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Und jedes Jahr dieselbe Botschaft

Pünktlich im September hat der Industriestaaten-Club OECD wieder seinen Ländervergleich "Bildung auf einen Blick" veröffentlicht. Für Deutschland ist wie gewohnt wenig Erbauliches und viel Bedenkliches dabei. Nur dass diesmal die Corona-Folgen noch obendrauf kommen.

JEDES JAHR AUFS NEUE beweist die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), dass sie zu Selbstironie in der Lage ist. Anders lässt sich nicht erklären, dass sie ihren diesmal 568 Seiten starken Bericht wieder unter dem Titel "Bildung auf einen Blick" erscheinen lässt. Und so inhalts- und detailreich dieser Vergleich der Bildungssysteme von 48 OECD-Mitgliedern und Partnerstaaten erneut geworden ist, erst recht vor dem Hintergrund der Corona-Krise, deren Folgen für die weltweite Bildung und Teilhabe noch viel stärker als vor einem Jahr deutlich werden: So wenig lässt sich "Bildung auf einen Blick" auf die eine Kernbotschaft reduzieren.

 

Was es Bildungspolitikerinnen wie Anja Karliczek (CDU) ermöglicht, in ihren ersten Reaktionen etwas Larifari "von Licht und Schatten" zu sprechen, die es im deutschen Bildungssystem wie überall gebe. Immerhin, die OECD versucht auf der Grundlage ihres Berichts dann doch die Zuspitzung auf die eine Schlagzeile: "Kampf gegen Chancenungleichheit erfordert mehr Bildungsinvestitionen", hat sie ihre Pressemitteilung überschrieben, und diese Forderung richtet sie an alle Regierungen. Deutschland, das zeigen die Ergebnisse, hat allerdings wieder einmal besonderen Anlass, der OECD zuzuhören. Dabei hat natürlich auch Bundesbildungsministerium Karliczek Recht: Nicht alles ist mittelmäßig oder gar schlecht in deutschen Kitas, Schulen, Hochschulen und Ausbildungsbetrieben. Aber vieles eben – leider – schon.

 

Schulschließungen 2020 in Rekordlänge,
2021 unter dem Durchschnitt

 

Das wichtigste Ergebnis von "Bildung auf einen Blick" ist zugleich das dramatischste: Fast nirgendwo waren die Schulen dieses Jahr mit Verweis auf die Corona-Pandemie so lange geschlossen wie in Deutschland. Die Grundschulen zum Beispiel 32 Tage – gegenüber elf Tagen im OECD-Durchschnitt. Von den 48 untersuchten Ländern mussten die jüngsten Schüler 2021 nur in Mexiko, Litauen und Chile länger zu Hause bleiben. Hinzu kommt: Während der Großteil der Staaten die Schulschließungen dieses Jahr stark zurückfuhr (um 33 Tage), legte Deutschland im Vergleich zum Vorjahr noch drei Tage drauf – und rutschte damit überhaupt erst so deutlich über den Durchschnitt. Gleichzeitig stieg international die Zahl der Staaten, die gar nicht dichtmachten, von acht 2020 auf elf in diesem Jahr.

 

Auch wenn sich die deutschen Kultusminister bis Ende 2020 gegen den Schließungsdruck gestemmt hatten: Anderswo wurde das nach den ersten Schließungen abgegebene Versprechen, die Schulen in weiteren Wellen möglichst offenzuhalten, also 2021 sehr viel entschiedener umgesetzt als in Deutschland. Und das obwohl, worauf OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher heute hinwies, etliche dieser Länder eine ähnliche oder noch schwierigere Infektionslage als Deutschland gehabt hätten. Zu alldem findet sich auch eine interessante Beobachtung im OECD-Bericht selbst: "Schulschließungen dauerten in Ländern mit schlechteren Lernergebnissen tendenziell länger an." Also mit schlechten Lernergebnissen, etwa bei PISA, bereits vor der Pandemie. War die Länge der Schulschließungen in den einzelnen Ländern insofern auch ein Indikator für die gesellschaftliche Wertschätzung des Bildungssystems insgesamt? 

 

Wenig besser ist die Bilanz im allgemeinbildenden Sekundarbereich II. Addiert man die Zeiträume mit teilweise oder vollständig geschlossenen Schulen, kam Deutschland hier zwischen Januar 2020 und Mai 2021 auf insgesamt 186 Tage mit gestörtem Unterricht. Im OECD-Schnitt waren es 158 Tage. Der Deutsche Philologenverband hob heute eine andere Zahl hervor: Komplett sei der SEK-II-Bereich hierzulande nur 83 Tage geschlossen gewesen, 18 Tage weniger als im internationalen Schnitt. Schlussfolgerung des Gymnasiallehrer-Verbandes: "Großes Lob für Deutschlands Gymnasialkräfte während der Corona-Pandemie". Das mag man so sehen. Solange man außer Acht lässt, dass von den 83 deutschen Schließungstagen 60 auf dieses Jahr entfielen – womit Deutschland auch seine Gymnasien dieses Jahr weit über den Durchschnitt von 30 Schließungstagen OECD-weit hob. 

 

Nicht genug Geld
für Schulen & Co

 

Auch ein zweites zentrales OECD-Ergebnis sagt viel über den gesellschaftlichen Stellenwert der Bildung in Deutschland aus. 2018 gab Deutschland – wie seit vielen Jahren – einen vergleichsweise geringeren Teil seiner Wirtschaftsleistung für Bildung aus. Nur 4,3 Prozent – im Vergleich zu 4,9 Prozent im OECD-Durchschnitt. Das ist umso ernüchternder, weil seit dem Bildungsgipfel von 2008, bei dem die Bildungsrepublik ausgerufen wurde, von allen Parteien immer wieder eine kräftige Erhöhung versprochen wurde. Doch die ist nie gekommen.

 

Immerhin gibt Deutschland absolut gesehen pro Bildungsteilnehmer mit 12.800 Dollar pro Jahr immer noch mehr aus als der Schnitt der OECD-Staaten (10.488 Dollar), wobei dazu eben auch zahlreiche ärmere Länder als Deutschland zählen. Zudem betonte Ministerin Karliczek heute zu Recht, dass die deutschen Bildungsausgaben seit 2010 um 50 Prozent gestiegen sind. Allerdings wuchs das deutsche Bruttoinlandsprodukt fast genauso schnell. Die deutschen Bildungsinvestitionen durften also mit dem allgemeinen Wirtschaftsaufschwung mitwachsen – wirklich priorisiert wurden sie nie. Die OECD weist sogar darauf hin, dass in vielen Ländern die Bildungsausgaben in den vergangenen Jahren stärker zugenommen haben als in der Bundesrepublik.

 

Erstaunlich ist, dass es Deutschland trotzdem sogar noch schafft, von seinen auch absolut kaum überdurchschnittlichen Bildungsausgaben einen Rekordanteil in Lehrergehälter zu investieren. Diese liegen nämlich 1,7mal so hoch wie im OECD-Schnitt, was den Lehrkräften zu gönnen ist, weshalb aber auch nicht mehr wirklich wundert, dass so wenig für den baulichen Unterhalt und die technisch-didaktische Ausstattung der Schulen übrigbleibt. Dazu, dass es trotz der hohen Gehälter in Deutschland einen ausgeprägten Lehrermangel gibt, sagte OECD-Bildungsdirektor Schleicher: "Es geht weniger darum, den Lehrerberuf finanziell attraktiver zu machen, das ist er schon. Es geht eher darum, das Berufsfeld intellektuell attraktiver zu machen" – inklusive neuer Karrierestrukturen und Handlungsspielräume und mehr Möglichkeiten einer beruflichen Weiterentwicklung.  

 

Frappierend ist auch, dass es in Deutschland zwar keine Priorisierung der Bildungsausgaben insgesamt gibt, sehr wohl aber eine Priorisierung innerhalb der Bildungsausgaben – und zwar eine, die in Sachen Bildungsgerechtigkeit genau falsch herum läuft. Pro Grundschulkind gab Deutschland 2018 nur 10.096 Dollar aus (kaum mehr als der OECD-Durchschnitt von 9.550 Dollar), für die Sekundarstufe I aber bereits 12.561 Dollar – und für Schüler in der gymnasialen Oberstufe sogar 13.735 Dollar (hier mit großer Distanz zum OECD-Vergleichswert von 10.581 Dollar). Mit anderen Worten: Die Gymnasien erhalten mit Abstand am meisten Geld unter den allgemeinbildenden Schulformen. 

 

Das alte deutsche Problem mit der Bildungsgerechtigkeit

 

Zu welchen Bildungslücken die langen Schulschließungen in Deutschland geführt haben, kann bislang nur vermutet (oder befürchtet werden), weil bis auf wenige Ausnahmen – etwa die kürzlich veröffentlichen Ergebnisse Hamburger Schulleistungstests – die meisten Bundesländer die Bestandsaufnahmen in diesen Herbst geschoben haben. Die OECD berichtet indes, dass Schülerinnen und Schüler aus sozial benachteiligten Verhältnissen in allen Ländern häufig mehr Schwierigkeiten hätten, zu Hause effektiv zu lernen. 

 

Fest steht auch: So, wie eine auskömmliche und schulformengerechte Bildungsfinanzierung in Deutschland schon vor der Krise gesellschaftlich-politisch keine Priorität war, so hatte die Bundesrepublik ebenfalls schon vor Corona eine lange Tradition mangelnder Bildungsgerechtigkeit. Zum Beispiel liegt hierzulande der Anteil der Einwandererkinder, die über die unterste Kompetenzstufe beim PISA-Lesekompetenztest hinauskommen, um 25 Prozent geringer als bei den nicht zugewanderten Schülern – OECD-weit beträgt der Unterschied nur 19 Prozent. Und noch immer haben 13 Prozent der 25- bis 64-Jährigen in Deutschland weder Abitur noch eine Berufsausbildung und gelten damit als geringqualifiziert. Ein Wert, der sich seit Jahren kaum ändert. Während zum Beispiel in der Schweiz nur sechs Prozent in diese Gruppe zählen und in Österreich elf Prozent. Und, wie die OECD berichtet, viele Länder ihren Anteil Geringqualifizierter in den vergangenen Jahren deutlich senken konnten.

 

Wer weniger formale Bildung hat, wird dafür in Deutschland auch noch besonders hart bestraft: Zwar haben 60 Prozent der geringqualifizierten jungen Erwachsen in Deutschland einen Job, zwei Prozent mehr als im OECD-Schnitt, doch 43 Prozent der deutschen Geringqualifizierten verdienen weniger als die Hälfte des nationalen Medianeinkommens, was dem zweithöchsten Anteil aller verglichenen Staaten entspricht. Der deutsche Niedriglohnsektor at work. 

 

Die Erfolgsgeschichte
des Kita-Ausbaus

 

Und wo ist dann das "Licht", das Ministerin Karliczek sieht? Zum Beispiel hier: Der Anteil der Kinder, die in irgendeiner Form an frühkindlicher Bildung teilnehmen, ist in Deutschland im internationalen Vergleich inzwischen erfreulich hoch. 2019 gingen 39 Prozent der unter 3-Jährigen in eine Kita, anderthalb mal so viele wie im OECD-Schnitt. Bei den 3- bis 5-Jährigen waren es in Deutschland sogar 94 Prozent, immerhin elf Prozentpunkte mehr als in der internationalen Vergleichsgruppe. Hinter diesen Zahlen verbirgt sich eine echte Erfolgsgeschichte, zumindest quantitativer Art, in den vergangenen zwei Jahrzehnten. Deutschland, dessen Westteil bis in die Neunziger hinein mehr oder minder auf die private Kleinkinderbetreuung setzte (mit allen Folgen vor allem für die Beschäftigungsquoten von Frauen), hat sich zu einem Vorreiter des Kita-Ausbaus entwickelt. Die OECD betont zudem, dass in Deutschland die privaten Kitagebühren etwas niedriger seien als im OECD-Schnitt. 

 

Allerdings: Über die Qualität der frühkindlichen Bildung in Deutschland sagt "Bildung auf einen Blick" nichts. Deutsche Jugendforscher dagegen warnen: Die Quantität muss zwar auch noch zunehmen, etwa indem im U3-Bereich noch mehr Kinder aus sozial benachteiligten Familien erreicht werden. Vor allem aber muss in den Kitas flächendeckend das geboten werden, was angeblich schon überall drinsteckt: frühkindliche Bildung, nicht allein frühkindliche Betreuung. Doch wächst zum Beispiel der Anteil von Erzieherinnen und Erziehern mit einem akademischen Abschluss nur sehr stockend, und der Mangel an Fachkräften ist je nach Bundesland enorm. 

 

Auch gut: In Die Arbeitslosigkeit unter Berufseinsteigern in Deutschland ist mit sechs Prozent innerhalb der ersten zwei Jahre nach der Ausbildung sehr gering – im Vergleich zu 21 Prozent OECD-weit. Was Anja Karliczek erwartungsgemäß als "besondere Stärke des dualen Systems" feiert. Hessens Kultusminister Alexander Lorz (CDU), der Mitglied im Präsidium der Kultusministerkonferenz ist, hob ebenfalls hervor, dass die Arbeitslosigkeit unter jungen Erwachsenen in der Corona-Krise kaum angestiegen sei. "Hier zeigt sich die hohe Arbeitsmarktrelevanz der beruflichen Bildung in Deutschland."

 

Wobei deren Schwächen – siehe den hohen Anteil von Menschen ohne Abi oder Berufsabschluss – in "Bildung auf einen Blick" eben auch schonungslos benannt werden. Ähnlich zwiespältig die deutsche Bilanz in der Erwachsenenbildung: Die 25- bis 64-Jährigen in Deutschland bilden sich überdurchschnittlich häufig fort, allerdings sind Männer dabei stark überrepräsentiert. 59 Prozent von ihnen beteiligten sich 2016 an mindestens einer Maßnahme, aber nur 53 Prozent der Frauen. Im OECD-Mittel machen Frauen dagegen sogar leicht häufiger Weiterbildungen als Männer (48 zu 46 Prozent).

 

Was an der politischen
Debatte auffällt

 

In ihrer Stellungnahme bezeichnete Karliczek die Corona-Krise als "Problemverstärker." Sie fügte hinzu: "Ja, wir wissen, dass der Präsenzunterricht durch nichts zu ersetzen ist." Und es sei leider sehr viel davon ausgefallen, "aber immer auch im Hinblick auf den Schutz der Gesundheit von Menschen und auch der Kinder und Jugendlichen".  Das mit dem "zugunsten der Kinder" hatte die Menschenrechtskommissarin des Europarats indes neulich anders gesehen und die Bundesrepublik wegen der langen Schulschließungen ermahnt, die Rechte der Kinder zu wahren. 

 

Karliczek verwies auf das Zwei-Milliarden-Hilfsprogramm "Aufholen nach Corona" und auf das Bundesprogramm "Ausbildungsplätze sichern", das kleine und mittlere Unternehmen unterstützen soll, weiter auszubilden. Zum Aufholprogramm sagte Hessens Kultusminister Lorz, die Lehrkräfte seien jetzt zum Schuljahresbeginn gerade bei, den Lernstand der Schüler zu ermitteln. "Gerade diejenigen, die sich mit Schule und Unterricht schwer tun, bedürfen unserer besonderen Aufmerksamkeit, um mehr Chancengerechtigkeit in unserem Bildungssystem zu erreichen."

 

Die grüne Bundestagsopposition bezeichnete den OECD-Bericht wenige Tage vor der Bundestagswahl als "die finale Quittung" für Karliczeks "Politik nach der Vogel-Strauß-Methode. "Anstatt für beste Bildung für alle zu sorgen, hat die Ministerin achselzuckend zugesehen, dass die Bildungsspaltung in Deutschland wieder zunimmt." Was die Rolle der Bundesbildungsministerin in der föderalen Bildungspolitik dann doch etwas überbetont. Der FDP-Bildungspolitiker Thomas Sattelberger kommentiert derweil: "Wenn Bundesbildungsministerin Karliczek jetzt zum Ende der Legislatur mehr Chancengerechtigkeit in der Bildung fordert, macht sie sich selbst vom Bock zum Gärtner." Ihr Ministerium habe die Probleme vier Jahre lang nicht angepackt, sondern ausgesessen.

 

Mehr Chancengerechtigkeit erwarten sich Lorz und Karliczek unter anderem vom 6,5-Milliarden Digitalpakt, von dem allerdings bislang viel zu wenig abgeflossen ist. Karliczek erwähnte auch den auf den letzten Legislatur-Drücker beschlossenen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung.

 

Auffällig an der politischen Debatte, die wie jedes Jahr routiniert auf die OECD-Veröffentlichung folgt, ist weniger das erwartbare Changieren zwischen beschwichtigend klingenden Regierungseinschätzungen ("Da ist doch viel Ermutigendes dabei, aber wir müssen uns stärker anstrengen") und der fundamentalen Oppositionskritik ("Erschreckende Bilanz"). Auffällig ist, dass diese Debatte, obwohl Bildung größtenteils Ländersache ist, fast nur auf der Bundesebene stattfindet. Was vermutlich daran liegt, dass dieselben Parteien in dem einen Bundesland Opposition, im nächsten aber Regierung sind. Und dass, auch wenn die OECD die Länderunterschiede vor allem im frühkindlichen Bereich betont, die bildungs- und finanzpolitische Minderperformance der Bundesrepublik ein gesamtdeutsches Phänomen ist. So dass sich so richtig kaum einer rausreden kann.

 

Doch wird allein das Zeigen auf den Bund oder aber das Warten auf die nächste Föderalismusreform nicht genügend bringen. Die Bundesländer müssen die seit vielen Jahren überfällige Prioritätensetzung zugunsten der Bildung schon auch selbst hinbekommen.


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Kommentare: 2
  • #1

    Martin B (Freitag, 17 September 2021 09:47)

    Muss es im 11. Absatz statt "Medieneinkommens" nicht "Medianeinkommens" mit a statt e heißen?

  • #2

    Jan-Martin Wiarda (Freitag, 17 September 2021 09:50)

    @ Martin B.: Richtig, vielen Dank für den Hinweis, ist korrigiert!