Einzelne Forschende öffentlich an den Pranger zu stellen, sei "diffamierend", "in keiner Weise akzeptabel" und "gegen die Grundprinzipien unserer Demokratie", heißt es in einer gemeinsamen Erklärung, die es in dieser Form noch nicht gegeben hat.
ES IST EIN ZWISCHENRUF, den es so noch nicht gegeben hat. Inhaltlich nicht, und auch nicht in solch einer Geschwindigkeit. Alle großen deutschen Wissenschaftsorganisationen haben heute Mittag in einer gemeinsamen Erklärung gegen die Berichterstattung der BILD in Zusammenhang mit der Corona-Krise protestiert.
"Dass und auf welche Weise hier einzelne Forscherinnen und Forscher zur Schau gestellt und persönlich für dringend erforderliche, aber unpopuläre Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung verantwortlich gemacht werden, ist... diffamierend", schreiben die in der sogenannten "Allianz" zusammengeschlossenen Wissenschaftsorganisationen. Zudem, fügen sie hinzu, könne eine solche Form der Berichterstattung zu einem Meinungsklima beitragen, das an anderer Stelle bereits zu Gewalt oder Gewaltdrohungen gegen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geführt habe.
Konkret richtet sich der Protest gegen den Beitrag "Die Lockdown-Macher", den Deutschlands größte Boulevard-Zeitung am Sonnabend veröffentlicht hatte. Unter der anklagenden Überschrift wurden drei Forschende präsentiert, dieses "Experten-Trio", formulierten die BILD-Redakteure darunter, "schenkt uns Frust zum Fest."
Michael Meyer-Herrmann leitet am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig die Abteilung System-Immunologie. Dirk Brockmann ist Professor für Epidemiologische Modellierung von Infektionskrankheiten an der Berliner Humboldt-Universität und am Robert-Koch-Institut. Viola Priesemann, Physikerin wie Brockmann, forscht am Göttinger Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation.
Die drei Forschende hätten "Knallhart-Maßnahmen" empfohlen, schrieb die BILD und nannte als Beispiele "massive Kontaktbeschränkungen, flächendeckend 2G, Clubs und Diskotheken dicht, Maskenpflicht an Schulen" – und das Böllerverbot zu Silvester. Die Empfehlungen habe der designierte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) dann auch noch beim Corona-Gipfel "durchgedrückt". Doch, so die BILD (an der Stelle fehlt in dem Beitrag nur noch ein "zum Glück"), gebe daran es "jetzt scharfe Kritik".
Solche Formen der Auseinandersetzung seien "in keiner Weise akzeptabel und widersprechen den Grundregeln einer freien und offenen Gesellschaft sowie den Grundprinzipien unserer Demokratie, heißt es in der Erklärung der Wissenschaftsorganisationen weiter. Zu ihrer Allianz gehören die Alexander-von-Humboldt-Stiftung, die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die Fraunhofer-Gesellschaft, die Hochschulrektorenkonferenz, die Leibniz-Gemeinschaft, die Nationale Akademie der Wissenschaft, Leopoldina, der Deutsche Akademische Austauschdienst, die Helmholtz-Gemeinschaft, die Max-Planck-Gesellschaft und der Wissenschaftsrat. Vorbereitet hatte die Erklärung die DFG, sie sei dann von den Spitzen der Organisationen innerhalb von 25 Minuten besprochen und verabschiedet worden, berichtet ein Beteiligter.
Ein starkes Signal der Wissenschaft, das man
sich schon in der Vergangenheit gewünscht hätte
Ein wichtiges, ein starkes Signal der Wissenschaft – und eine Form der Stellungnahme, die man so von ihrer "Allianz" bislang nicht kannte. Brauchen die Wissenschaftsorganisationen doch sonst oft sehr lange, um sich dann auf noch dazu ziemlich allgemein gehaltene Botschaften zu verständigen, die meist der Lobbyarbeit in eigener Sache dienen. Doch diese Erklärung ist anders: Sie ist unmissverständlich, sie ist scharf formuliert – und sie nimmt konkrete Personen in Schutz. Gut wäre es allerdings gewesen, wenn die Allianz sich schon bei ähnlichen Fällen und gegenüber anderen Medien in der Vergangenheit geäußert hätte.
Direkt am Sonnabend hatte es zunächst in den Sozialen Medien Empörung gegen den BILD-Bericht gegeben. "Hey @BILD", schrieb zum Beispiel Schleswig-Holsteins Wissenschaftsministerin Karin Prien (CDU), "Wissenschaftler jetzt an den medialen Pranger zu stellen, ist unerhört und appelliert an niederste Sündenbock-Instinkte. Bin dankbar für jeden Wissenschaftler, der noch bereit ist, die Politik zu beraten. Entscheiden muss die Politik, Verantwortung tragen auch Medien."
Die Allianz der Wissenschaftsorganisationen sieht in der "Lockdown-Macher"-Schlagzeile keinen Einzelfall. Die BILD setze damit ihre bereits im vergangenen Jahr begonnene einseitige Berichterstattung gegen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fort, "die ihre fachliche Expertise in den Dienst von Politik und Gesellschaft stellen, um der Coronavirus-Pandemie und ihren gerade in diesen Tagen dramatisch sichtbaren Folgen zu begegnen."
Nachtrag am 06. Dezember, 15.50 Uhr und 16:20
Helmholtz-Zentrum und TU Braunschweig veröffentlichen ebenfalls Protestnote, Humboldt-Universität legt Beschwerde beim Presserat ein
Am Nachmittag haben auch die Technische Universität Braunschweig und das Hemholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) die BILD-Berichterstattung in einer gemeinsamen Erklärung als
"nicht hinnehmbare Hetze", als diffamierend und inhaltlich falsch verurteilt. Die BILD schaffe so ein Klima von Einschüchterung und Angst und trage zur Radikalisierung von
Impfgegnern und Verschwörungsgläubigen bei. "Wir stehen voll und ganz hinter den Forschungsarbeiten unseres Mitglieds Michael Meyer-Hermann und seiner Kolleg*innen", sagte
die TU-Präsidentin Angela Ittel. Die Forschenden hätten die Entwicklung der vierten Welle der Corona-Pandemie modelliert und frühzeitig mögliche Gegenmaßnahmen aufgezeigt. "Die
Berichterstattung der Bildzeitung sei populistische Meinungsbildung und somit Wasser auf die Mühlen der Impfgegner*innen und Verschwörungsgläubigen."
"Worauf sollen sich Politiker*innen in Zukunft stützen, wenn die Wissenschaftler*innen aus Sorge vor Hass-motivierter Verfolgung nicht mehr gewillt sind, ihre Expertise in die erforderlichen Entscheidungsprozesse einzubringen?", sagte der wissenschaftliche Geschäftsführer des HZI, Dirk Heinz.
TU-Präsidentin Ittel fügte hinzu, jetzt seien der Deutsche Presserat und die Journalistenverbände aufgefordert, "sich mit deutlichen Worten von derlei 'Berichterstattung' zu distanzieren."
Fast zeitlich teilte die Berliner Humboldt-Universität mit, dass sie bereits Beschwerde beim Deutschen Presserat "gegen diesen Beitrag der BILD-Zeitung und besonders dessen Überschrift" eingelegt habe. Den Lesern werde suggeriert, Wissenschaftler seien verantwortlich für Entscheidung der Politik. "Diese Art der journalistischen Darstellung ist in den Debatten um den Zusammenhalt der Gesellschaft in Pandemie-Zeiten gefährlich und verantwortungslos." Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler würden auf diese Weise markiert. "Anhänger von Verschwörungstheorien erhalten dadurch mediale Unterstützung für ihre Ansicht, die Wissenschaft sei ein Treiber politischer Entscheidungen. Dies ist nicht der Fall."
Das HU-Präsidium verwahre sich vor solchen Falsch-Behauptungen und stelle sich schützend vor jedes seiner Mitglieder, "das auf diese Weise verleumdet wird", teilte die Universität weiter mit. Diese Berichterstattung der BILD sei "weit entfernt von jeder journalistischen Redlichkeit".
Nachtrag am 07. Dezember:
Heute berichtet auch die BILD-Zeitung in einer kurzen Notiz über den Protest der Wissenschaftsorganisationen. Chefredakteur Johannes Boie wird mit folgender Aussage zitiert: "Kritik muss
angemessen geübt werden. Das gilt ausdrücklich auf für BILD." Ein Hauch von Selbstkritik?
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Müde Maus (Mittwoch, 08 Dezember 2021 15:55)
Das reiht sich sehr schön ein in die täglichen Angriffe, denen diejenigen ausgesetzt sind, die die Beschränkungen für Ungeimpfte umsetzen "dürfen". Polizistinnen und Polizisten, das Personal im öffentlichen Nahverkehr, die Menschen, die im Einzelhandel arbeiten, Lehrerinnen und Lehrer, oder auch, seit 3G am Arbeitsplatz, all diejenigen, die Nachweise überprüfen müssen und angehalten sind, gegebenenfalls Hausrecht auszuüben. Pöbeleien, Beschimpfungen und Drohungen der ungeimpften Querdenker*innen sind an der Tagesordnung und machen den Alltag nur schwer erträglich.