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Zwei Begriffe der Wissenschaftsfreiheit

Die Unterstützer des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit wollen sich für einen offenen Diskurs einsetzen und plädieren doch in Teilen für seine Beschränkung. Wie ist das zu erklären? Und was folgt daraus? Ein Gastbeitrag von Karsten Schubert.

Karsten Schubert ist Associate Fellow am Lehrbereich Politische Theorie der Humboldt-Universität zu Berlin. Foto: privat.

DAS NETZWERK WISSENSCHAFTSFREIHEIT warnt, dass die Wissenschaftsfreiheit durch Moralisierung und Politisierung bedroht werde. Identitätspolitik und "Cancel Culture" hätten auch in die Wissenschaft Einzug gehalten, führten zum Ausschluss von "kontroversen" wissenschaftlichen Positionen und verhinderten so einen kritischen wissenschaftlichen Austausch. 

 

Grundlage dieser Kritik ist ein Verständnis von Wissenschaftsfreiheit, das in liberaler Tradition steht und eine negative Begriffsdefinition umfasst. Negativ insofern, dass Wissenschaftsfreiheit vom Netzwerk als Abwesenheit politischer Einmischung verstanden wird: Wissenschaft, so die Überzeugung, ist dann frei, wenn sie nicht politisch beeinflusst und normiert wird. 

 

Doch anders als dieser negative Freiheitsbegriff erwarten ließe, geht es im Verständnis des Netzwerks nicht in erster Linie um die Freiheit von staatlichen Eingriffen. Vielmehr ist die Freiheit von der Kritik durch andere wissenschaftliche Ansätze gemeint. Im Fokus des Netzwerks stehen kritische Ansätze, zu deren Geschäft es gehört, Forschung zu kritisieren, die Diskriminierungsstrukturen stützen kann. Diese Kritik versteht das Netzwerk als unwissenschaftliche und ideologische Moralisierung und Politisierung und damit als eine Art außerwissenschaftlichen Eingriff in die Wissenschaft durch andere Wissenschaftler_innen.

 

Wissenschaftsfreiheit heißt für das Netzwerk also, frei zu sein von der Einmischung durch kritische Forschung. Allerdings ist ein so verstandener negativer Begriff von Wissenschaftsfreiheit in mehrfacher Hinsicht widersprüchlich.

 

 

1. Einseitig festlegen, was ideologisch ist

 

Die Abwehr von staatlichen Eingriffen ist ein wichtiges Kernelement jedes Begriffs der Wissenschaftsfreiheit. Wie gravierend staatliche Eingriffe sein können, kann man in Ungarn, der Türkei und den USA beobachten. Und auch in Deutschland gibt es in letzter Zeit staatlichen Druck auf die Wissenschaft, wenn es darum geht, gegen Antisemitismus vorzugehen, wobei auch solche Positionen eingeschränkt werden, die tatsächlich legitime Kritik an Israels Regierung üben. Doch die Konzentration des Netzwerks auf die Kritik an kritischer Wissenschaft wie Gender Studies und Postkolonialismus ist eine Unterstützung für politische Akteure, die genau diese Disziplinen staatlich einschränken wollen.

 

Prominente Netzwerkmitglieder sprechen sich sogar offen für staatliche Einschränkungen aus, so hat jüngst Susanne Schröter das bayerische Genderverbot unterstützt. Dies ist kein Zufall, denn bei der Kritik an angeblich "ideologischer" Wissenschaft wird einseitig festgelegt, was ideologisch ist (und deshalb eingeschränkt werden soll) und was nicht. Genau das widerspricht aber dem liberalen Ethos des offenen Gesprächs eigentlich. Doch wird dieses Problem der Setzung und Positionalität in der umfangreichen Textproduktion im Kreis des Netzwerks meines Wissens nicht reflektiert (siehe zum Beispiel hier, Seite  55 bis 71). Das ist in gewisser Weise konsequent, denn die widersprüchliche Forderung von wertfreier und nicht-ideologischer Wissenschaft ist tief im liberalen Denken verankert. 

 

 

2. Als politischer Akteur die Politisierung kritisieren


Das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit ist auch dann selbstwidersprüchlich, wenn es die Politisierung der Wissenschaft allgemein kritisiert, aber sie einseitig den kritischen Ansätzen vorwirft. Es tritt als politischer Akteur auf, der sich aber selbst als unpolitisch markiert, indem er vorgibt, die Wissenschaftsfreiheit allgemein, unabhängig von politischen Positionierungen zu verteidigen. Die eigene Politizität des Netzwerks wird jedoch klar deutlich, wenn Netzwerk-Mitglieder Queer Studies, Postkolonialismus und Gender Studies als "Agendawissenschaft" mit "identitätslinker Läuterungsagenda" (Seite 20) kritisieren.

 

Das Netzwerk ist also ein konservativer politischer Akteur innerhalb der Wissenschaft, der versucht, seine eigene konservative Politik zu verschleiern bzw. zu verallgemeinern, indem es sich auf den universell klingenden Begriff der Wissenschaftsfreiheit stützt. Kurz: Es geht nicht um Wissenschaftsfreiheit für alle, sondern um die Wissenschaftsfreiheit für konservative Professor_innen.

 

 

3. Blind gegenüber Machtstrukturen werden

 

Freiheit im liberalen Sinne als die Abwesenheit offensichtlicher Eingriffe zu verstehen, führt dazu, blind gegenüber Machtstrukturen zu werden. Die Professor_innen des Netzwerks fühlen sich beispielsweise frei, solange ihnen nicht vorgeworfen wird, dass ihre eigene Forschung womöglich sexistisch oder rassistisch ist. Und sie bemühen dafür das Ideal des bedingungslosen, pluralen und offenen Diskurses.

 

Dass für solche Menschen, die von Sexismus, Rassismus und Transfeindlichkeit an der Hochschule betroffen sind, dieser offene Diskurs von vornherein nicht möglich ist, lässt sich mit solch einem Freiheitsverständnis schlecht beschreiben. Im Gegenteil: Der Protest solcher Menschen für die Änderung der Strukturen wird sogar als Freiheitseinschränkung empfunden; als ein von "politischer Korrektheit" und "Cancel Culture" getriebener Eingriff. Tatsächlich können die mit diesen Schlagworten kritisierten Phänomene aber zu einer Verbesserung der Wissenschaftsfreiheit führen, weil sie dabei helfen, die Wissenschaft zu diversifizieren.

 

 

Die Wissenschaft diversifizieren, ohne

die Wissenschaftsfreiheit einzuschränken

 

Wie kann Wissenschaftsfreiheit verstanden werden, um diese Probleme zu vermeiden? Von welchem Begriff der Wissenschaftsfreiheit ausgehend lässt sich das Netzwerk kritisieren? Dies gelingt mit dem kritischen Begriff der Wissenschaftsfreiheit. Dieser geht von der Diagnose aus, dass starre Macht- und Privilegienstrukturen das zentrale Hindernis für die gemeinsame Arbeit an wissenschaftlicher Objektivität sind, weil sie die Perspektiven von Forscher_innen, die nicht zur Mehrheitsgesellschaft gehören, marginalisieren. Deshalb geht es dem kritischen Begriff der Wissenschaftsfreiheit um eine Diversifizierung der Wissenschaft, und damit einhergehend, um eine Reflexion und Transformation des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik.

 

Der kritische Begriff speist sich aus wissenschaftstheoretischen, politiktheoretischen und epistemologischen Ressourcen, die zeigen, dass die Grenze zwischen Wissenschaft und Politik nicht eindeutig gezogen werden kann, weil die Wissenschaft politisch institutionalisiert ist und selbst nicht politisch neutral sein kann. Wissenschaftsfreiheit kann deshalb nicht allein negativ als Freiheit von politischer Einmischung verstanden werden wie beim Netzwerk, sondern sie ist eine Sache der aktiven politischen Gestaltung von Freiheitsräumen.

 

Die Herausforderung des kritischen Begriffs ist insofern, wie die Wissenschaft diversifiziert werden kann, ohne dass eine solche Diversitätspolitik in eine Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit umschlägt. Die interne Diversifizierung durch den selbstgesteuerten Öffnungsprozess einzelner Disziplinen für kritische Standpunkte, beispielsweise durch die "Dekolonialisierung" von Lehrplänen, ist diesbezüglich unproblematisch – denn Wissenschaftsfreiheit impliziert keinen Bestandsschutz für den Einfluss von Ansätzen, die durch den wissenschaftlichen Fortschritt überholt wurden.

 

Herausfordernder ist die extern-institutionelle Diversifizierung, also die Änderungen der politisch-rechtlichen Rahmenbedingungen der Wissenschaft und eine politische Diversitätssteuerung über die Forschungsförderung, die in einer Spannung zur Pluralität der Forschungsansätze geraten kann, die wiederum einen Kerngehalt der Wissenschaftsfreiheit darstellt. Zuletzt kann extern-aktivistische Diversifizierung durch Proteste im akademischen Umfeld nicht mithilfe des kritischen Begriffs der Wissenschaftsfreiheit legitimiert werden – sobald sie disruptive Mittel wählen, etwa das Verhindern von Vorträgen, weil sie damit unmittelbar die individuelle Wissenschaftsfreiheit einzelner Forschender einschränken.

 

Ein diskursiver Protest aber, beispielsweise durch Demonstrationen, ist der Wissenschaftsfreiheit potenziell zuträglich.

 

Weitere Überlegungen zu den beiden Begriffen der Wissenschaftsfreiheit gibt es in Karsten Schuberts Zeitschriftenartikel "Zwei Begriffe der Wissenschaftsfreiheit: Zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik" in der Zeitschrift für Praktische Philosophie.


In eigener Sache

Dieser Blog hat sich zu einer einschlägigen Adresse der Berichterstattung über die bundesweite Bildungs- und Wissenschaftspolitik entwickelt. Bitte helfen Sie mit, damit er für alle offen bleibt.



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Kommentare: 11
  • #1

    Heinz G. Fehrenbach (Mittwoch, 03 April 2024 11:13)

    Vielen Dank für den wertvollen Beitrag!

    Leider führt der Link, der zu dem Zeitschriftenbeitrag führen soll, ins Leere. Vielleicht lässt sich das noch korrigieren.

  • #2

    Jan-Martin Wiarda (Mittwoch, 03 April 2024 11:34)

    Herzlichen Dank für den Hinweis! Ist jetzt korrigiert. Beste Grüße!

  • #3

    McFischer (Mittwoch, 03 April 2024 12:32)

    Ebenfalls Danke für diesen sehr klugen, differenzierten Beitrag.
    Seit Habermas & Co in den 1960/70ern ist klar, dass es unpolitische Wissenschaft nicht geben kann - insofern ein gutes Plädoyer, die negative Freiheit der Wissenschaft von politischer Beeinflussung immer neu auszuhandeln. (Letztlich ist jede Forschungsförderung - zumindest aus öffentlichen Mitteln - ein politischer Akt, da immer Themen und Fragestellungen präferiert werden.)
    Nur bei dem Argument, dass gesellschaftlich benachteiligte Positionen ein genuines Vorrecht haben, sich gegen "durch den wiss. Fortschritt überholte Ansätze" durchzusetzen, kann ich nicht ganz mitgehen. Das ist zu mechanistisch, als Abfolge von neuen, besseren wissenschaftlichen Erkenntnissen die alte, schlechtere ablösen. Es gibt vielmehr ein Nebeneinander alter und neuer Ansätze, immer wieder auch "Revivals" alter Theorien und Perspektiven, und das ist sinnvoll.

  • #4

    McFischer (Mittwoch, 03 April 2024 12:38)

    Und noch ein Nachsatz: Die Twitter/X-Posts von Frau Schröter sind mittlerweile abstrus rechtspopulistisch-aktivistisch geworden, lassen jede wissenschaftliche Nuancierung und Reflexion vermissen. Ein schon fast tragisches Abdriften aus dem wissenschaftlichen Diskurs hinaus.

  • #5

    Laubeiter (Mittwoch, 03 April 2024 19:41)

    Mir gefällt, dass dieser Beitrag so genau argumentiert, vielen Dank. Ich möchte zu einem Argument nachfragen, und zwar" Der Protest solcher Menschen für die Änderung der Strukturen wird sogar als Freiheitseinschränkung empfunden; als ein von "politischer Korrektheit" und "Cancel Culture" getriebener Eingriff. Tatsächlich können die mit diesen Schlagworten kritisierten Phänomene aber zu einer Verbesserung der Wissenschaftsfreiheit führen, weil sie dabei helfen, die Wissenschaft zu diversifizieren." Wenn einem Prof. Protest begegnet, der erst eine Partei gründet, die das GG kippen möchte, und dann aus der von ihm gegründeten Partei austritt und an der Uni wieder Vorlesungen abhalten will, so soll der Protest gegen den Prof. Wissenschaftsdiversität dienen, aber die Vorlesung des Profs. soll durch die Wissenschaftsfreiheit nicht geschützt sein? Vorlesungen zu verhindern erhöht für mich nicht Diversität, und es verringert für mich die Freiheit.

  • #6

    Contrarian (Donnerstag, 04 April 2024 06:53)

    Dieser Beitrag wirkt wie aus der Zeit gefallen. Über 80% der Professoren der Harvard University identifizieren sch selbst (!) als links bzw. linksliberal. Nur gut 1% als konservativ (Quelle: The Harvard Crimson). Diese Schlagseite wirkt sich selbstverständlich auf Dissertationen und Berufungen aus: Wer Forschungsschwerpunkte verfolgt wie Herr Schubert, schwimmt im universitären Mainstream. Wer mit einem konservativen Thema promoviert werden möchte, wird mindestens scheel angesehen.

  • #7

    Norbert (Donnerstag, 04 April 2024 14:32)

    In den ersten Absätzen argumentiert der Autor, dass das Netzwerk für Wissenschaftsfreiheit eigentlich nur möchte, dass die eigene (konservativere) Vorstellung von Wissenschaft nicht angegriffen wird. Ich bin mir nicht sicher, ob das Netzwerk das tatsächlich meint. Mir scheint eher, dass das mittlerweile eine klassische Verteidigung gegen Personen ist, die mit Cancel Culture argumentieren: "Wer Cancel Culture sagt, hat eigentlich nur Angst kritisiert zu werden. Und es gibt kein Recht, nicht kritisiert zu werden." Es ist in meinen Augen allerdings ein großer Unterschied, ob man kritisiert wird oder ob man nicht mehr zu einer Veranstaltung eingeladen wird, auf der man seine Position hätte darstellen können, oder ob der eigene Vertrag nicht verlängert wird, weil man eine kritikwürdige (aber nicht strafbare) Position vertritt. In letzter Zeit gibt es immer mehr "Kritik", die auch solche gravierenden Konsequenzen fordert. Und diese Kritik kommt meist aus den progressiven Fächern (z.B. Soziologie). Dementsprechend wendet sich das Netzwerk auch verstärkt gegen diese Ansätze. Dabei schießt es auch über das Ziel hinaus und fordert eine Einschränkung dieser Disziplinen, die der eigentlichen Idee der Wissenschaftsfreiheit widerspricht.
    Der Autor des Artikels kommt allerdings erst im vorletzten Absatz auf diese neue Form der Kritik zu sprechen, die für die Betroffenen oftmals gravierende Konsequenzen hat (abgesagte Auftritte, Kündigung). In sehr komplizierter und intellektuell verbrämter Form stellt er fest, dass sich solche Anliegen auch nicht auf die Wissenschaftsfreiheit berufen können ("extern-aktivistische Diversifizierung, die disruptive Mittel wählt"). Er stimmt also der Kritik des "Netzwerkes Wissenschaftsfreiheit" hier zu - dieses hat sich ja explizit so benannt, um solche Kritik als Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit zu brandmarken. Eigentlich ein erstaunliches Ende, wenn man bedenkt, dass der Autor das Netzwerk eigentlich (wie es mir scheint) kritisieren wollte.

  • #8

    Josef König (Freitag, 05 April 2024 11:34)

    #7 ist m.E. zuzustimmen.
    Was beim Beitrag von Karsten Schubert auffällt, ist zweierlei:
    1) dass er den rein negativen Begriff der Wissenschaftsfreiheit zurückweist, obwohl gerade und nur dieser von GG 5 gedeckt wird (man sollte nicht vergessen, dass für diese Freiheit vor staatlicher Bevormundung jahrhundertelang gekämpft worden ist), und

    2) dass er zwar von einem "kritischen Wissenschaftsfreiheitsbegriff" spricht und diesen für sich positiv reklamiert, dieser aber völlig diffus bleibt und an seinen Ränder ausfranst.
    Damit sind zwei Eindrücke bei mir entstanden,
    a) dass der Autor mit seinem Begriff des "kritischen" W-Begriff die Kritik aus dem Lager der Verfechter des negativen Wissenschaftfreiheitsbegriffs abwehren will,
    b) mit seinem diffus "kritisichen" W-Begriff manchen Aktivismus und politisches Engagement aus diesem legitimieren will.
    Das führt zu Fragen, wie, welchen Begriff von Wissen der Autor im Sinn hat, welche Aufgaben er dem Wissenschaftssystem zuspricht, und wie er Wissenschaft von politischen Aktivismus er trennen bzw. wenn nicht so legitimieren will.
    Aus meiner Sicht bleibt die wichtigste Aufgabe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Wissen zu erzeugen - und dieses offenzulegen, zu diskutieren und zu kritisieren, ohne anderen das Wort abzuschneiden. Wem es allerdings nicht reicht, die Welt zu erklären, sondern sie verändern will, dem steht der Weg in die Politik offen - aber nicht als Wissenschaftler.
    Das Wissenschaftssystem hat in den letzten Jahrzehnten in der Öffentlichkeit zu viel Kapital und Glaubwürdigkeit verloren, weil genau diese Vermischung von Wissenschaft und Aktivismus stattgefunden hat und weiter stattfindet. Experten sollten mE mit ihrer Expertise die Politik beraten (können), aber damit nicht selbst Politik betreiben wollen. Das gilt bis hinein in die Medizin, die gerade zuletzt in der Pandemie ihre Schwäche dadurch erwiesen hat, dass sie der Politik die Wege vorzuschreiben versuchte.

  • #9

    McFischer (Freitag, 05 April 2024 13:29)

    @#8:
    Zu ihrer Feststellung "Das Wissenschaftssystem hat in den letzten Jahrzehnten in der Öffentlichkeit zu viel Kapital und Glaubwürdigkeit verloren, weil genau diese Vermischung von Wissenschaft und Aktivismus stattgefunden hat und weiter stattfindet." möchte ich widersprechen.
    (a) Das Wissenschaftssystem hat meines Erachtens überhaupt nicht an Glaubwürdigkeit allgemein verloren. Gerade die Covid-Pandemie hat die Reputation gerade von Grundlagenforschung (biomedizinisch etc., aber auch begleitender Erkenntnisse aus den Bildungswissenschaften, Soziologie etc.) maßgeblich erhöht. Über 60 Mio Menschen in D haben sich bis April 2023 mind. einmal impfen lassen - die Verzerrung der öffentlichen Wahrnehmung basiert aber auf den lauten und politisch gestützten Impfkritikern.
    (b) Die Zeitangabe "in den letzten Jahrzehnten" ist natürlich etwas ungenau. Seit wann beobachten Sie das? 1970? 2000? Und woran machen Sie das fest (siehe (a))?
    (c) Wissenschaft & Aktivismus... das lässt sich nie trennen. Denn was gesellschaftliche Herausforderungen sind, die wissenschaftlich untersucht werden, ist immer von einem politisch-gesellschaftlichen Aktivismus abhängig. Ob "Die Arbeitslosen von Marienthal" oder Forschung über den Zusammenhang von Zigarettenkonsum und Krebs... es gab hier immer gesellschaftlichen Ziele, Notwendigkeiten und Implikationen.

  • #10

    #IchBinTina (Sonntag, 07 April 2024 17:30)

    @Josef König (#8): "... dass er den rein negativen Begriff der Wissenschaftsfreiheit zurückweist, obwohl gerade und nur dieser von GG 5 gedeckt wird (man sollte nicht vergessen, dass für diese Freiheit vor staatlicher Bevormundung jahrhundertelang gekämpft worden ist)".

    Exakt: Nur die Freiheit vor staatlichem Eingriff ist vom GG gedeckt - das ist allerdings nicht das, was das Netzwerk fordert, sondern es fordert staatlichen Eingriff in die Freiheit der Kritisierenden.

    Anhand von Beispielen: Die "cause célèbre" des NW ist die Vorlesung von Bernd Lucke an der Universität Hamburg nach seiner Rückkehr auf die Professur. In diesem Fall war schon vorher bekannt, dass es Proteste geben würde. Die Universität hat deswegen eine Online-Veranstaltung und die Verlegung angeboten, was von Bernd Lucke aber abgelehnt wurde - er bestand darauf, die Vorlesung in Präsenz zu halten, was der Forderung entspricht, Ressourcen für das Unterbinden von Protest aufzuwenden.

    Wie im Beitrag erwähnt, befürwortet das Netzwerk ein Verbot der geschlechtergerechten Schriftform, wenn dabei Sonderzeichen verwendet werden. Es hat den Fall eines Honorar-Professors unterstützt, der sich in einer Auseinandersetzung mit der Hochschule befand, nicht weil er selbst gendern sollte, sondern weil er das den Studierenden in seinen Veranstaltungen verboten hat.

    Das Netzwerk betont immer wieder, dass "Nicht-mehr-eingeladen-werden" eine Form von Canceln sei, womit es z.B. für Diskussionen zum Thema Migration faktisch gefordert wird, andere als rein wissenschaftliche Kriterien an die Auswahl der Teilnehmenden einer Diskussionsrunde anzulegen. Das ist nicht die Abwesenheit von staatlichem Eingriff, sondern staatlicher Eingriff in die Wissenschafts- und Meinungsfreiheit anderer. Letztlich geht es um Verteilungskämpfe: Angehörige des Netzwerks vertreten sehr oft etablierte bis überkommene Forschungsansätze, z.B. im Bereich der Forschung zum Kolonialismus. Sie wehren sich dagegen von jüngeren Forschenden, die sich kritisch damit auseinandersetzen, verdrängt zu werden - und rufen dafür nach "Vater Staat".

  • #11

    Josef König (Montag, 08 April 2024 20:29)

    #9
    zu a) dass sich 60 Mio. Menschen gegen Covid 19 haben impfen lassen, kann doch nicht als Argument für das Vertrauen in die Wissenschaft angeführt werden. Vergessen Sie bitte nicht, wie viel Angst im Spiel war, die sowohl von Wissenschaftlern (insb. Virologen), Politikern und Medien verbreitet wurden und welcher Druck dabei erzeugt worden ist. Und wie wenig Vertrauen selbst die Politik in die Wissenschaft zeigte, erweist die Tatsache, dass eine RCT Untersuchung über das Tragen von Masken bei Kindern unterblieben ist, obwohl positive Gutachten und Finanzierung vorhanden waren. (Von so genannten "Querdenkern" spreche ich nicht in dem Zusammenhang). Immerhin tun sich Wissenschaft und Politik noch immer schwer, die Pandemie und die Fehlentscheidungen wirklich aufzuarbeiten.

    zu b) Eine konkrete Zeitangabe ist immer schwer, weil letztlich die Themen im Laufe der Jahre wechselten. So war es der politisch geprägten Linguistik in den späten 70er Jahren vorbehalten, den Begriff des "generischen Maskulinums“ zunächst zu erfinden und in die Diskussion einzubringen, um wiederum politisch Sprache einer gewollten Transformation auszusetzen. Dass Sprache sich wandelt, ist mir klar und selbstverständlich. Dass aber bewusst der Sprachwandel wissenschaftlich erzeugt, forciert und über Aktivismus durchgesetzt wird, ist nicht durch den „natürlichen" Sprachwandel gedeckt. Auch am Überschwappen von Cancel Culture, Postkolonialismus und Racetheorien aus den USA in die deutsche Diskussion kann man zeigen, dass hier Wissenschaft und Aktivismus Hand in Hand gehen.

    - womit wir bei c) sind: Dass Wissenschaft politisch ist und nicht in einem wertfreien Raum stattfindet, ist mir sehr wohl bewusst. Aber es ist ein Unterschied, ob Forschende gesellschaftliche Missstände untersuchen und mit Argumenten die Probleme darstellen oder ob sie selbst (sic!) sich als politische Akteure der Fortentwicklung der Gesellschaft verstehen und zum Teil aus vorderster Position agieren. Sie sollten nicht vergessen, dass im Unterschied zu Politikern die Forschenden weder dazu demokratisch gewählt und damit legitimiert worden sind, noch tragen sie dafür politische Verantwortung, zu der sie ggf. zur Rechenschaft gezogen werden können. Sie können lediglich Verantwortung für die Qualität ihrer eigenen Forschung tragen und dem Willen, Wissen zu erzeugen.

    #10
    Ohne dass ich mit Bernd Lücke und seiner politischen Haltung sympathisiere, gilt auch für ihn als Professor einer staatlichen Universität die Freiheit der Lehre und Forschung und die Verpflichtung, seine Lehre zu erbringen. Wenn er sie in einem Hörsaal oder Seminarraum erbringen will, kann ihm das rechtlich nicht verwehrt werden.

    Was "geschlechtergerechte" Sprache ist und wie sie anzuwenden sei, lässt sich breit und lang und kaum frei von politischen Präferenzen, Implikationen und persönlichen Vorlieben diskutieren. Dennoch sollte man nicht vergessen, dass der Rat der Deutschen Sprache bislang die Sonderzeichen als nicht adäquat einstuft und somit sind sie nicht konform mit der Rechtschreibung eingestuft. Dafür hat er gute Gründe angegeben.

    Und was das "nicht eingeladen werden" angeht, so ernten beide Seiten nicht gerade besondere Lorbeeren: Man soll nicht vergessen, dass Wissenschaftlern wie Baberowski und Münkler versucht wurde, das Wort abzuschneiden, und erst kürzlich ist die Humboldt Uni Berlin im Verfahren gegen Marie-Luise Vollbrecht gescheitert. Zuletzt musste auch die Diskussion zum Vortrag der Richterin am Obersten Gericht in Jerusalem an der HU Berlin abgebrochen und verlegt werden.

    Audiatur et altera pars - sollte der Wahrspruch der Wissenschaft sein.