, warum es auch mit der aktuellen Petition nichts werden wird?
Schulen und Kitas sind weder "Drehkreuz"
für Corona noch virenfreie Trutzburgen
Und doch: In der Gesamtschau wäre es ein Leichtes, die Petition publizistisch zu unterstützen. Zumal das Kopfschütteln über die "wieder einmal" versagende Politik vorprogrammiert wäre. Selbst das wäre noch in Ordnung.
Nicht in Ordnung aber ist, was sich konsequent weitergedacht aus der Forderung ergibt: Wer Raumluftreiniger in jedem einzelnen Raum zur Voraussetzung für Präsenzunterricht macht, muss diesen zwangsläufig ablehnen, wenn das mit den Raumluftreinigern nicht klappt. Was es nicht wird. Deshalb: Ich wäre gern für Luftfilter in allen Klassenräumen bis zum Ende der Sommerferien. Aber ich kann nicht für die Petition sein. Zumindest, wenn ich sie ernstnehme. Weil ich dann in ein paar Wochen automatisch für Wechselunterricht plädieren müsste.
Was ich mir wünschen würde: dass wir aufhören, immer aufs Neue zu suggerieren, die Kitas und Schulen ließen sich mit dieser oder jener Maßnahme "pandemiesicher" machen. Sicherer: ja. Sicher: nein.
Schulen waren und sind, anders als Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) neulich behauptete, kein "Drehkreuz" der Coronaviren. Die Infektionszahlen unter Kindern und Jugendlichen sind bislang stets den Zahlen in der Gesamtgesellschaft gefolgt. Schulen sind aber auch keine virenfreien Trutzburgen. Es gab Ansteckungen im Unterricht und wird sie weiterhin geben. Die Frage ist: Was bedeutet das?
Zunächst einmal: in dem Augenblick, in dem alle Erwachsenen, die dies wollen, zweimal geimpft worden sind, muss der Blick von außen nach innen gehen. Das heißt: Ab dem Zeitpunkt kann man sich die ohnehin müßigen Debatten sparen, welche Rolle Bildungseinrichtungen im Infektionsgeschehen spielen. Weil es dann nur noch um die einzelne Bildungseinrichtung und die Menschen darin geht, nicht mehr um ihre größere Rolle in der Pandemie insgesamt.
Endlich auf die Kinder-
und Jugendmediziner hören
Entscheidend sind dann nur noch drei Fragen: Wie viele Kinder und Jugendliche infizieren sich mit dem Coronavirus, wie viele von ihnen erkranken tatsächlich an Covid-19, und wie viele von diesen wiederum erkranken schwer? Das gilt, solange unter 12-Jährige nicht geimpft werden können, genauso wie danach. Und es gilt ebenfalls unabhängig davon, ob die Ständige Impfkommission eine generelle Impfempfehlung für 12- bis 17-Jährige ausspricht oder nicht.
Es handelt sich also um eine Abwägung der Gefahren durch Corona für Kinder und Jugendliche gegenüber den Gefahren durch den Verlust an Bildungschancen und Teilhabe, und diese Abwägung muss im Ergebnis zu einer Entscheidung führen, ob und wann Wechselunterricht oder sogar Komplett-Schließungen von Kitas und Schulen überhaupt noch zu rechtfertigen sind.
Diese Abwägung kann unsere Gesellschaft nur mit dem Rat ausgewiesener Experten für die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen treffen. Und damit meine ich die Kinder- und Jugendärzte und ihre Verbände. Auf sie hätte die Politik längst stärker hören sollen. Niemand anders kann sie künftig noch bei der Schul-Frage ersetzen. Und ganz sicher nicht mehr die Virologen oder Epidemiologen, weil diese gesamtgesellschaftliche Rolle der Schulen sich spätestens beim Vorliegen eines Impfangebots für alle Erwachsenen erledigt hätte.
Daran ändert übrigens auch das hin und wieder gehörte Argument nicht, unter umgeimpften Kindern könnten neue Virusmutationen beschleunigt entstehen. Denkbar ist das. Aber welche Relevanz, bitte schön, hat dieser Einwand, wenn vielleicht zehn Millionen noch ungeimpfte Kinder in Deutschland miteinander interagieren, während in ärmeren Ländern Milliarden noch ungeimpfte Menschen unter oft weitaus schlechteren hygienischen Bedingungen das Virus weitertragen? Klar ist auch: Jede noch so gute Impfung wird zwangsläufig niemals einen hundertprozentigen Schutz bieten können. Doch auch dafür können die Bildungseinrichtungen nicht mehr in die Verantwortung genommen werden.
Wir brauchen eine Diskussion
über Lebensrisiken
Ich bin kein Jugendmediziner, kein Kindervirologe, deshalb kann ich zum Schluss nur ein paar Zahlen liefern, die vielleicht zum Nachdenken anregen. Seit Beginn der Pandemie mussten knapp 4500 Unter-15-Jährige wegen einer Corona-Infektion stationär behandelt werden, das waren knapp 1,7 Prozent aller rund 266.000 nachweislich infizierten Kinder und Jugendlichen. Zum Vergleich: Jedes Jahr kommen allein etwa 200.000 Kinder wegen einer schweren Verletzung ins Krankenhaus. Rechnet man diese Zahl auf den Gesamtzeitraum der Pandemie um, dann handelt es sich etwa um den Faktor 1 zu 60.
Was für die Zahl der Todesfälle ebenfalls gilt: Das Robert-Koch-Institut (RKI) verzeichnet 24 Todesfälle von Corona-Patienten unter 20 Jahre. Diese stehen 153 tödlichen Unfällen mit Kindern im Jahr 2019 gegenüber. Auf die Gesamtzeit der Pandemie und allein auf das Alter von 0 bis 14 bezogen, dürfte der Faktor etwa 1 zu 12 betragen.
Verharmlose ich damit das Leid junger Corona-Patienten? Nein. Auch Long Covid und PIMS sind zwar noch wenig erforschte, aber sehr ernstzunehmende Gefährdungen junger Menschen. Indes: Auch Unfallopfer leiden unter – häufig erst später erkannten – Langzeitfolgen.
Was ich tue: Ich stelle die gesundheitlichen Folgen der Corona-Pandemie für Kinder in einem Kontext mit dem Leid anderer junger Menschen. Und rege eine Diskussion über Lebensrisiken an, die wir als Gesellschaft bereit sind hinzunehmen – trotz deutlich höherer Opferzahlen.
Warum? Womöglich ja, weil ihre komplette Vermeidung eine unzumutbare Einschränkung des Lebens von Kindern und Jugendlichen wäre. Oder, Stichwort Straßenverkehr, weil wir Erwachsenen womöglich selbst nicht bereit sind, uns die nötigen Tempolimits und Sicherheitsvorkehrungen aufzuerlegen?
Genau das ist die nötige Debatte über Risiken und deren Abwägung auch in Bezug auf Corona, die ich mir wünschen würde. Auch dann, wenn die befürchtete vierte Welle tatsächlich kommen sollte. Auch wenn sie (anders als alle bisherigen Wellen, siehe Kasten) tatsächlich Kinder und Jugendliche besonders hart treffen sollte.
Ich wünsche mir keine Debatte, die einfache Antworten sucht. Sondern eine ehrliche und ganzheitliche über Vor- und Nachteile geschlossener Bildungseinrichtungen für die Betroffenen. Die Kinder- und Jugendärzte führen sie seit langem. Und setzen sich trotz Delta bislang dafür ein, die Schulen offenzuhalten.
Für mich kann ich sagen: Solange sie es tun, tue ich es auch. Egal was GEW, Elterninitiativen oder Gesundheitsminister sagen.
Gar keine Corona-Sonderkonjunktur bei Kindern?
In der am Sonntag zu Ende gegangenen Kalenderwoche 25 registrierte das RKI 1039 neuinfizierte Kinder und Jugendliche unter 15. Das war der niedrigste Wert seit Ende September und 95 Prozent weniger als vor zwei Monaten (Kalenderwoche 16) – obwohl seitdem sukzessive alle Schulen für alle Altersjahrgänge voll geöffnet wurden.
Damit blieb der Rückgang etwas schwächer als in der Altersgruppe der ebenfalls größtenteils nicht (voll) geimpften 20- bis 59-Jährigen (-97 Prozent).
Doch sind die Inzidenzen spätestens, seit zweimal wöchentlich in den Schulen getestet wird, nicht mehr vergleichbar.
Dies zeigt der Blick auf die Krankenhauseinweisungen. Vor zwei Monaten mussten 171 Unter-15-Jährige ins Krankenhaus, in der vorvergangenen Kalenderwoche 24 waren es noch 19 (also noch 11 Prozent davon). Zum Vergleich wiederum die 20- bis 59-Jährigen: Statt 3100 Hospitalisierungen nur noch 330 (ebenfalls knapp 11 Prozent).
Der Rückgang bei den Krankenhauseinweisungen war also bei den Kindern und Jugendlichen in etwa genauso stark wie in der übrigen größtenteils ungeimpften Gesellschaft.
Zugleich halbierte sich jedoch die lange bei einem knappen Prozent liegende Quote der Krankenhauseinweisungen bei den
0-bis 14-Jährigen Coronainfizierten nach Beginn der Testpflicht binnen weniger Wochen auf 0,49 Prozent. Zuletzt lagen sie bei 0,57 Prozent.
Woraus sich zweierlei folgern lässt: Entweder wurde das Coronavirus für Kinder und Jugendliche plötzlich ungefährlicher – oder dank der Pflichttests wurden deutlich mehr Infektionen erfasst, die zuvor unentdeckt geblieben waren. Letzteres scheint deutlich wahrscheinlicher und wirft die Frage auf: Um wieviel höher wohl die Inzidenzen bei den Erwachsenen liegen würden, wenn sie regelmäßig pflichtgetestet würden?
Von der vielfach verbreiteten Behauptung, die dritte (Alpha)-Welle habe relativ gesehen deutlich mehr Kinder und Jugendliche erfasst, bleibt nach Einbeziehung von Tests und Krankenhauseinweisungen wenig bis nichts Stichhaltiges übrig.
Woran all jene denken sollten, die bei Delta schon die nächste Debattenrunde über jetzt aber wirklich stärker betroffene Jüngere einleiten wollen. Plausibel ist allein, dass Ungeimpfte häufiger betroffen sind als Geimpfte. Und die Frage, die es dann zu beantworten gilt: Wie groß ist das Risiko einer Infektion für Kinder und Jugendliche tatsächlich, und wie folgenschwer sind im Vergleich dazu die Schutzmaßnahmen? Bei der Beantwortung dieser Frage sollte man, siehe oben, vor allem auf die Kinder- und Jugendärzte hören.
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Jörg Abke (Dienstag, 29 Juni 2021 11:38)
Lieber Herr Wiarda,
wieder einmal ein sehr wertvoller Beitrag, der zur Relativierung der Betrachtungen und zum Nachdenken über allzu vorschnelles Fordern aufruft.
Leider empfinde ich jedoch diese Faktorisierung der Risiken gegeneinander als wenig hilfreich, sonder gar als zynisch. Leid wie Schmerzen oder Verlust (eines Menschen) lassen sich schwer bis gar nicht messen. Es ist individuell empfunden und je Einzelfall zu betrachten.
Aber zurück zu Lebensrisiken. Eine Ausstattung von Öffentlichen Nahverkehrsmitteln mit virenminierenden Ent-/Belüftungs- und Klima-systemen wären ja mal eine öffentliche Aufgabe für alle Nutzer:innen, die auch seit > 14Monaten hätte angegangen werden müssen.
Working Mum (Dienstag, 29 Juni 2021 12:09)
Wie immer volle Zustimmung. Spätestens, wenn alle involvierten Erwachsenen (Lehrkräfte und enge Familienmitglieder) die Möglichkeit hatten, sich impfen zu lassen, kann die Abwägung allein zwischen den Risiken einer möglichen Coronaerkrankung der Schüler*innen sowie Einbußen im schulischen und sozialen Lernen bestehen. Das Ergebnis dieser Abwägung liefern uns die Kinder- und Jugendmediziner*innen und -psycholog*innen.
Birger (Dienstag, 29 Juni 2021 15:58)
Vielen Dank, Herr Wiarda für diese Ausführungen. Ich möchte gerne das Fazit der STIKO zur Impfempfehlung von Jugendlichen hinzufügen:
"Nach Einschätzung der STIKO sind Kinder nicht die Treiber des Pandemiegeschehens. Viele Kinder und Jugendliche infizieren sich asymptomatisch mit SARS-CoV-2 und wenn Kinder und Jugendliche ohne Vorerkrankungen erkranken, ist der COVID-19-Krankheitsverlauf meist mild. Hospitalisierungen und intensivmedizinische Behandlungen aufgrund von COVID-19 sind selten und bisher traten nur einzelne Todesfälle bei schwer Vorerkrankten auf. Die Krankheitslast von COVID-19 bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 12–17 Jahren ist
mit der Krankheitslast von Influenza in dieser Altersgruppe vergleichbar."
Jetzt müssen wir uns also überlegen, ob die Erwachsenen Schulen in einer Grippesaison schließen.
Selbst wenn die Schulschließungen ausbleiben, sehe ich noch ein weiteres Problem auf uns zu kommen. Aufgrund der schnellen Verbreitung der Delta-Variante und der deutlichen geringeren Krankheitslast bei Geimpften, werden die (tatsächlichen) Inzidenzen im Herbst stark steigen. Ich fände das gut, weil so viele freiwillig Ungeimpfte immunisiert würden. Nur wäre die Inzidenz unter den Kindern dann riesig. Wenn die heutigen Regeln für das Testen und die Quarantäne ganzer Kindergartengruppen weiter gelten würden, würden Kindergärten auch defacto geschlossen werden.
Vater von 4 (Dienstag, 29 Juni 2021 16:18)
Ich fasse mal den Beitrag zusammen:
"Die Bildung & die kleinen Blagen namens "Kinder" sind uns zwar irgendwie wichtig und so, aber die dürfen auch bitte nix kosten & keine Arbeit verursachen. Die Eltern, die sich sorgen, sollen einfach den Mund halten und weiter arbeiten gehen."
RudiPf (Dienstag, 29 Juni 2021 20:56)
Kurz zur Erinnerung, dass jeder der nicht geimpft wird sich nahezu sicher infizieren wird, solange die weltweite Herdenimmunität nicht erreicht ist.
Von den erwähnten rund 14 Mio weitestgehend ungeimpften Kinder und Jugendlichen werden, siehe Artikel, ca 1,7% stationär behandelt, also rund 240.000. Was etwas mehr ist, als die erwähnten schwer Verletzten.
Die Sterbewahrscheinlichkeit in der Altersgruppe liegt bei 1/10.000 also können wir mit rund 1400 toten Covid erkrankten Kindern und Jugendlichen rechnen. Was ungefähr der jährlichen Anzahl an Todesfälle pro Jahr in dieser Altersgruppe entspricht.
Erwähnen ließe sich noch LongCovid bei den Kindern und Jugendlichen, sowie der Effekt auf die geimpften Eltern. Die Impfung verringert nur die Wahrscheinlichkeiten der Infektionen, schweren Erkrankungen und Todesfälle. reduziert sie aber nicht auf 0.
Wenn die Kids (bzw. meine) in allen Altersgruppen geimpft sind, kann man vielleicht von "Lebensrisiko" reden. Bis dahin bitte nicht. Bis dahin bitte Maske auf, testen, Luftfilter und Quarantäne, Wechselunterricht und Homeshooling wo es das Infektionsgeschehen erfordert.
Nicole Reese (Dienstag, 29 Juni 2021 23:19)
Ich möchte nur Danke sagen für diese treffende Analyse, die mir aus dem Herzen spricht.
Birger (Mittwoch, 30 Juni 2021 10:12)
Lieber RudiPf,
ich möchte Ihre Berechnung etwas relativieren. Die 1,7% Krankenhausaufenthalte beziehen sich auf die nachgewiesenen 266.000 Infektionen unter Kindern. Antikörperstudien zeigen aber, dass schon mehr als 10% der Kinder (und Erwachsenen) mit Corona in Kontakt waren. Das wären also mindestens 1.400.000 Kinder. Das senkt das tatsächliche Risiko der Kinder um mehr als den Faktor 6. Auch muss man beachten, dass nur jedes 100. ins Krankenhaus aufgenommene Kind auf die Intensivstation musste. Ich stimme Ihnen aber zu, dass die Impfung der Risikogruppen unter Kindern die Krankheitslast noch einmal fast um eine Größenordnung senken würde. Wenn Sie das alles zusammen nehmen, wird das Risiko für gesunde Kinder sehr klein.
Viele Grüße,
Birger
H.B. (Mittwoch, 30 Juni 2021 10:34)
Wie (fast) immer an dieser Stelle eine treffende Analyse, die mir in dem Fall als Vater aus dem Herzen und als Wissenschaftler aus dem Kopf (leider gibt es dafür keine Redewendung) spricht.
"Auf die Wissenschaft hören" heißt,
- alle Disziplinen betrachten (nicht nur Medizin, sondern auch z.B. Bildungswissenschaften und Mathematik/Statistik)
- vorliegende Fakten zur Kenntnis nehmen
- die daraus folgenden Schlüsse zu Ende denken.
Sie, Herr Wiarda, tun das.
Herzlichen Dank !
Zur GEW: Sie ist eine Gewerkschaft, vertritt die Interessen ihrer Mitglieder, das ist in Ordnung so.
Man würde aber auch nicht (nur) die IG Metall fragen, ob bzw. wann ein Verbot des Verbrennungsmotors sinnvoll ist- obwohl sich deren Mitglieder mit Verbrennungsmotoren vielfach gut auskennen.
Jakob Wassink (Mittwoch, 30 Juni 2021 11:59)
Vielen Dank für die hervorragende Analyse!
Zwei kleine Punkte:
Für den breiten Einsatz von Luftfiltern müsste wohl die Elektronik in vielen Gebäuden erst einmal ertüchtigt werden.
Zur Risikoabwägung gehören die wohl doch sehr häufigen langwierigen psychischen Erkrankungen unserer Kinder. Erkrankungen