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"Die Politik generiert keine Ziele, sondern Unsicherheit"

Am Mittwochnachmittag überreichen die EFI-Wissenschaftsweisen ihr Jahresgutachten an Bundeskanzler Scholz. Der EFI-Vorsitzende Uwe Cantner spricht im Interview über den transformationspolitischen "Schlingerkurs" der Ampel, Deutschlands Bildungskrise und den Rückstand bei der KI-Entwicklung, die Öffnung zur Militärforschung – und was die Regierung trotz allem richtig macht.

Uwe Cantner, 63, ist seit Mai 2019 Vorsitzender der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI). An der Universität Jena hat er eine Professur für VWL/Mikroökonomie, seit 2014 ist er Vizepräsident seiner Universität. Foto: David Ausserhofer.

Herr Cantner, wenn Sie nach der Überreichung des neuen EFI-Jahresgutachtens eine Minute allein hätten mit Olaf Scholz, was würden Sie ihm raten?

 

Meine wichtigste Botschaft an den Bundeskanzler wäre: Trotz aller Riesenaufgaben von der Verteidigungs- über die Sicherheits- bis hin zur Klimapolitik dürfen Forschung und Innovation auf keinen Fall unter die Räder der immer schärferen Budgetkonkurrenz geraten. Und dann würde ich ihm ein paar Vorschläge machen, wie sich die Bearbeitung der unterschiedlichen Herausforderungen geschickt mit einer gut ausfinanzierten F&E-Politik kombinieren ließe.

 

Alle wissen doch, dass sich die großen Probleme von heute und morgen nur mithilfe der Wissenschaft lösen lassen. Warum glauben Sie trotzdem, dass so eine Warnung nötig ist?

 

Weil wir die Transformation unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaft hin zur Klimaneutralität und damit auch die nötige Forschung und Entwicklung jetzt durchführen und finanzieren müssen, die Erträge aber erst weit nach den nächsten Wahlen sichtbar werden. Da ist es politisch opportuner, große Investitionsprogramme für die Bundeswehr zu beschließen oder Konjunkturstimuli, die schnell wirken. Wir dürfen über dem kurzfristig Drängendem nicht das langfristig Erforderliche aus den Augen verlieren.

 

Sie sagen es selbst: Politiker wollen Wahlen gewinnen, anstatt sie jetzt zu verlieren und in 15 Jahren Recht gehabt zu haben. 

 

Dieser Gegensatz ist nicht zwangsläufig. Es ist durchaus möglich, Verantwortung für heute und für die Zukunft zu übernehmen. Also Strategien und Maßnahmen zu entwickeln, die schnell helfen, mit ihren Auswirkungen aber der nächste Generation zu Gute kommen. Natürlich muss ich so einen langfristigen Plan den Wählerinnen und Wählern unbedingt erklären, sie dafür gewinnen. Die Grünen versuchen das meiner Meinung nach zurzeit am ehesten.

 

Und bekommen entsprechend Gegenwind. Sagen Sie mir bitte, wann eine Regierung das zuletzt so gehandhabt hat und dann erfolgreich bei Wahlen war. 

 

(lange Pause) Bei der Wiedervereinigung, beim Aufbau Ost, da hat es funktioniert. 

 

Den Eindruck hatte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl vermutlich nicht, als er von Demonstranten mit Eiern beworfen wurde. 

 

Proteste wird es immer geben, wenn sich Dinge ändern. Aber Kohl ist 1994 wiedergewählt worden. Und er hat das sehr geschickt angestellt mit seinem Versprechen, in zehn Jahren werde es im Osten "blühende Landschaften" geben. Bis die da waren, hat es zwar – im Nachhinein betrachtet – deutlich länger gedauert, aber er hat es mit diesem Narrativ geschafft, die Leute hinter sich zu bringen. Mehr noch: Er hat einen parteiübergreifenden Konsens in der Politik hergestellt, der ziemlich lange gehalten hat. Man hat das zusammen durchgezogen. So lange, bis wichtige Weichen gestellt waren. Ein bisschen von diesem Geist würde ich mir heute wünschen. Zuerst hatte ich den Eindruck, der Ampel-Koalitionsvertrag, der sehr ambitioniert war, wäre ein Signal für einen solchen gemeinsamen Aufbruch. Aber in der Praxis der drei Parteien prallen die Ideologien aufeinander. Und in der Wahrnehmung der Wähler verlieren alle Koalitionspartner – und extreme Kräfte bekommen Aufwind.  

 

"Jeden Tag wird eine andere Technologie durchs Dorf getrieben, die abgelöst oder besonders gefördert werden soll. Die Politik generiert keine Ziele, sondern Unsicherheit."

 

Ist es nicht erwartbar, dass bei einer Transformationsaufgabe dieser Größe die Fetzen fliegen?

 

Ich habe nichts dagegen, wenn über die Maßnahmen gestritten wird: Steuererhöhung, Steuersenkung, Subventionsabbau, Gebote und Verbote, solche Dinge. Das Problem ist, wenn darüber die gemeinsamen Ziele verloren gehen. Die Regierung braucht einen Zielkorridor, wo sie hinwill, und dieser Zielkorridor muss über eine Legislaturperiode und die jetzige Parteienkonstellation hinaus Bestand haben. Die Unternehmen haben hunderte Milliarden auf der hohen Kante, aber sie geben sie nicht aus, weil sie nicht wissen, in was sie investieren sollen. Jeden Tag wird eine andere Technologie durchs Dorf getrieben, die abgelöst oder besonders gefördert werden soll. Die Politik generiert keine Ziele, sondern Unsicherheit. 

 

Bekommen andere Länder das besser hin mit dem Zielesetzen?

 

Bei allen politischen Schwierigkeiten würde ich sagen, dass die USA besser sind im Ansagenmachen in Richtung ihrer Wirtschaft, im Setzen von Rahmenbedingungen. Oder nehmen Sie Österreich: Da hat die Bundesregierung einen nationalen Energie- und Klimaplan aufgestellt, auf den sich alle politischen Akteure verständigt haben, und unterlegt ihn strategisch-langfristig mit Maßnahmen wie der "Klimaneutralen Stadt". Natürlich ist es von Vorteil, wenn wie dort alle Zuständigkeiten in einem Ministerium konzentriert sind, das auch die operative Umsetzung übernimmt, das schafft Konstanz –während bei uns immer wieder irgendein Ressort oder eine Partei die Grundsatzfrage neu stellen will. 

 

Vielleicht wird das Thema bei uns zu sehr überhöht? Anstatt die Transformation als Teil des politischen Tagesgeschäfts zu begreifen und unaufgeregt voranzutreiben, wird in Deutschland immer die große Umwälzung beschworen. In einer Vorversion des EFI-Gutachtens stand, es handle sich um eine "Herkulesaufgabe" ohne Vorbild, die von den finanziellen Dimensionen vergleichbar sei mit dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg. 

 

Den Satz haben wir gestrichen, obwohl ich persönlich ihn angemessen fand. Entscheidend ist: Für diese Transformation gibt es keine Blaupause, keine Erfahrungswerte. Unserer deutschen Mentalität entspricht es, dass wir erstmal stehen bleiben und alles haarklein vorab besprechen und regeln wollen. Am besten juristisch wasserdicht. Anstatt wie andere Länder erstmal loszulaufen, auszuprobieren, und wenn etwas nicht funktioniert, unaufgeregt nachzusteuern. 

 

Die deutsche Politik fördert diese Mentalität, wenn sie so tut, als ließen sich im Voraus alle Härten ausschließen. Schon in der Corona-Pandemie hat sie Milliarden und Abermilliarden ausgegeben, um auch denen die Verluste auszugleichen, denen sie gar nicht wehgetan haben.

 

Die Politik weiß genau, dass sie solche Versprechen nicht halten kann. Die Transformation kostet fürchterlich viel Geld, es wird Gewinner und Verlierer geben, das kann man nicht alles abfangen. Doch aus Angst vor den Protesten entstehen solche politischen Lebenslügen. Und in der Not nimmt man dann Gelder, die für die Bekämpfung der Coronakrise vorgesehen waren, und will sie für die Transformation einsetzen – bis das Bundesverfassungsgericht einem einen Strich durch die Rechnung macht.  

 

Im EFI-Gutachten sprechen Sie von einem "Schlingerkurs".

 

Nehmen Sie das Gebäude-Energie-Gesetz. Wie konnte man auf die Idee kommen, den Einbau von Gasheizungen kurzfristig verbieten zu wollen, obwohl man weiß, dass der Einbau von Wärmepumpen pro Haushalt 30.000 Euro kosten wird, wahrscheinlich sogar mehr? Und warum hat man die soziale Abfederung erst später nachgeliefert? 

 

"Die Streichung der Subvention von Agrardiesel ist transformationspolitisch richtig. Ich darf aber bei der Umsetzung nicht gleich zwei Fehler machen."

 

Jetzt hat man die Pflicht aufgeweicht, und die staatliche Förderung bekommen alle, nicht nur die sozial Bedürftigen. Da ist sie wieder, die Beschwichtigungsstrategie auch denen gegenüber, die es sich leisten könnten.  

 

Das ist wie bei der Subvention von Agrardiesel. Deren Streichung ist transformationspolitisch richtig. Ich darf aber bei der Umsetzung nicht gleich zwei Fehler machen. Erstens: Ich nehme die Streichung der Subvention für Flugbenzin raus, obwohl es die Reichen sind, die fliegen und Kerosin verbrennen. Und zweitens verzichte ich beim Agrardiesel auf eine soziale Kompensation, eine Staffelung abhängig von der Betriebsgröße etwa. Da sind Proteste vorprogrammiert. Um diese Unausgewogenheit auszugleichen wäre es wohl besser gewesen, alle Subventionen um einen einheitlichen Prozentsatz zu kürzen. 

 

Sie widmen sich als EFI-Kommission diesmal ausführlich dem Bildungssystem. Die internationale Schulvergleichsstudie PISA hat gezeigt, dass deutsche Neuntklässler so schlecht lesen, schreiben und rechnen wie seit mindestens 20 Jahren nicht. Woraus Sie die Prognose ableiten, dass die Bundesrepublik über die nächsten Jahrzehnte eine unterdurchschnittliche wirtschaftliche Entwicklung nehmen wird. Steckt da nicht ein Denkfehler drin? Wenn sich die Schülerleistungen ein, zwei Jahrzehnte später in der Innovationsdynamik widerspiegeln, müssten wir gerade einen Boom erleben, denn vor 15, 20 Jahren befand sich unser Bildungssystem nach dem ersten PISA-Schock kräftig im Aufwind.

 

Natürlich kann man die Ergebnisse von Bildungsstudien nicht eins zu eins auf das künftige Wirtschaftswachstum übertragen, da gibt es noch weitere Faktoren. Aber wir sollten die Entwicklung sehr ernstnehmen. Unsere künftige Innovationsfähigkeit als Gesellschaft entscheidet sich heute daran, wie gut wir den jungen Menschen die Grundkompetenzen vermitteln. 

 

Dann machen Sie ein paar Vorschläge, was helfen würde.

 

Als EFI wollen wir vor allem eine nachdrückliche Warnung in Richtung Politik senden. Wir sind aber keine Bildungsforscher. Deren Botschaft ist allerdings überwiegend recht deutlich: weg vom Frontalunterricht, stattdessen eine interaktivere Unterrichtsgestaltung, ein Einsatz digitaler Medien und die Nutzung der neuen Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz, wo sie Sinn ergibt. Aber ohne zu überziehen – wir sehen, dass beispielsweise Schweden und Finnland den Grad der Digitalisierung in der Bildungsvermittlung zurückfahren. Wir müssen auch über die Prüfungsformate sprechen. Und ich kann nicht nachvollziehen, dass Deutschland zwar mit die höchsten Lehrergehälter weltweit hat, aber die Lehrerfortbildung wenig systematisch betreibt und zu wenig in sie investiert. Übrigens brauchen wir an den Hochschulen ebenfalls dringend wieder einen Diskurs über die Modernisierung der Studiengänge. Der ist leider zum Erliegen gekommen. Und die Lehrerbildung muss ins Zentrum der universitären Strategie rücken. 

 

Unterdessen fallen Deutschland und Europa bei der nächsten Schlüsseltechnologie zurück, der Künstlichen Intelligenz, die viele Experten für die entscheidende für die kommenden Jahrzehnte halten. Bis vor einer Weile tröstete die Wissenschaft sich damit, wenn schon nicht in der Umsetzung in Anwendungen und Produkte, dann wenigsten in der KI-Entwicklung an der Weltspitze zu sein. Das, sagt Ihre Kommission, ist jetzt auch vorbei.  

 

Nicht vorbei, aber wir drohen nach den Patenten auch bei den wissenschaftlichen Publikationen den Anschluss zu verlieren. Allerdings handelt es sich um eine sehr junge Technologie, die Entwicklungspfade sind nicht festgelegt, noch ist das Spiel nicht vorbei. Nehmen wir die großen KI-Sprachmodelle, da hat Open AI mit ChatGPT einen deutlichen Vorsprung, aber Aleph Alpha aus Deutschland und Mistral aus Frankreich sind in einer guten Position für eine Aufholjagd, um bei den Modellen der dritten Generation – vor allem in der Anwendung – die Augenhöhe zu erreichen. 

 

Allein mir fehlt der Glaube. Es sind die US-Konzerne von Google über Facebook bis hin zu Microsoft und Apple, die seit Jahren die weltweiten Standards vorgeben und einen Innovationssprung nach dem anderen abliefern. Und wir Deutschen und Europäer setzen diese Technologien ein, diskutieren über Datenschutz, europäische Lösungen und das Erringen technologischer Souveränität, und während wir noch diskutieren und politische Pläne schmieden, stellen die Amerikaner oder Chinesen uns mit dem nächsten Game Changer vor vollendete Tatsachen. 

 

Das muss nicht jedes Mal so laufen. Wir können uns immer noch auf eine starke Grundlagenforschung stützen, wir bilden hervorragende Leute aus. Die großflächige Einrichtung von KI-Professuren und Nachwuchsgruppen, die wir als EFI zunächst kritisiert haben, hat sich doch bewährt. Wenn Sie im Silicon Valley durch die Entwicklungsabteilungen der großen Tech-Konzerne laufen, stammt da gefühlt jeder dritte aus Deutschland. 

 

"Wenn wir das attraktiv genug machen,
gehen die Leute nach Dresden oder Tübingen
anstatt nach Stanford oder Palo Alto." 

 

Was nicht wirklich eine Beruhigung ist, wenn unsere KI-Talente keine Perspektiven für sich in Deutschland sehen.  

 

Wenn sie keine Chance haben, mit ihrem Know How bei uns wirtschaftlich erfolgreich zu sein, gehen sie weg, das ist richtig. Der Vorteil der amerikanischen Konzerne ist deren Größe und ein schier unerschöpfliches Finanzvolumen. Deutschland und Europa kann da nur mit KI-Ökosystemen gegenhalten. Diese können sich um Forschungszentren herum entwickeln, mit kleinen und größeren Laboren, Unternehmen und Start-ups. In Deutschland versuchen wir, mit den KI-Zentren Ähnliches zu entwickeln: Kerne der Grundlagenforschung, Hochschulen und Forschungsinstitute, und um sie herum eine geschickt aufgesetzte Startup-Förderung. Wenn wir das attraktiv genug machen, gehen die Leute nach Dresden oder Tübingen anstatt nach Stanford oder Palo Alto. 

 

Sie können nicht mit ein bisschen staatlicher Gründerförderung den weltweiten Kapitalzustrom in die US-Tech-Community kompensieren. Die jungen Leute gehen nach Kalifornien, weil sie dort das Risikokapital erhalten, das ihnen in Europa keiner gibt. 

 

Das kommt darauf an. Von einem bestimmten Punkt an entwickeln die Ökosysteme eine Eigendynamik, dann kommt das Geld, und die Investitionen folgen. Schauen Sie auf Intel oder Microsoft und ihre Pläne in Deutschland. Richtig ist, dass wir mehr mutige Unternehmer und Mäzene brauchen wie Dieter Schwarz, der massiv in Wissenschaft und Künstliche Intelligenz investiert und speziell in Aleph Alpha. Fest steht: Wenn wir es jetzt nicht mit aller Kraft versuchen, ist das Spiel wirklich entschieden zugunsten der USA oder von China. Innovationsfinanzierung, insbesondere im Start-up Bereich, ist ja ein deutsches Dauerproblem. Das lässt sich nicht nur mit deutscher Risikoaversion erklären, sondern auch mit dem Fehlen großer Pensionsfonds, die beispielsweise in den USA eine wichtige Rolle bei der Start-up-Finanzierung spielen. Aber das ist, wie gesagt, kein KI-spezifisches Problem.

 

Jetzt loben Sie die Politik bitte einmal.

 

Nur einmal? In unserem Gutachten sehen wir für Lob gleich mehrfachen Grund. Der wichtigste: Die Bundesregierung ist bei ihrer Forschungs- und Innovationspolitik an sich auf dem richtigen Weg. Sie ist sich der Aufgabe bewusst. Und sie beginnt bei allen erwähnten Inkonsistenzen mit der Umsetzung, sei es bei der Ausgestaltung der "Zukunftsstrategie Forschung und Innovation", bei der Weiterentwicklung der Bundesagentur für Sprunginnovationen (SPRIND) oder dem Aufbau der Deutschen Agentur für Transfer und Innovation (DATI). Natürlich würden wir uns bei der SPRIND wünschen, dass man ihr noch mehr rechtliche und finanzielle Freiräume gibt, dass die Bundesregierung zum Beispiel ganz auf ein Aufsichtsgremium verzichtet. Wir sehen aber ein, dass die Politik vermutlich so weit gegangen ist, wie sie kann. Bei der Zukunftsstrategie wiederum sind die Strukturen jetzt da, die Missionsteams zwischen den Ministerien wurden aufgestellt, die Beiräte installiert. Natürlich wäre es besser, wenn die Steuerung der Strategie nicht auf Ebene der Staatssekretäre angesiedelt wäre, sondern weiter oben. Und wenn sie einen eigenen Etat hätte, anstatt dass die Mitglieder der Missionsteams für jede Maßnahme Geld aus ihren Häusern mitbringen müssen. Aber jetzt sollten wir sie mal laufen lassen. Zu hoffen ist, dass der lange Atem da ist, in die eingeschlagene Richtung weiterzulaufen, falls es nächstes Jahr zu einem Regierungswechsel kommt. Bis eine Mission umgesetzt ist, wird es viele Jahre dauern. Womit ich wieder beim langfristigen Zielkorridor bin: Wir brauchen eine grundsätzliche Übereinkunft, die über die Ampel hinausreicht.

 

Eine Übereinkunft von wem? Sehen Sie nicht die Gefahr, dass die Ministerien am Ende doch zu stark die Richtung vorgeben und die Wissenschaftsfreiheit unter die Räder kommt?

 

Die Politik muss ihre Rolle genau definieren. Eine Mission vorgeben heißt: Wir wollen das Alte durch etwas Neues, Anderes ablösen. Aber was dieses Neue ist, geben wir nicht vor. Alles, was anders ist, kann erforscht und ausprobiert werden. Ein Beispiel: Wir wollen beim Automobilantrieb raus aus den fossilen Energien, aber in Hinblick auf die Alternativen fördern wir technologieoffen. Wir lassen die Akteure loslaufen und nutzen die Kreativität der Wissenschaft und des Marktes. 

 

Dann hat die FDP also Recht mit ihren Mahnungen, bloß nicht einseitig auf Batterieantriebe zu setzen?

 

Richtig ist, dass der Markt entscheiden muss, welche Technologien überleben und sich durchsetzen und welche nicht. Das heißt nicht, dass ich als Politik nicht verschiedene Innovationsansätze zeitweise mit Subventionen unterstützen darf, aber es muss von Anfang an klar kommuniziert werden, dass diese Subventionen befristet sind. Wenn eine Innovation nicht von der Mehrheit der Bevölkerung angenommen wird, dann muss die Politik irgendwann aufhören, sie zu fördern. Wobei der Zeitpunkt, wann Subventionen beendet werden, mitunter sehr schwer zu bestimmen ist. Bei neuen, genmodifizierten Ansätzen in der Landwirtschaft ist das genauso. Wir sollten die Erforschung in jedem Fall ermöglichen und vom Ergebnis abhängig machen, was langfristig erlaubt ist und was nicht. Aber wir dürfen nicht schon die Entwicklung verhindern!

 

"Der geopolitischen Lage können auch wir Wissenschaftler uns nicht verschließen. Studien aus den USA zeigen, dass jeder Dollar, der in Militärforschung gesteckt wird, weitere 50 Cent an ziviler Forschung stimuliert."

 

Am Anfang haben Sie gesagt, in Zeiten der Budgetkonkurrenz komme es darauf an, die Finanzierung der aktuell drängenden Herausforderungen geschickt mit den nötigen Ausgaben für Forschung und Entwicklung zu kombinieren. Aber was genau meinen Sie damit? Die Budgetkonkurrenz auflösen, indem die Wissenschaft in den Dienst der Aufrüstung gestellt wird?

 

So drastisch würde ich das nicht formulieren. Richtig ist aber: Das 100-Milliarden-Sondervermögen fließt nicht allein in militärisches Gerät. Ein Teil davon kann neue Forschungsansätze finanzieren, die einen Dual-Use-Charakter haben, also Richtung ziviler und militärischer Nutzung gehen. Was bei der Forschung zu Künstlicher Intelligenz eigentlich immer und grundsätzlich der Fall ist. Und noch ein Beispiel, das gar nichts mit Verteidigung zu tun hat: Wenn die Bundesregierung demnächst, über das Wachstumschancengesetz etwa, Maßnahmen zur Konjunkturstimulation ergreifen sollte, gehört da eine sogenannte Strukturkomponente rein. Also Investitionen, um den langfristig notwendigen Umbau der Industrie jetzt voranzutreiben. Das geht wiederum nur mit zusätzlichen F&E-Ausgaben. 

 

Was Sie da beschreiben, würde bedeuten, dass sich Forscher auch an Ihrer Hochschule, der Universität Jena, darauf einstellen müssten, sich demnächst häufiger um Drittmittelaufträge der Bundeswehr zu bewerben.

 

Das erfordert ein Umdenken, ja. Aber der geopolitischen Lage, in der wir uns befinden, können auch wir Wissenschaftler uns nicht verschließen. Studien aus den USA zeigen, dass jeder Dollar, der in Militärforschung gesteckt wird, weitere 50 Cent an ziviler Forschung stimuliert. Ich sehe die Schwierigkeit für die Universitäten eher anderswo. Wenn Sie einen Auftrag der Bundeswehr annehmen, kann es sein, dass die Wissenschaftler anschließend ihre Erkenntnisse nicht publizieren dürfen. Aktuell höre ich, dass es bereits bei einzelnen Drittmittelprojekten, die von der Cyberagentur finanziert werden, solche Probleme gibt. Publizieren ist aber die Voraussetzung, um in der Wissenschaft Karriere zu machen. Insofern glaube ich nicht, dass wir viele rein militärische Forschungsaufträge an Universitäten sehen werden. 

 

Sie loben die Bundesregierung auch dafür, dass Sie bei der DATI in die Umsetzung gekommen ist. Ist sie das? Das Gründungskonzept steht weiter aus, und die ersten Pilot-Förderlinien waren Kritikern zufolge so vage ausgeschrieben, dass es eine kaum zu handelbare Bewerbungsflut gab.

 

Das mit den vielen Bewerbungen finde ich überhaupt nicht schlimm. Das Ausschreibungsverfahren war bewusst experimentell aufgelegt, es musste breit sein, um den Transferbegriff möglichst offenzuhalten. Zum Glück ist man von der ursprünglichen Kanalisierung auf Hochschulen für Angewandte Wissenschaften weg. Was das Konzept angeht: Es gibt jetzt die Gründungskommission, und zu deren Aufgaben gehört neben der Auswahl von Ort und Leitung die Formulierung des finalen Konzepts. 

 

Was ursprünglich anders gedacht war. Sonst hätte das BMBF die Kommission viel früher berufen.

 

Jetzt ist sie am Arbeiten, das zählt.

 

Wird die DATI wenigstens gleich die Freiheitsgrade bekommen, um die die SPRIND über Jahre kämpfen musste?

 

Vielleicht ja, vielleicht wird sich der Kampf auch wiederholen. Wichtig ist, dass die Agentur bald loslegt und ins Ausprobieren kommt. Dann werden wir sehen.

 

"Wenn von oben, von der Ministeriumsspitze,
kein Druck gemacht wird, es anders zu machen,
dann sind all die Beschwörungen und Ambitionen
nichts wert. Es ist ein Drama."

 

Apropos: Evaluationen neuer Einrichtungen, Projekte und Förderlinien gehören inzwischen nicht nur in der Innovationspolitik zum Alltag. Nur dass sie laut Ihrem Gutachten oft nicht richtig aufgesetzt sind. 

 

Wir haben uns die Evaluationspraxis in zwei Ministerien angeschaut, dem BMWK und dem BMBF. In beiden Häusern existieren eigene Referate für Evaluation mit hochkompetenten Mitarbeitern, die wissen, wie es geht. Das BMWK hat im Jahr 2013 bereits eine Richtlinie zur Durchführung von Evaluationen erstellen lassen, die stimmt Punkt für Punkt. Trotzdem sehen wir viele Evaluationen, die nach dem Prinzip laufen: Ich gebe Geld, um zum Beispiel ein bestimmtes Technologiefeld zu fördern. Und wenn dieses Technologiefeld sich in ein paar Jahren positiv entwickelt hat, sage ich: Bingo, hat funktioniert. Obwohl das 1000 Gründe haben kann und überhaupt nicht an der Förderung liegen muss. Aber man weiß es nicht besser, weil man die Erfolgskriterien vorher nicht richtig bestimmt, keine Kontrollgruppe eingerichtet hat und nicht methodisch sauber misst. 

 

Wie kann das sein?

 

Die Expertise im eigenen Haus wird nicht ausreichend genutzt, man hört nicht auf das, was die Fachleute im Evalutionsreferat sagen. Und den Einrichtungen und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die extern mit der Evaluation beauftragt werden, verweigert man in der Regel die Herausgabe der notwendigen Daten, selbst wenn man sie hat. Das ist paradox. Offenbar herrscht in vielen Referaten immer noch Angst vor zu viel Transparenz – vielleicht aus Furcht, bei einer negativen Evaluation Budget einzubüßen. Weswegen das, was ein Ministerium anstößt, per definitionem positiv wirken muss. Wenn von oben, von der Ministeriumsspitze, kein Druck gemacht wird, es anders zu machen, dann sind all die Beschwörungen und Ambitionen nichts wert. Es ist ein Drama. 

 

Am Ende bekommen Sie noch eine zweite Minute mit Olaf Scholz. Ihr Rat an den Bundeskanzler?

 

Bei der Forschungs- und Innovationspolitik unbedingt Kurs beibehalten. Die Innovationspolitik der Bundesregierung ist nicht konturenscharf, aber die prinzipielle Richtung stimmt. Sich über die Ziele einigen, und wenn dann über den Weg und die Instrumente gestritten wird, ist das nicht schlimm. Entscheidend ist, nicht bei jeder Protestaktion zurückzuschrecken, sondern beharrlich zu erklären und auch mal klare Ansagen zu machen. Zu Beginn des Ukrainekriegs, als Deutschland eine Energiekrise abwenden musste, hat Robert Habeck das gemacht. Er hat jeden Abend erklärt, worum es geht und worauf es jetzt ankommt. Mittlerweile hat er das eingestellt. Wirklich schade. 



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Kommentare: 1
  • #1

    Hans Bernert (Donnerstag, 29 Februar 2024 15:04)

    Nach kursorischer Lektüre des Reports: Ob das noch was wird, mit Deutschland, wenn das die Grenzen der Vorstellungskraft sind?

    DARPA, 8200? Hatte ich auch schon mal in einem Airport-Bookstore-Buch gelesen. Und muss man hier einer noch kaputtere Gesellschaft nacheifern, so à la USA? Spin-offs aus Militärforschung? Klingt wie Franz Josef Strauß 1965. (Bestimmt haben sich die vielen Bedenken und Gegenargumente nicht einfach in Luft aufgelöst?) "Katalytische, marktorientierte Missionsorientierung"? Wird das nicht seit 40 Jahren betrieben? (Und wo hat's hingeführt?, nicht bekanntlich hin zu "Transformation"). Und wieso, so aus einem feeling heraus, eine ganze Generation an Forscher:innen an "KI" verheizen? (Wir erinnern uns an die Krokodilstränen aus "Großforschungs"-Zeiten). (Ferner: früher gab's hierzulande noch aufrechte Neoliberale, die von derartigen Subventionswettläufen nicht so viel gehalten hätten).

    ... Und so weiter: "Suche nach innovativen Lösungen der Wirtschaft überlassen und Partizipation der Gesellschaft ermöglichen": heisst das, derzeit ist die Partizipation der Gesellschaft nicht gewährleistet? Und was im Klartext? FuE-Konzentration bekämpfen? (VW et al zerschlagen?) Umverteilung, damit die Menschen tatsächlich konsumieren ("partizipieren"?) können? Bildungsexpansion, wie seinerzeit?

    Im Übrigen ist es etwas lame, das Scheitern von "Transformation" dem Wankelmut des Volks und ihren Politikern in die Schuhe zu schieben. Wenn's hart auf hart kommt, war's bekanntlich immer noch die eine oder andere Kapitalfraktion (und die Herren Professoren), die sich ihre "Freiheit" nicht nehmen lassen wollte(n).