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Geht es bald wieder los?

Deutschland befindet sich in einer Corona-Zwischenzeit. Gibt es demnächst wieder mehr gemeldete Neuinfektionen? Falls ja, droht erneut ein Pandemie-Herbst der Älteren.

Die Entwicklung der Corona-Meldezahlen seit Anfang Juli. Screenshot: Covid-19-Dashboard des RKI.

WIEDER EINE WOCHE gewonnen. Die ans Robert-Koch-Institut (RKI) gemeldeten Corona-Neuinfektionen sinken weiter. Heute Morgen registrierte das RKI eine bundesweite 7-Tages-Inzidenz von 60,3 neuen Fällen auf 100.000 Einwohner. Das entspricht einem Rückgang um 12,0 Prozent gegenüber vergangenen Dienstag. Damals lag die Inzidenz bei 68,5.

 

Wieder eine Woche gewonnen, weil der absehbare Anstieg in die kalte Jahreszeit hinein noch nicht eingesetzt hat. Inzwischen hat sich auch bestätigt, dass die vierte Welle durch die Sommerferien und die Urlaubszeit bedingt war: Die Zahlen begannen in jedem Bundesland mit Beginn der Ferien zu steigen, und fast überall kam der Anstieg zwei, drei Wochen, nachdem wieder Schule war, zum Stehen. Und dann sanken die Corona-Zahlen auf breiter Basis.

 

Doch jetzt ist der Ferieneffekt vorbei, und der Herbst ist da. Deutschland befindet sich coronamäßig in einer Zwischenzeit, und die fällt je nach Region unterschiedlich aus. Ein aktueller Überblick und ein paar Hinweise, wie es weitergehen könnte.

 

1. Die vierte Welle ist zu Ende, aber die Entspannung könnte auch dem Ende zugehen

In der am Sonntag zu Ende gegangenen Kalenderwoche 38 sanken die Corona-Meldezahlen bundesweit um 14 Prozent. Das ist immer noch ein guter Wert, doch die Wachstumskurve dreht sich gerade. Fünf Wochen lang sanken die Plusraten stetig und gingen zuletzt sogar immer deutlicher ins Minus: 17. bis 24. August: +55 Prozent; 24. bis 31. August: +29 Prozent; 31. August bis 07. September: +12 Prozent; 07. bis 14. September: -3 Prozent. 14. bis 21. September: -16 Prozent. 

 

Der Minus-Wert der vergangenen Woche bedeutet also erstmals seit Ende August, dass die Abwärtsdynamik nachlässt. Wie erwähnt betrug der Rückgang in den vergangenen sieben Tagen schon nur noch 12,0 Prozent, und das meist aktuellere Datensammel-Portal Risklayer wies in den vergangenen drei Tagen im Wochenvergleich ein immer kleiner werdendes Minus aus: -11,4 Prozent; -10,3 Prozent; -8,3 Prozent. 

 

Deutet sich hier ein allmählich stärker werdender saisonaler Effekt an? Dies wird zu beobachten sein. Es gibt nämlich (noch) auch Gegenargumente.

 

2. Breiter Rückgang in zwölf Ländern, Anstieg in vier

Ohne Ferieneffekt sind Muster hinter der Corona-Entwicklung nicht mehr so eindeutig zu erkennen. Ein paar allerdings schon. So verzeichneten zwölf von 16 Bundesländern in der vergangenen sieben Tagen teilweise kräftige Rückgänge. Am stärksten ging es in Niedersachen (-20,4 Prozent) , NRW (-19,4 Prozent), Berlin (-18,1 Prozent) und Rheinland-Pfalz (-16,4 Prozent) runter. Ebenfalls weniger Corona-Neuinfektionen hatten Bayern, Baden-Württemberg, Brandenburg, Hamburg, Hessen, das Saarland, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein.

 

Und die Muster dahinter? Tendenziell waren die Rückgänge im Westen stärker als im Osten. In drei der fünf neuen Bundesländer gab es sogar – teilweise – kräftige Anstiege: Mecklenburg-Vorpommern (+11,6 Prozent), Sachsen (+9,2 Prozent) und Thüringen (sogar +21,0 Prozent). Interessant dabei: Der Großteil des Anstiegs kam erst in den letzten zwei, drei Tagen zustande. Denn im Vergleich der Kalenderwochen 37 und 38 gab es für die drei Bundesländer zusammengenommen lediglich ein Plus um 1,7 Prozent (aber auch das schon deutlich gegen den Trend).

 

Der Ost-Effekt wäre noch deutlicher, wenn in Sachsen-Anhalt die Entwicklung nicht doch noch durch gewisse Nach-Ferieneffekte überlagert wäre. Das dortige Minus ging in der vergangenen Kalenderwoche 38 ganz überwiegend auf die Schüler zurück: Im ganzen Bundesland gab es im Wochenvergleich 43 Corona-Fälle weniger, in der Altersgruppe der 5- bis 14-Jährigen allein waren es aber 68 gemeldete Neuinfektionen weniger. Der bekannte Rebound-Effekt ein paar Wochen nach dem kräftigen Anstieg direkt nach der Rückkehr zu den Pflichttests in den Schulen. 

 

Wie ist der Ost-Effekt zu erklären? Mit den niedrigeren Impfquoten? Das wäre schön einfach, aber wohl etwas zu einfach. Das einzige West-Bundesland mit (leicht) steigenden Neuinfektionen war in den vergangenen sieben Tagen Bremen (+4,3 Prozent, auf eine Inzidenz von knapp 113, ebenfalls ein Spitzenwert) – dabei hat der Zwei-Städte-Staat bundesweit die höchsten Impfquoten.

 

3. Jetzt sind die 60- bis 79-Jährigen die Sorgen-Altersgruppe

Vom bundesweiten Rückgang um 14,3 Prozent koppelte sich in der vergangenen Kalenderwoche 38 vor allem eine Altersgruppe spürbar ab: die der 60- bis 79-Jährigen. Bei ihnen sanken die Zahlen nur um 6,4 Prozent. Und in den drei Ost-Ländern, wo es gesamtgesellschaftlich leicht aufwärts ging, war das Plus bei den 60- bis 79-Jährigen umso stärker: +13,8 Prozent (gegenüber 1,7 Prozent in der Gesamtgesellschaft). 

 

Erfreulich: Bei den über 80-Jährigen stiegen die Neuinfektionen nicht weiter, sondern gingen bundesweit sogar überdurchschnittlich um 16,7 Prozent zurück. Haben die Senioren persönlich nach den kräftigen Anstiegen der Vorwochen die Warnungen vernommen? Schützen sie sich selbst besser, werden sie besser geschützt? Oder handelt es sich um einen (positiv überzeichneten) Ausreißer? Wir werden weiter hinschauen müssen.

 

4. Wenig Entspannung in den Krankenhäusern

Der Großteil der Rückgänge bei den Neuinfektionen entfällt und entfiel auf die jungen Altersgruppen, insofern geht die Corona-Entspannung an den Krankenhäusern bislang größtenteils vorbei. Auf den Intensivstationen wurden gestern im Vergleich zur Vorwoche nur 110 Corona-positive Patienten weniger behandelt, ein Minus von 7,1 Prozent zur Vorwoche. 


Die Zahl der Krankenhauseinweisungen insgesamt ist zwar Corona-Leitindikator geworden, doch sind die RKI-Zahlen kaum für eine aktuelle Betrachtung der Lage geeignet. Was sich sagen lässt: Der Anteil der älteren Patienten an allen Einweisungen steigt rapide. 60- bis 79-Jährige in den Kalenderwochen 34 bis 37: 19,9 Prozent, 22,2 Prozent, 23,0 Prozent, 23,5 Prozent. Über 80-Jährige in Kalenderwochen 34 bis 37: 11,8 Prozent, 14,7 Prozent, 16,9 Prozent, 19,8 Prozent.

 

Ich kann nur immer wieder sagen: Mich wundert, wie große Teil der Politik und Medien sich in den vergangenen Monaten erneut auf die Jugend fokussiert haben, gar über eine Pandemie der Jungen räsonierten – und dabei wie schon im vergangenen Herbst ignorierten, dass es wieder die Alten sind, die MIT ABSTAND am meisten durch Corona gefährdet bleiben.

 

5. Was kommt jetzt?

Wenn sich die oben gemachte Beobachtung bewahrheitet und der Rückgang der gemeldeten Corona-Neuinfektionen allmählich zum Stillstand kommt und sich ins Gegenteil verkehrt, dann droht eine problematische Entwicklung. Denn als im Spätsommer die Inzidenzen nach oben gingen, lag das vor allem am steigenden Anteil junger Infizierter – getrieben durch die Sommerferien und dann festgestellt über die Pflichttests nach Schulstart. Schon in den vergangenen Wochen aber kletterten die gemeldeten Neuinfektionen bei den Älteren überdurchschnittlich. Und, obgleich noch auf absolut gesehen vergleichsweise niedrigem Niveau, auch die der Krankenhauseinweisungen. 

 

Was bedeutet: Wenn jetzt die Corona-Entwicklung insgesamt an Fahrt gewinnt, trifft das die über 60-Jährigen besonders stark. Genau wie im vergangenen Herbst. Und genau wie im vergangenen Herbst werden dann – trotz hohen Impfanteils – auch die Hospitalisierungen der Älteren weiter kräftig steigen. Schon jetzt ist allmählich der Punkt erreicht,  dass nicht mehr nur das prozentuale Wachstum bei den ins Krankenhaus eingewiesenen über 60-Jährigen hoch ist, sondern auch die absoluten Zahlen bedeutsam werden.

 

Die RKI-Krankenhausstatistik unterschätzt die Lage notorisch, halbwegs belastbar ist derzeit nur alles, was Kalenderwoche 35 oder älter ist. Fest steht: Die für Neuinfierte in der Kalenderwoche 35 bislang gemeldeten 1.058 Krankenhauseinweisungen bei den über 60-Jährigen entspricht dem Achtfachen der hospitalisierten 0- bis 14-jährigen Kinder (134).  Und die 1.058 Einweisungen sind ebenfalls achtmal so viele, wie ein Jahr zuvor für die über-60-Jährigen gemeldet wurden (141). Das ist das Ausgangsniveau, bevor eine mögliche Herbstwelle startet. 

 

6. Meine Schlussfolgerungen

Das Gerede, dass die Älteren ja gut geschützt seien durch die Impfungen, muss aufhören. Für die Geimpften gilt das, ja, aber es sind mit 14 bis 18 Prozent zu viele umgeimpfte über 60-Jährige, die sich wegen der allgemeinen "Corona ist so gut wie vorbei"-Stimmung ebenfalls viel weniger in Acht nehmen als vor einem Jahr. Sie wird es im Herbst massenweiser erwischen, wenn die Rhetorik der Politik sich nicht ändert, wenn nicht endlich mehr Druck auf die Alten ausgeübt wird, sich zu impfen – anstatt vor allem auf die Jüngsten, die viel weniger gefährdet sind.

 

Und weil die Fälle von Impfdurchbrüchen zwar prozentual gering sind, in absoluten Zahlen aber zahlreich, muss gelten: Die empfindlichsten Menschen in den Seniorenheimen müssen endlich besser geschützt werden – zum Beispiel durch eine Impflicht für die Pflegekräfte und strikte 3G-Regeln für Besucher. Nachdem der Sommer mit dem Gerede über eine Pandemie der Jungen verplempert wurde, wiederholen wir sonst gleich den nächsten Fehler des Vorjahrs – und erleben die nächste Pandemie der Alten.

 

Was die Kinder und Jugendlichen angeht: Hier gibt es gerade mal wieder einen erbitterten Streit, ob sie noch Maske im Unterricht tragen sollten. Viele Kinder- und Jugendärzte votieren dagegen, weil Schüler selbst kaum von schweren Erkrankungen und Folgeerscheinungen bedroht seien. Das kann ich nachvollziehen und würde sagen: Bei den derzeitigen Inzidenzen ist ein Aussetzen der Maskenpflicht in fast allen Bundesländern verantwortbar: bei den jüngeren sowieso, bei den Älteren, weil sie zunehmend geimpft sind. Und bevor man sie wieder einführt, muss sie an vielen anderen Orten für Erwachsene auch gelten.

 

Nicht verantwortbar finde ich Forderungen, die Pflichttests in den Schulen zu beenden. Sie sind lästig, vor allem sind sie unfair, weil die Politik davor zurückschreckt, die Erwachsenen an den Arbeitsplätzen ebenso dazu zu verpflichten. Doch sie funktionieren, wie gerade erst eine Fraunhofer-Modellierung zeigte. Und zwar nicht nur zur Kontrolle des Infektionsgeschehens in den Schulen selbst. Sondern als Blick in die Gesamtbevölkerung hinein. Offene Schulen mit Pflichtests bedeuten mehr Sicherheit für alle Altersgruppen. So einfach ist das. Die Jungen schützen wieder einmal die Alten.



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