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Damit die Schulen offen bleiben

Einige der wichtigsten medizinischen Fachgesellschaften sagen in einem neuen Positionspapier, wie Betreuung und Unterricht unter Corona-Bedingungen ablaufen sollten. Dabei differenzieren sie nach Altersgruppen und Infektionsgeschehen. Genau das macht die Stellungnahme so wegweisend.

ES IST EIN PAPIER, das Maßstäbe setzt. Nicht irgendwelche, sondern die für den Regelbetrieb an Schulen entscheidenden. Und das gerade noch rechtzeitig zum Start ins neue Schuljahr. Auch die Autoren und Unterzeichner der gestern veröffentlichten Stellungnahme sind nicht irgendwelche, sondern viele der wichtigsten medizinischen Fachgesellschaften und Verbände, darunter die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie, die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin oder auch die Deutsche Gesellschaft für Hygiene und Mikrobiologie. 

 

Und auch wenn es keine offizielle Positionierung des Robert-Koch-Instituts ist, dessen Präsident Lothar Wieler war ebenfalls an ihrer Entstehung beteiligt: 15 Seiten mit Maßnahmen, um einerseits den schulischen Betrieb im neuen Schuljahr auch bei steigenden Infektionszahlen möglichst lange aufrechterhalten zu können und um andererseits Corona-Ausbrüche in Kitas oder Schulen möglichst gar nicht erst aufkommen zu lassen.

 

Vor allem aber, und das passt zu den gerade erst von Bayern und Sachsen vorgelegten, ebenfalls vorbildlichen Stufenplänen: Auch die Fachexperten verknüpfen die jeweils nötigen Maßnahmen mit dem Verlauf der Pandemie. Was ihr Papier dabei noch stärker zum Vorbild machen sollte für alle Kultusministerien der Republik: Es differenziert, anders als Bayern und Sachsen, auch noch nach dem Alter der Kinder. Denn wie die Unterzeichner gleich in der Präambel betonen: Vieles spreche dafür, "dass Kinder und Jugendliche (zumindest bis 14 Jahre) das SARS-CoV-2 seltener als Erwachsene auf andere Menschen übertragen. Hier scheinen die Daten für Kinder bis 10 Jahre auf eine geringere Bedeutung für die Übertragungsdynamik (Transmissonsdynamik) hinzudeuten als für Jugendliche ab 14 Jahre."

 

Bis zu 50 Neuinfektionen keine
Abstandsregel im Klassenzimmer

 

Konkret: Bis zu einer Fallhäufigkeit von 25 Neuinfektionen pro Woche auf 100.000 Einwohner in einem Landkreis sind laut den Fachexperten zum Beispiel keine festen Klassenverbände nötig, keine separaten Pausengruppen, keine Abstandsregel im Klassenzimmer. Es kann auch Sportunterricht geben. Was nötig ist: Stündliches Durchlüften, regelmäßiges Händewaschen, und die über 10 Jahre alten Kinder sollten eine Maske tragen, allerdings nicht an ihrem Platz in der Klasse. Bei den jüngeren Kindern kann dem Papier zufolge auf die Pflicht verzichtet werden.

 

Zwischen 25 und 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner müssen dann zusätzlich die Klassenverbände fest und voneinander getrennt gehalten werden, auch in den Pausen. Gruppenarbeiten und Sportunterricht innerhalb der Klassen sind aber immer noch möglich, auch die Abstandsregel gilt im Klassenzimmer weiterhin nicht.

 

Steigt die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner über 50 innerhalb von sieben Tagen, kommen empfindliche Verschärfungen. Dann müssen auch die jüngeren Kinder Maske tragen, die Abstandsregel gilt auch im Klassenzimmer, was zu geteilten Klassen kombiniert mit Online-Unterricht führt, der Sportunterricht fällt aus, und alle Oberflächen im Schulgebäude müssen täglich desinfiziert werden. 

 

Auch zu Hygienemaßnahmen in Kitas äußern sich die Experten, allerdings größtenteils ohne Abstufung nach Fallhäufigkeiten, was die Bedeutung frühkindlicher Bildungsangebote auch unter Pandemiebedingungen noch zusätzlich betont. Hier empfiehlt das Papier, die Abstandsregel zu den Kindern grundsätzlich aufzuheben, bei den Erwachsenen untereinander dagegen sollte sie durchgängig gelten. Genauso verhält es sich bei den Masken: Die Erwachsene sollten sie im Kontakt untereinander tragen, im Kontakt mit den Kindern sei dies allerdings nicht durchgehend durchzuhalten. Die Kinder könnten die Nutzung von Mund-Nasen-Bedeckungen spielerisch einüben. Feste Gruppen, auch in den Pausen seien grundsätzlich nötig, sagen die Fachgesellschaften, wobei sie hier die einzige Abstufung bei den Kitas abhängig vom Infektionsgeschehen vornehmen: Unter 25 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner könne auf die Trennung verzichtet werden. 

 

Schließungen aus Gründen des vorsorgenden Gesundheitsschutzes seien "nicht gerechtfertigt"

 

Soweit die wichtigsten Maßnahmen. Die ihnen zugrundeliegende Philosophie steht ebenfalls gleich in der Präambel des Positionspapiers. Und auch wenn diese reichlich gestelzt und verschachtelt daherkommt – ihre Botschaft ist nicht nur medizinisch bedeutsam, sondern auch bildungs-, sozial und gesellschaftspolitisch. Erst recht, wenn man sich die ewigen und teilweise ätzenden Debatten der vergangenen Monate zwischen Kita- und Schulschließungen und Kinderrechten in Erinnerung ruft. "Der kontinuierliche Besuch einer Kindertagesstätte oder Schule", betonen die Fachgesellschaften, "ist nicht nur für den nachhaltigen Bildungserfolg der nachwachsenden Generation, sondern auch durch die sozialen Kontakte, Entwicklungsaufgaben und Herausforderungen essentiell für das gesunde und gelingende Aufwachsen. Zudem führt er (im Vergleich zur kontinuierlichen Betreuung von Kleinkindern zuhause oder zum digitalen Heimunterricht bei Schulkindern) zu einer Entlastung der Familien bzw. auch zur Freisetzung der Arbeitskraft der Sorgeberechtigten."

 

Kürzer und bündig formulieren es die Gesellschaften später im Papier: "Eine komplette Schließung von Kitas oder Schulen aus Gründen des vorsorgenden Gesundheitsschutzes oder allein aufgrund von Infektionshäufungen in der Allgemeinbevölkerung einer bestimmten Region ohne konkreten Risikobezug zur Schule bzw. Kita ist nicht gerechtfertigt." Eine klare Ansage und Warnung an Landespolitiker mit einem Hang zu Symbolpolitik.

 

Übergeordnetes Ziel sei, künftig "eine völlige Lockdown-Situation zu vermeiden. Gleichzeitig soll für Erzieher sowie für Lehrer (und weiteren in den Einrichtungen engagierten erwachsenen Kontaktpersonen) eine sichere Arbeitssituation und ein angemessener Schutz vor Ansteckung gewährleistet werden. Dieser gilt auch für die Familien der Kinder, der Lehrer und des Betreuungspersonals."

 

Alle Bundesländer sollten nun
schleunigst eigene Stufenpläne aufstellen

 

Erst gestern befand die FAZ: "Die zweite Corona-Welle rollt an – dennoch sollen nach den Sommerferien die Schulen wieder ganz öffnen. Keiner weiß genau, wie das funktionieren soll." 

 

Spätestens das neue Papier der Fachexperten zeigt: Das stimmt so nicht. Ihre klare Positionierung, unter Mitwirkung des RKI-Chefs wohlgemerkt, dürfte die bildungspolitischen Debatten unter den Vorzeichen der Corona-Pandemie in den nächsten Monaten prägen. So ist zumindest zu hoffen.

 

Derzeit sind die Konzepte der Länder zum Corona-Regelbetrieb zwar im Grundsatz ähnlich, in den Details aber sehr unterschiedlich, wie der Tagesspiegel recherchiert hat. All die Kultusministerien, die bislang noch keine Stufenpläne für die Geltung des Regelbetriebs vorgelegt haben, sollten dies nun schleunigst tun. Die Kinder, Lehrer und ihre Familien haben das damit verbundene politische Commitment nicht nur verdient, sie haben ein Anrecht darauf.

 

Gut, dass das auch und gerade führende medizinische Fachgesellschaften so sehen. Schon morgen folgt die Nationalakademie Leopoldina mit dem nächsten Votum zu Kitas und Schulen. 


Die Erwachsenen sind das Problem

Rollt sie schon, die nächste Welle? Der Ärzteverband Marburger Bund sagt: ja. "Wir befinden uns ja schon in einer zweiten, flachen Anstiegswelle", sagte die Verbandsvorsitzende Susanne Johna der Augsburger Allgemeinen. Zwar steige die Zahl der Neuinfektionen langsamer als im Frühjahr, doch bestehe die Gefahr, "dass wir die Erfolge, die wir bislang in Deutschland erzielt haben, in einer Kombination aus Verdrängung und Normalitätssehnsucht wieder verspielen". 

 

Irritierend ist, was von den Flughafen berichtet wird. Bei den noch freiwilligen Coronatest für Reiserückkehrer aus Risikogebieten testeten in Nordrhein-Westfalen 2,5 Prozent der Urlauber positiv, sagte NRW-Ge­sund­heits­mi­nis­ter Karl-Josef Laumann (CDU) im Deutschlandfunk. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach twitterte, das sei "eine hohe Quote" und zeige, dass die Pflichttests richtig seien. "Die Rückkehrer spielen somit leider eine große Rolle für die 2. Welle." Seit vergangenem Mittwoch bzw. Freitag seien auch auf den Berliner Flughafen Tegel und Schönefeld rund 2300 Passagiere getestet worden – ein knappes Prozent davon positiv, berichtet der Tagesspiegel Checkpoint

 

Genau deshalb müsste das Bundesgesundheitsministerium langsam mal sagen, wann genau die Testpflicht für Rückkehrer kommen wird. Die Erfahrungen aus NRW und Berlin zeigt: Jeder Tag zählt. In Nordrhein-Westfalen hat sich etwa die Hälfte der Urlauber freiwillig testen lassen, was bei rund 15.000 in Frage kommenden Rückkehrern vergangene Woche auf fast 200 unerkannt umherlaufende Corona-Patienten schließen lässt. Allein in NRW und allein in der vergangenen Woche.

 

Es wäre  unerträglich, wenn der Egoismus der in Risikogebiete Gereisten verbunden mit der 

Langsamkeit der Politik am Ende die Zahlen in einigen Regionen so sehr in die Höhe triebe, dass auch und vor allem wieder die Kinder und die Jugendlichen die Zeche zahlen müssten. 

 

Zum Vergleich: Eine Corona-Studie an sächsischen Schulen im Mai und Juni ergab bei 2600 untersuchten Schülern und Lehrern keine einzige Infektion. "Die akute Ansteckung lag bei null", zitiert die WELT Wieland Kiess vom Leipziger Universitätsklinikum. Zudem hätten sich in nur 14 von über 2300 Blutproben Antikörper gefunden – und damit der Hinweis auf eine überstandene Erkrankung.

 

An den Untersuchungen waren Grundschulen und weiterführende Schulen in Leipzig, Dresden, Zwickau, Borna und Werdau beteiligt. Sachsen war an den Grundschulen bereits im Mai zum täglichen Regelbetrieb ohne Abstandsgebot zurückgekehrt.

 

Natürlich kann sich dieses Bild schnell ändern, wenn Infektionen von außen in Kitas und Schulen hineingetragen werden – von besagten Urlaubern vor allem. Das würde allerdings wenig über die von Kindern ausgehende Infektionsgefahr aussagen und umso mehr über die Dummheit mancher Erwachsener.

 

Umso wichtiger, dass jetzt Stufenpläne aufgestellt werden. Und um noch einmal an einen entscheidenden Satz aus dem Positionspapier der medizinischen Fachgesellschaften zu erinnern: "Eine komplette Schließung von Kitas oder Schulen aus Gründen des vorsorgenden Gesundheitsschutzes oder allein aufgrund von Infektionshäufungen in der Allgemeinbevölkerung einer bestimmten Region ohne konkreten Risikobezug zur Schule bzw. Kita ist nicht gerechtfertigt."