Welche Zahlen geben überhaupt noch sinnvoll Aufschluss über den aktuellen Stand der Corona-Pandemie? Nähern wir uns dem Scheitelpunkt? Und was sagen die höheren Krankenhaus-Raten von Kindern tatsächlich aus? Der wöchentliche Überblick.
OMIKRON ÜBERRASCHT immer wieder. Vergangenen Dienstag sah es noch so aus, als ginge das wöchentliche Wachstum zumindest auf Bundesebene bereits zurück, seitdem hat die hochansteckende Variante die nächste Stufe gezündet. Fast 62 Prozent mehr Meldefälle im Wochenvergleich. Gegenüber 42 Prozent vergangenen Dienstag. Und jeden Tag gibt es einen Allzeit-Höchstand bei den deutschlandweiten Inzidenzen, heute liegt er bei 894,3. Gleichzeitig sank die Zahl der mit einer Corona-Infektion behandelten Intensivpatienten bis vorgestern fast durchgängig und weiter zügig – auf mittlerweile weniger als die Hälfte (2.438) des Höchststandes in diesem Winter. Aber wie lange noch?
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) erwartet den Scheitelpunkt der Welle Mitte Februar – wobei unklar ist, ob er bei dieser Schätzung schon die wohl noch infektiösere neue Subvariante von Omikron einbezogen hat, die in Dänemark bereits die Mehrheit der Fälle ausmachen soll. Was in Deutschland vielleicht auch schon bald der Fall sein könnte, nur dass wir das aufgrund unseres miesen Corona-Monitorings deutlich später als andere Länder mitbekommen dürften. Übrigens sieht es so aus, als sei die neue Subvariante BA.2. nicht gefährlicher als das Ur-Omikron, aber wie alles im Augenblick sind das (sehr) vorläufige Erkenntnisse.
Was sich festhalten lässt: Der Blick auf die Inzidenzen ergibt immer weniger Sinn. Weil der Zusammenhang zwischen gemeldeten Corona-Fällen und Krankenhauseinweisungen noch gegeben ist, aber keiner genau weiß, wie genau das Zahlenverhältnis von einem zum anderen aussieht und wie groß der zeitliche Verzug zwischen beiden ist. Außerdem wird die Knappheit an PCR-Tests dazu führen, dass die ans Robert-Koch-Institut (RKI) gemeldeten Inzidenzen noch unzuverlässiger und noch weniger vergleichbar sein werden mit denen der vergangenen Wochen und Monate.
Deshalb gibt es heute nur eine oberflächliche Zusammenfassung der Länder-Inzidenzen. Anschließend werde ich mich auf einige aus meiner Sicht interessante und zentrale Fragen konzentrieren.
Jetzt erobert Omikron
auch den Osten
Die Erklärung, warum die bundesweite Dynamik wieder so stark zugenommen hat, ist beim Blick auf die einzelnen Bundesländer recht simpel: Omikron hat jetzt auch den Osten fest im Griff. Innerhalb einer Woche kletterte zum Beispiel das wöchentliche Fallwachstum in Sachsen von -17 Prozent auf +63 Prozent, in Sachsen-Anhalt von -2 Prozent auf +75 Prozent. Auch in etlichen Bundesländern im Westen, wo die Welle zwischendurch verhaltener verlaufen war, ist sie jetzt wieder so richtig am Rollen: Rheinland-Pfalz: +66 Prozent, Saarland: +82 Prozent. In 14 von 16 Bundesländern liegen die extrem hohen Wachstumsraten erstaunlich eng beieinander zwischen mindestens +52 Prozent (Hessen) und maximal +88 Prozent (Brandenburg).
Nur zwei Bundesländer fallen zurück bei der Dynamik. Es sind zwei von denen, wo die Omikron-Welle begonnen hat: Schleswig-Holstein (+32 Prozent) und Bremen (+15 Prozent). Weil dort tatsächlich der Höhepunkt der Welle nahe ist? Oder weil schlicht die Testkapazitäten ausgereizt sind? Vielleicht ist es auch eine Mischung aus beidem. Wie gesagt: In Deutschland ist wieder einmal viel Raten bei der Interpretation der Pandemie-Entwicklung angesagt.
Spitzenreiter bei den Inzidenzen ist jetzt Berlin (1.593,5), wo das Wachstum trotz der erreichten Höhen scheinbar ungebremst weiterläuft (+66 Prozent seit vergangenem Dienstag), Hamburg (1.547,3, auch nochmal +72 Prozent) und Bremen (1.496,3). Die drei Stadtstaaten also. Außerdem bereits über 1000: Brandenburg (1.194,8) und Hessen (1.025,4). Kurz davor: Bayern (984,1). Und bis auf die Nachzügler im Osten (Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt) liegt kein Bundesland mehr unter 672 (das ist Rheinland-Pfalz).
Starren auf die Krankenhaus-
Einweisungen
Wenn die Inzidenzen in der Omikron-Welle schon an Bedeutung verlieren – sei es wegen der anderen Beschaffenheit der Virusvariante, der schlechten Datenqualität oder wegen Verschiebungen der politischen Agenda – dann rücken andere Werte in den Vordergrund. Erstens die im Vergleich sehr verlässlichen Statistiken zur Belegung der Intensivstationen. Zweitens die Zahlen zu den aktuellen Krankenhauseinweisungen, die – obwohl offiziell schon seit Monaten ein Pandemie-Leitindex – weiter mit großer Vorsicht zu genießen sind.
Insofern kann man auch nur vermuten, dass der seit einer Woche vom RKI gemeldete Anstieg beim Hospitalisierungs-Nowcasting echt ist. So steil, wie die Kurve bis zum 21. Januar (der neusete Wert) nach oben zeigte (6,01; 6,24; 6,66; 7,08; 7,63; jeweils bundesweite Hospitalisierungen in den vergangenen sieben Tagen pro 100.000 Einwohnern), wäre es eine ziemlich kräftige Trendwende. Und dann würde da voraussichtlich auch bald noch mehr kommen – denn das Fallwachstum bei den besonders gefährdeten über 60-Jährigen gewann zuletzt ebenfalls wieder an Tempo.
Positiv ist, dass die aussagekräftigen Intensiv-Zahlen noch keinen klaren Trend nach oben zeigen und dass auch die Gesamtbelegung der Normalstationen nach dem kräftigen Bergab der vergangenen Wochen nur in einzelnen Regionen kritische Höhen erreicht hat. Insofern ist es auch nachvollziehbar, dass sich die Regierungschefs von Bund und Ländern gestern, dem Corona-Expertenrat folgend, zum Abwarten entschieden haben. Was allerdings nicht nur mit der schwer vorherzusagenden Omikron-Dynamik zusammenhängt, sondern siehe oben, auch mit der hausgemachten deutschen Datenkatastrophe. Die der Expertenrat in seiner jüngsten Stellungnahme immerhin deutlich angemahnt hat.
Und was ist mit den Kindern
und Jugendlichen?
Gestern machte die Nachricht Schlagzeilen, dass Berlin wegen der hohen Inzidenzen die Präsenzpflicht an den Schulen ausgesetzt hat. Bundesweit lagen diese gestern für 5- bis 14-Jährige mit 2.071 mehr als doppelt so hoch wie in der Gesamtgesellschaft. Die 0- bis 4-Jährigen kamen auf 926,3. Und die Kleinkinder sind es, die vielen besondere Sorgen machen zurzeit. Ihr Anteil an allen Meldefällen hat sich zuletzt fast verdoppelt: von 2,7 (in Kalenderwoche 1) auf 5,1 Prozent nach den vorläufigen Zahlen der vergangenen Kalenderwoche 3. Nachdem sie eigentlich die gesamte Pandemie über nie weit jenseits und meist unterhalb der zwei Prozent gelegen hatten.
Das hängt damit zusammen, dass jetzt auch in Kitas vielerorts mehrmals wöchentlich getestet wird, die Dunkelziffer also kleiner wird. Aber nicht nur, denn das enorme Plus schlägt auch auf die Krankenhauseinweisungen durch, ist also zumindest zu großen Teilen real. In der Kalenderwoche 2 (wiederum die neuesten RKI-Zahlen) erreichten die Kleinkinder ebenfalls bereits fast fünf (4,85) aller Hospitalisierungen von Patienten mit Corona-Infektion – nach 2,16 Prozent zwei Wochen zuvor. Der Anteil wird, wenn die Zahlen für die Woche vollständiger werden, erfahrungsgemäß noch sinken, weil die Meldungen für die älteren Jahrgänge tendenziell später kommen. Doch wird er weit entfernt bleiben von den maximal zwei, lange sogar unter einem Prozent, die die meiste Zeit der Pandemie für die unter 5-Jährigen üblich waren.
Ähnlich differenziert fällt der Blick auf die 5- bis 14-Jährigen aus. Erstens: Ihre Inzidenzen steigen seit Wochen wieder stark überdurchschnittlich. Zuvor waren sie aber auch überdurchschnittlich stark gesunken – vor allem weil in den Weihnachtsferien weniger getestet wurde. Die vergangene Kalenderwoche war die erste, in der die Melde-Lage wieder vergleichbar war mit der vor den Ferien. Und siehe da: Der Anteil der Kinder und Jugendlichen an allen Meldefällen ist auf gut 22 Prozent geklettert – nach 20,6 Prozent vor den Ferien.
Drei Wochen nach den Sommerferien waren es ebenfalls fast 22 Prozent, und in den Wochen mit Unterricht danach gingen die bundesweiten Anteile (bei absolut stark überdurchschnittlichen Inzidenzen!) langsam zurück. Woraus folgt, dass die Schulzeit eher dämpfend auf die Corona-Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen gewirkt hatte. Wie es diesmal wird? In den nächsten Wochen würden wir es sehen können – wären nicht bald schon wieder Winterferien in einzelnen Ländern. Und würde die Abkehr von den flächendeckenden PCR-Tests zur Bestätigung von Infektionen die Zahlen nicht künftig weiter verzerren. Wir werden also wieder wenig erhellende und fruchtbare Debatten über diese Frage erleben.
Eindeutiger ist zunächst die Lage bei den Krankenhauseinweisungen, und das ist Teil zwei des differenzierten Blicks: Hier geht es auch bei den 5- bis 14-Jährigen steil nach oben. Innerhalb von zwei Wochen von 1,4 auf 4,5 Prozent Anteil an allen Hospitalisierungen in Kalenderwoche 2. Obgleich hier dieselben statistischen Abers gelten wie eben bei den Kleinkindern: Die Entwicklung bleibt bemerkenswert deutlich und ist in der Dynamik im Verlauf der Pandemie recht einmalig.
Mit oder
wegen Corona?
Wobei jetzt eine weitere Einschränkung kommt, die in Zeiten von Omikron immer wichtiger wird. Für alle Altersgruppen, besonders aber für die Jungen: Es gibt keine bundesweiten Statistiken zu der Frage, wie viele der Krankenhaus-Einweisungen wegen ernster Covid-19-Symptome erfolgen und bei wie vielen eine Corona-Infektion nebenbei festgestellt wird, aber nicht der Einlieferungsgrund ist.
Klar ist: Bei stark steigenden Inzidenzen und einem überwiegend milden Verlauf wie bei Omikron springt der Anteil der Nebenher-Infektionen hoch und verzerrt das Bild. Aber was genau bedeutet das?
Zwei Erhebungen geben immerhin Anhaltspunkte. Zum einen der neueste Corona-Wochenbericht des Landesuntersuchungsamts Rheinland-Pfalz. Er gibt für das Bundesland 159 Hospitalisierungen von Corona-Infizierten an, über alle Altersgruppen hinweg. Davon 62 (39 Prozent) auf Grund von Covid-19. Die Prozentzahl ist allerdings insofern mit Vorsicht zu interpretieren, dass bei nicht allen 159 Hospitalsierungen der Grund bekannt ist.
Bei den stationär aufgenommenen Corona-positiven Kindern und Jugendlichen, die von der "DGPI Covid Survey" seit Jahresbeginn als "entlassen" erfasst wurden, fand nur in 18 Prozent der Fälle eine "COVID-19 assozierte Therapie", statt, bei 81 Prozent der ins Krankenhaus Eingewiesenen war das nicht der Fall.
Zuletzt noch eine einfache statistische Abschätzung. Wöchentlich müssen bundesweit etwa 35.000 Kinder unter 15 ins Krankenhaus – mit allen denkbaren Diagnosen. Die offizielle Corona-Inzidenz in dieser Altersgruppe lag in der 2. Kalenderwoche gemittelt bei knapp 900. Was die Dunkelziffer angeht, tappen wir wieder einmal im Dunkeln. Wegen der Pflichttests dürfte sie jedoch deutlich niedriger liegen als bei den Erwachsenen, vielleicht nur beim Faktor 2. Doch lassen wir sie an der Stelle ganz raus. Schon so ergibt sich: Von wöchentlich 35.000 eingewiesenen unter 15-Jährigen müssten schon statistisch gesehen (ohne Blick auf die Schwere des Verlaufs) mindestens 315 infiziert sein. Falls ich mich verrechnet oder einen Denkfehler gemacht habe, bitte ich um einen Hinweis.
Die RKI-Corona-Statistik zeigt insgesamt 318 Krankenhaus-Fälle für die vorvergangene (2.) Kalenderwoche an, da kommen noch etliche Kinder und Jugendliche dazu. Trotzdem bedeutet das: Selbst wenn kein einziges Kind mit der Erstdiagnose Covid-19 ins Krankenhaus müsste, läge die RKI-Krankenhausrate Corona-positiver Kinder wegen der hohen Inzidenzen nicht viel niedriger. Sie sagt also ohne Angabe des Einweisungsgrundes nicht viel aus. Oder doch: Die allermeisten dieser Kinder können nicht wegen Corona im Krankenhaus sein.
Nachtrag am 25. Januar um 16 Uhr:
Danke für die hilfreichen Hinweise unter anderem bei den Leserkommentaren! Ich habe nun meine Berechnungen insofern angepasst, als ich alle Unter-Einjährigen außen vor lasse. Damit bleiben etwa
17.000 Kinder und Jugendliche zwischen 1 und unter 15 übrig, die jedes Woche bundesweit ins Krankenhaus müssen. Bei einer Inzidenz von 900 bedeutet das, dass mindestens 153 von ihnen schon
statistisch gesehen gerade Corona-positiv sein müssten. Bei der unrealistischen Annahme einer Dunkelziffer gleich null. Nimmt man den oben diskutierten (niedrigen) Faktor 2 für die Dunkelziffer
an, müsste bei gut 300 Kindern bei Aufnahme im Krankenhaus eine akute Infektion festzustellen sein.
Das ist ziemlich genau die Zahl der 318 Kinder unter 15, die (inklusive der unter 1-Jährigen) in der Kalenderwoche 2 laut RKI ins Krankenhaus mussten. Weshalb sich meine Schlussfolgerung kaum verändert: Selbst wenn kein einziges Kind mit der Erstdiagnose Covid-19 ins Krankenhaus müsste, läge die RKI-Krankenhausrate Corona-positiver Kinder wegen der hohen Inzidenzen irgendwo zwischen 50 und 100 Prozent des aktuellen Wertes. Was bedeutet: Sehr viele Kinder, die deutliche Mehrheit gar, dürfte nicht wegen, sondern mit Corona im Krankenhaus sein.
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Peter (Dienstag, 25 Januar 2022 14:07)
Ein großer Teil der unter 15jährigen, die stationär im Krankenhaus behandelt werden müssen, sind Neugeborene (u.a. ICD Z38 und P00-P96). Der Wert von 35.000 Kindern pro Woche als Referenz ist deshalb zu hoch gegriffen.
Jan-Martin Wiarda (Dienstag, 25 Januar 2022 14:12)
@Peter: Haben Sie da genauere Daten? Meine sind vom Statistischen Bundesamt, da lag die alterspezifische Fallzahl bis unter 15 bei 15.916 pro 100.000 Einwohner in 2019, für 15 bis unter 45 bei (nicht sehr anderen) 13.917. Deshalb erscheint mir die Höhe durchaus nicht umplausibel. Viele Grüße!
https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Krankenhaeuser/Tabellen/entlassene-patienten-eckdaten.html
Peter (Dienstag, 25 Januar 2022 15:32)
Der Wert an sich ist nicht falsch, als Vergleichswert hier aber nicht passend, da im Jahr 2019 über die Hälfte der stationär behandelten unter 15jährigen auf die unter 1jährigen und dort speziell auf die Neugeborenen entfiel. Die Diagnosedaten der Krankenhäuser nach ICD-10 und Alter können unter www.gbe-bund.de sehr detailliert eingesehen werden. Dem letzten Satz Ihres Artikels würde ich deshalb nicht zustimmen, wobei Sie hinsichtlich der insgesamt unzureichenden Datengrundlage völlig Recht haben.
Birger Horstmann (Mittwoch, 26 Januar 2022 10:03)
Ich würde dieser Diskussion gerne noch hinzufügen, dass ja auch Neugeborene Corona-positiv sein können. Ich würde davon ausgehen, dass die Inzidenz unter Schwangeren (und Ihre Neugeborenen) in der gleichen Größenordnung liegt wie in der Gesamtbevölkerung. Deshalb sollten die Neugeborenen auch nicht komplett aus Ihrer Rechnung herausfallen. An Ihren Schlussfolgerungen ändert das natürlich nichts. Wir bräuchten bessere Daten ...