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189 Seiten Ambitionen

Die Ständige Wissenschaftliche Kommission der KMK fordert von der Bildungspolitik den großen Wurf in Sachen Digitalisierung. Aber wären die Kultusminister überhaupt in der Lage, ihn zu liefern?

Bild: Ausschnitt aus dem SWK-Gutachten "Digitalisierung des Bildungssystems". 

DIESE 189 SEITEN wollen die bundesdeutsche Bildungspolitik verändern. Und das in zweifacher Hinsicht. Die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) hat am Montagmorgen ihr Gutachten "Digitalisierung des Bildungssystems" präsentiert. Mit der Forderung nach einem "langfristigen, gemeinsamen Entwicklungsplan" inklusive der Festlegung von "Etappenzielen", wie der SWK-Vorsitzende Olaf Köller hervorhob. Insofern sind es weniger die – teilweise sehr ambitionierten – Einzelvorschläge als die Erwartung der Wissenschaft an die föderale Politik insgesamt, sich im Sinne des Großen und Ganzen zusammenzuraufen und sich in einer bislang kaum vorstellbaren Weise länder- und ebenenübergreifend zu koordinieren.

 

Kaum vorstellbar: Das umschreibt zugleich die zweite Dimension dieses bemerkenswerten Gutachtens. Es ist das Statement einer nicht einmal anderthalb Jahre alten Institution, der SWK, über sich selbst, und es lautet: Als Wissenschaftler sind wir nicht angetreten, um der Politik ein paar kosmetische Verbesserungen zu empfehlen, sondern es geht uns um den großen Wurf. Den großen Wurf entlang der gesamten Bildungskette von der frühkindlichen Bildung bis zur beruflichen Bildung, zur Hochschule und zur Lehrerbildung. Und mit diesem großen Wurf fangen wir bei der Digitalisierung an. "Die Kultusminister wussten, dass sie von uns unbequeme Empfehlungen bekommen", hätte Köller schon im Juni 2021 im Interview gesagt, zwei Wochen nach Gründung der SWK.

 

Wir wissen, was wir der Politik zumuten,
sagen die Wissenschaftler 

 

Und ja, ergänzt die SWK jetzt schon in der Einleitung ihres am Montag veröffentlichten Digitalisierungs-Gutachtens: Wir wissen, was wir der Politik damit zumuten. "Die SWK ist sich bewusst, dass ihre Empfehlungen grundlegende Veränderungen des Bildungssystems in allen Bildungsetappen bedingen. Dies erfordert von allen Akteuren im Bildungssystem eine enorme Kraftanstrengung, Innovationsbereitschaft und hohe Investitionen." Kann das gut gehen, noch dazu in einer Zeit des Krieges, der Inflation und des wachsenden Spardrucks auf die öffentlichen Haushalte. Eine Zeit, in der die Belange von Bildung und Kindern wieder einmal aus dem Blick zu geraten scheinen?

 

Wer wissen will, warum es in den vergangenen Jahrzehnten so wenige große Würfe in der bundesdeutschen Bildungspolitik gegeben hat, der muss zurückblicken auf die Zeit, in der zuletzt viel von großen bildungspolitischen Würfen die Rede war. 1973 war das, als Bund und Länder den bis heute einzigen Bildungsgesamtplan verabschiedet hatten, um dem föderalen Bildungssystem ein länderübergreifendes Gesamtkonzept zu geben.

 

Doch folgte der Verabschiedung niemals die Umsetzung. Offiziell weil das Unterfangen wegen der aufziehenden weltweiten Energiekrise zu teuer wurde. Gleichzeitig brachen aber auch die nur mühsam überdeckten Gegensätze wieder auf: zwischen den Parteien, zwischen Bund und Ländern, zwischen Bildungsreformern und Traditionalisten. Und zwischen Wissenschaft und Politik. 

 

Das Werden und Scheitern des Bildungsgesamtplans hatte viel zu tun mit dem Gremium, das die entscheidende konzeptionelle Vorarbeit präsentiert hatte: dem Deutschen Bildungsrat, der Bildungswissenschaft und Bildungspolitik zu einer neuen Form der Zusammenarbeit zusammenbringen sollte. 1965 analog zum Wissenschaftsrat gegründet, erarbeiteten die Wissenschaftler in der sogenannten Bildungskommission des Rates 1970 den "Strukturplan für das Bildungswesen". Mit mutigen – und aus heutiger Sicht – visionären Reformvorschlägen entlang der gesamten Bildungskette, angefangen mit den Kindergärten und der Vorschule bis zur  beruflichen Aus- und Weiterbildung und, besonders ausführlich, der Lehrerbildung. 

 

Doch anstatt sich der Wissenschaft näher zu fühlen, empfand eine wachsende Zahl von Kultusministern vor allem aus dem Unionslager es zunehmend so, dass die Wissenschaft im Bildungsrat die Politik vor sich hertrieb, noch dazu mit einer starken zeitgeistigen Schlagseite nach links und Richtung Zentralismus. Die Wissenschaft bestellte Reformen mit großer öffentlicher Geste, und die Politik, vor allem die Länder, sollten diese dann liefern. Von der Wissenschaft allein gelassen bei der Umsetzung.

 

Neue Gremien,
alte Konflikte?

 

Das ging wegen eines entscheidenden Konstruktionsunterschied zum Wissenschaftsrat: Die sogenannte Regierungskommission im Bildungsrat hatte nur Anhörungs-, aber anders als die Verwaltungskommission im Wissenschaftsrat kein Stimmrecht. Am Ende verschwand nicht nur der Bildungsgesamtplan auf dem Friedhof der Bildungsgeschichte, sondern auch der Deutsche Bildungsrat, dessen Mandat von der Politik nach einem Eklat um eine Empfehlung zur selbstständigen Schule 1975 nicht verlängert wurde. 

 

Womit wir wieder in der Gegenwart angekommen sind. Ursprünglich hatte es anstelle der SWK erneut einen Nationalen Bildungsrat gegeben sollen, gemeinsam gegründet von Bund und Ländern. Der Begriff hatte im Koalitionsvertrag der Großen Koalition von 2017 gestanden. Doch die Verhandlungen dazu mit dem Bund wurden Ende 2019 offiziell von der Kultusministerkonferenz (KMK) abgeblasen, nachdem als erster Bayerns CSU-Ministerpräsident Markus Söder dem Gremium eine so schroffe wie endgültige Absage erteilt hatte. Bildung sei und bleibe Ländersache ("Das bayerische Abitur bleibt bayerisch, übrigens genauso, wie die Ferienzeiten bleiben"). Basta. Ausdruck aktueller föderaler Machtspielchen? Oder Widerhall der Konflikte der 70er? 

 

Immerhin beließ es die KMK nicht einfach beim – in der Rückschau wenig überraschenden – Abblasen, sondern einigte sich – umso überraschender – schnell auf einen Ersatz: die Einrichtung eines "Bildungsrates/wissenschaftlichen Beirates" nur durch die KMK. Bestehend ausschließlich aus Wissenschaftlern, also ganz ohne zweite Kammer. Ein Bildungsrat light, ein weiteres wissenschaftliches Beratungsgremium, eingehegt durch einen engen politischen Auftrag, zahnloser Produzent von Pro-Forma-Empfehlungen?

 

Vielleicht hätten einige Länder es sich so gewünscht. Doch so wurde die SWK nicht konstruiert, sie erhielt von der Politik viel Freiraum. Sonst hätte sie auch führende Bildungswissenschaftler der Republik nicht zum Mitmachen bewegen können.

 

Die Wissenschaft ist eine andere –

und die Politik auch

 

Droht das Pendel nun stattdessen in die aus den 70ern bekannte Gegenrichtung zu schlagen? Die SWK als Urheber immer neuer fordernder Empfehlungen (die erste kam schon nach zwei Wochen) und Impulspapiere, die die Politik unter Druck oder sogar als vermeintlich handlungsschwach bloßstellen?

 

Einen Eklat zwischen KMK und SWK weniger zum Papier selbst als zu den Begleitumständen von dessen Präsentation gab es bereits im Mai, als die Kommission sich sehr deutlich zur Evaluation von Förderprogrammen im Bildungsbereich äußerte. Und nun die 189 Seiten Digitalisierungs-Gutachten, in dem die SWK der Politik einen "hohen Handlungsbedarf" bei der Anpassung von Bildungsinhalten, der Entwicklung forschungsbasierter Lernmaterialien in nachhaltigen Strukturen sowie der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften und pädagogischen Fachkräften bescheinigt?

 

Ja, und doch ist die Situation eine andere als in den 70er Jahren. Die Wissenschaft ist eine andere. Und die Politik auch.

 

Ebenfalls bereits in der Einleitung zum Gutachten macht die SWK sehr deutlich, dass sie die Politik mit der Umsetzung nicht allein lassen wird: "Klar ist, dass diese Veränderungen nicht in kurzer Zeit möglich sind." Daher die Forderung nach einem langfristigen Entwicklungsplan und Etappenzielen. "Für weitere Priorisierungen und Operationalisierungen in diesem Sinne steht die SWK als Dialogpartnerin der Bildungspolitik auch nach Vorlage dieser Empfehlungen zur Verfügung."

 

Der Kampf der KMK
mit sich selbst

 

Und so, wie die Wissenschaft sich nicht aus der Verantwortung stiehlt, kämpft auch die Bildungspolitik seit Jahren mit der Reform ihrer selbst. Am deutlichsten wurde dies an den jahrelangen Verhandlungen um das neue KMK-Bildungsabkommen, das die Kultusminister im im Oktober 2020 verabschiedeten – übrigens gleichzeitig mit dem Einrichtungsbeschluss zur SWK. Das Abkommen, von dem viele sich erhofft hätten, es würde den Rang eines Bildungsstaatsvertrages erhalten, blieb zwar hinter manchen Erwartungen zurück, und doch ist die KMK seitdem nicht mehr die gleiche. Sie müht sich, allerdings bislang mit viel internem Frust und wenig sichtbaren Erfolg, weiter um mehr Koordination, um eine Veränderung ihrer Abläufe und ihres Sekretariats. Vor über einem Jahr wurde die "Strukturkommission zur Weiterentwicklung der KMK" mit diesem Vorhaben beauftragt, sogar eine externe Beratung wurde eingeschaltet.

 

Nein, noch kann die KMK nicht den großen Wurf, doch einige (viele?) in der KMK wollen, dass sie es kann. Und versuchen, die anderen immer wieder anzuschieben, Ende: offen. In der Öffentlichkeit immerhin wirkte die KMK zuletzt bereits viel entschlossener. Kaum eine KMK-Präsidentin hat sich so oft und so pointiert zu Wort gemeldet wie dieses Jahr Karin Prien, die im Hauptberuf CDU-Bildungsministerin von Schleswig-Holstein ist. Gerade erst haben die Kultusminister sich selbst einen Beweis ihrer Selbstwirksamkeit geliefert, als sie sich zusammentaten und – erfolgreich – den Widerstand gegen die Ungleichbehandlung von Kindern durch die Infektionsschutz-Novelle organisierten. Hilft das ihrem weiteren Reformmut auf die Sprünge? Und nehmen sie das ambitionierte SWK-Gutachten als Ansporn für ihre eigenen KMK-Ambitionen?

 

KMK-Präsidentin Karin Prien sprach am Montag im Zusammenhang mit dem Gutachten der SWK von "interessanten Impulsen, die wir nun intensiv diskutieren müssen". Nicht erst durch die Erkenntnisse aus diesem Gutachten werde deutlich, "dass wir zukünftig eine neue Qualität der Zusammenarbeit zwischen frühkindlicher und schulischer Bildung brauchen und das auch neue Formen der Zusammenarbeit von Kita bis Hochschule erfordert". 

 

SWK und KMK, Bildungswissenschaft und Bildungspolitik, können aneinander und miteinander wachsen. Das wäre am Ende dann der eigentliche große Wurf.




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